Kann man in einem Bergdorf glücklich werden?

In Birgit Birnbachers drittem Roman „Wovon wir leben“ muss sich eine Frau fragen, wie ihr Leben weitergehen soll

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was macht das Leben aus? Was ist wichtig im Leben? Lohnt es sich, darüber nachzudenken oder ist es besser, sich dem Leben, seinem Fließen zu überlassen? Und wie können wir unser Leben bestreiten? Solche oder ähnliche Fragen können bei Leserinnen und Lesern während und nach der Lektüre des Romans Wovon wir leben von Birgit Birnbacher aufkommen. Ihre Hauptfigur, die 37-jährige Julia, ist mit einem ganzen Bündel Fragen aus diesem Themenspektrum (und auch noch anderen) sehr beschäftigt, alldieweil sie sich zu Beginn des schmalen und sehr intensiven Buches mit dem Verlust ihres bisherigen Arbeitsplatzes konfrontiert sieht.

Julia, die vom Dorf in die Stadt gezogen ist, um im Krankenhaus als Krankenschwester zu arbeiten (und um das Dorf, das Elternhaus, die Provinz hinter sich zu lassen), die dort mit einem verheirateten Arzt eine Affäre zu seinen Bedingungen hatte, ansonsten in einer vom Arbeitgeber gestellten Wohnung gewohnt und sonst nicht viel erlebt hat, hat einen dramatischen Fehler begangen, der tödlich hätte enden können. In den anschließenden Wirren ist sie selbst, die Asthmatikerin ist, krank geworden und konnte für geraume Zeit nicht arbeiten. Eine Rückkehr, so die Klinikleitung unmissverständlich, sei ausgeschlossen; nach ihrer Gesundschreibung werde sie die unmittelbare Kündigung erwarten. Was nun? Ersparnisse, ein Vermögen gar hat sie nicht, in ihrem Beruf wird sie nie wieder arbeiten können. Es bleibt die Rückkehr in das heimatliche Dorf, ins Elternhaus. Dieser Schritt mag sich für sie anfangs wie eine Niederlage, eine Demütigung anfühlen, doch ein Wechsel der Perspektive kann auch der Beginn von etwas Neuem sein. Doch halt, so schnell geht es nicht.

Erst einmal muss sie gewärtigen, dass ihre Mutter weg ist, mit über 60 Jahren hat nämlich sie hingeschmissen, hat ihren eigensinnigen und in sich gekehrten Mann, der maximal in traditionellen Rollenaufteilungen verhaftet ist und diese lebt und erwartet, zugunsten eines Neustarts in Italien verlassen. Welche Optionen hat nun Julia? Soll sie beim Vater leben, ihn bekochen, das Haus putzen und in Ordnung halten? In ihrem aktuellen Zustand ist sie dazu kaum in der Lage, zu sehr hat sie noch mit Atemnot und schneller Erschöpfung zu kämpfen. Außerdem sieht sie sich ganz und gar nicht in dieser Rolle. Das Dorf ist in einem beklagenswerten Zustand, die Fabrik, die einst für Arbeit und ein Auskommen gesorgt hat, musste schließen, junge Menschen sind nicht mehr da und die Alten sitzen schon früh im Wirtshaus. Dessen Wirt, der, wie man so sagt, selbst sein bester Gast ist, zudem ein glückloser Kartenspieler, hat, weil er sonst nichts mehr hat, seine Geiß verspielt. Gewonnen hat sie der Potutznik, der, je nachdem, wen man fragt, Altwarenhändler oder Antiquar ist – „Altes, Schönes und Originales“ steht über seinem Laden.

Dann gibt es noch das Sanatorium hoch über dem Dorf, in dem Julias Bruder David seit vielen Jahren lebt. Ein Fehler des Arztes, auf den der Vater mehr gehört hat, als auf die eigene Frau, hat dazu geführt, dass eine Gehirnhautentzündung viel zu spät als solche erkannt wurde. Und so zeigt sich dieses Dorf, das im österreichischen Pongau am Fuße des Heukareck liegt und ganz sicher vielen Touristinnen und Touristen als pittoreskes Örtchen erscheinen mag, tatsächlich als ein Ort voller vom Leben nicht eben begünstigter Menschen. Oder anders gesagt, Birgit Birnbacher, selbst im Pongau aufgewachsen und 2019 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet, zeigt einen anderen Blick auf Leben und Alltag in einer solchen Gegend. Und sie zeigt mit diesem vermeintlich leicht daher kommenden Buch, wie schwierig es ist, der Verwurzelung zu entkommen, nicht allen echten oder eingebildeten Verpflichtungen nachzukommen und schlussendlich ein eigenes, ein selbstbestimmtes Leben zu gestalten.

Und Birnbacher baut in ihr immer wieder durch minimale Austriazismen auch sprachlich verortetes Buch eine Liebes- oder Begegnungsgeschichte ein, in dem sie einen Mann, der meist als „der Städter“ bezeichnet wird, installiert. Die erste Begegnung war etwas schwierig, da ihr Vater ihn beschimpft hatte. Doch darüber sind beide schnell hinweg, sie gehen ins Wirtshaus, wo sie ihm das Kartenspielen beibringt. Er, der Städter, ist nach einer Herzattacke in einer Reha-Maßnahme, doch er spielt mit dem Gedanken, seinen Job im Eichamt zugunsten einer noch unklaren und unsicheren Zukunft dranzugeben. Ein schöner Luxus, wenn man für ein Jahr ein Grundeinkommen gewonnen hat. Julia kann sich solche Hirngespinste nicht leisten. Sie weiß noch nicht, wie es weitergehen soll, als sich auf einmal eine Tür öffnet, deren Ausblick bei ihr ungeahnte Aufregung und Vorfreude auslöst.

Und so drängen sich erneut die eingangs erwähnten und noch andere Fragen auf. Wovon wir leben ist ein fein austarierter Roman, der Möglichkeiten andeutet und der die immer drängenden Themen Arbeit, Lebenssinn, Freiheit, Pflicht, Tradition, Verantwortung gekonnt in einen stimmigen Rahmen einfügt und dadurch zu einem sehr anregenden und unterhaltsamen Ganzen wird.

Titelbild

Birgit Birnbacher: Wovon wir leben. Roman.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2023.
192 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783552073357

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