Entgegen der Einbahnstraße

Frank Gschwenders „Deutschland ist für mich* ein Flusspferd“ teilt die Sichtweisen von Namibier*innen, die in Deutschland leben

Von Julia AugartRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Augart

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Namibia, das dünnbesiedelte Land im Südwesten Afrikas, und Deutschland teilen seit mehr als hundert Jahren eine wechselvolle Geschichte und sind bis heute eng und vielfältig verbunden. Für viele Menschen ist Namibia, das von 1884 bis 1915 deutsche Kolonie war, ein Sehnsuchtsland, in dem Deutsch eine der Nationalsprachen ist und Karneval oder Oktoberfest zum (deutschen) kulturellen Leben gehören. In Städten wie Windhoek, Swakopmund oder Omaruru lassen sich einerseits deutsche Architektur der Jahrhundertwende und andererseits unberührte Natur, unendliche Weiten und wilde Tiere finden. Die Beziehung der beiden Länder ist jedoch geprägt von der kolonialen Vergangenheit sowie der noch immer sehr langsamen Aufarbeitung der Geschichte und der Anerkennung des Genozids, bis hin zum noch ausstehenden Versöhnungsabkommen. Frank Gschwender beschreibt das Verhältnis zwischen Deutschland und Namibia bezüglich des Austausches von Personen, Waren, Ratschlägen oder auch Publikationen als eine „Einbahnstraße“ von Nord nach Süd. Diesem einspurigen Verkehr möchte der Herausgeber dieses Bandes mit den Biografien und Perspektiven von Namibier*innen, die in Deutschland leben, entgegensteuern und durch umgekehrte Sichtweisen erweitern.

Fast zwanzig Jahre lebte Frank Gschwender in Namibia und kehrte 2018 nach Deutschland zurück. Während seiner Neuorientierung und Reintegration in Deutschland begegnet er – nicht zufällig – verschiedenen Namibier*innen, die ihm dabei helfen, „mit beiden Beinen dort zu stehen, wohin das Leben [ihn] führt“ oder „seine Füße zu finden“, wie es in Namibia oft heißt. Die Namibier*innen, die er in Deutschland trifft und die er für diesen Band interviewt, könnten nicht unterschiedlicher sein, was Alter, Geschlecht, Ethnie und auch Beruf betreffen. Auch ihre Gründe, sich in Deutschland niederzulassen, variieren. So kam Schwester Wilhelmina Iita zur Ausbildung nach Tutzing und ist heute im Kloster für die Nähabteilung zuständig. Der Deutschnamibier Christoph Thesen absolvierte ebenfalls eine Ausbildung und ist inzwischen erfolgreicher Musiker. Reinhold Mupupa, früher Soldat, wurde in der ehemaligen DDR medizinisch behandelt und lebt seither in Berlin. Die meisten von ihnen kamen eher zufällig und wenig vorbereitet, haben jetzt ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland, besuchen aber regelmäßig Namibia. Ihre Texte beschreiben, wo für sie „zu Hause“ ist oder auch, was Heimat für sie bedeutet. Allen wurden die gleichen bzw. ähnliche Fragen gestellt, um auf Deutschland und auch Namibia zu blicken, alle erzählen jedoch eine einzigartige Geschichte und zeigen so, wie unterschiedlich die Wahrnehmung sein kann. Die Interviews bieten damit eine namibische Perspektive auf Deutschland, sind einerseits ein Spiegel und andererseits verdeutlichen sie, wie relativ vieles ist: So ist die Freiheit für die einen in Namibias Weiten zu finden, für die anderen liegt sie darin, sich in Deutschland abends sicher draußen aufhalten zu können. Man schätzt die deutsche Verlässlichkeit und die namibische Spontaneität, sieht Diversität besser gelebt in Namibia oder in Deutschland. Auch wenn vielleicht der Eindruck entstehen könnte, dass hier Klischees und Stereotype reproduziert werden, gehen die Beobachtungen, Einschätzungen und Sichtweisen tiefer. Sie liefern wichtige Impulse im gegenseitigen Austausch zwischen Gschwender und seinen Gesprächspartner*innen, stillen Bedürfnisse auf beiden Seiten und, so Gschwender in seinem Vorwort, finden zusammen mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Aber auch dem/der Leser*in bietet der Band Einsichten, Anregungen zum Nachdenken über Namibia und Deutschland, Anlässe zum Erkennen und Wiedererkennen oder macht neugierig auf dieses Land im Süden Afrikas.

Alle Beiträge des Bandes – von den Geleit- und Vorworten verschiedener Wegbegleiter Gschwenders in Deutschland und Namibia sowie einem Schlusswort der Verlegerin Felizitas Peters bis zu den zehn individuellen Geschichten der Namibier*innen – stehen auf Deutsch und Englisch zur Verfügung. Die Texte werden durch Bilder ergänzt: Anstelle herkömmlicher Porträts der Interviewten zeigen die Fotos eine andere Perspektive auf und lenken den Blick auf die Füße oder Schuhe des/r jeweiligen Gesprächspartner*in. Weitere Bilder aus ihrem jeweiligen Leben in Deutschland ergänzen die Erzählungen der Einzelnen.

Mit Frank Gschwenders Band präsentiert der Palmato Verlag wieder ein optisch sehr ansprechendes, aufwändig gestaltetes und äußerst lesenswertes Buch, das durch Vielfalt, unterschiedliche Sichtweisen sowie feine Beobachtungen besticht. Es bricht die deutsch-namibische Einbahnstraße auf, was auch im Hinblick auf Namibias künftige Rolle als Energielieferant für Deutschland neue Wege und Richtungen eröffnet. Gerade deshalb werden solche Bücher, die die Perspektive wechseln und aufzeigen, wie wir voneinander lernen können, dringend gebraucht. Für mich, die ich selbst viele Jahre in Namibia gelebt habe und gerade erst wieder nach Deutschland zurückgekehrt bin, bietet dieser Band viel Bekanntes und gleichzeitig neue Sichtweisen: „Deutschland ist für mich* … wie ein Flusspferd. Gelassen und ruhig, aber aggressiv, wenn es verärgert oder in die Enge getrieben wird“ ist eine Aussage, die nicht nur Gschwenders Band den Titel gibt, sondern könnte – wie ich meine – Deutschland (aus einer namibischen Perspektive) nicht passender beschreiben.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Frank Gschwender: Deutschland ist für mich* ein Flusspferd. Namibische Perspektiven.
Palmato Publishing GmbH & Co. KG, Hamburg 2022.
144 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783946205425

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