Richard Wagner, ausgelacht

„Die Trauer meines Großvaters“ von Herbert Heckmann erzählt von einer Kindheit in Frankfurt während der NS-Zeit

Von Karl-Josef MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karl-Josef Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit Kindheitserinnerungen hat es eine ganz eigene Bewandtnis. Kinder erleben die sie umgebende Welt auf eine Art und Weise, die sich im Nachhinein nicht mehr rekonstruieren lässt, denn unser Blick auf uns als Kind ist naturgemäß der des Erwachsenen.

Diese Verschiebung kennzeichnet auch das 1994 erschienene und nun neu aufgelegte Buch von Herbert Heckmann Die Trauer meines Großvaters. Heckmann vermerkt, es gebe mindestens zwei Vergangenheiten. Da wäre die Vergangenheit, die man „aus den Schächten der Erinnerung“ kratzt und aufschreibt. Zu dieser einen gesellt sich diejenige, „die gewesen ist, aber jedesmal, wenn ich mich zu erinnern versuche, wie es denn gewesen ist, kommt noch eine andere Vergangenheit zustande – und kurz darauf noch eine andere.“

Vorangestellt ist dem eigentlichen Text ein Motto, dessen Sinngehalt später aufgegriffen wird: „Wir wollen vom Weinen doch lieber zum Lachen als zum Gähnen übergehen.“ (Gotthold Ephraim Lessing)

Zunächst zum Lachen. „Was liest du aus meiner Hand?“ fragte ich meinen Großvater. „Daß sie schmutzig ist.“

Solcherart Humor lässt erahnen, dass die Angst des Kindes, von der leitmotivisch immer wieder die Rede ist, letztlich nicht die Oberhand gewinnen kann. Auch wenn Herbert Heckmann auf die Differenz hinweist zwischen den uns vorliegenden Zeilen und dem, was wirklich geschehen ist, so kann doch kaum daran gezweifelt werden, dass seine Eltern wie seine ganze Verwandschaft darum bemüht sind, dem Kind einen sicheren und liebevollen Rückzugsort zu schaffen, auch wenn die Zeiten alles andere als friedlich sind: “Wir standen an der Wiesbadener Straße und winkten den braungebrannten Soldaten auf den Lastwagen zu. Sie lachten übermütig, zeigten Pappschilder, auf denen ‚Paris‘ stand (…).“

Die Rede ist vom Westfeldzug im Mai 1940, in den kommenden Monaten werden die Siegesmeldungen nicht abreißen. Das Lachen der Soldaten kann die Mutter des Erzählers nicht täuschen: „Meine Mutter weinte, und die untergehende Sonne überströmte den Zug mit einer rötlichen Glut.“ Dieser Übergang vom Lachen zum Weinen wird nicht kommentiert; der Erzähler nimmt die beobachtende Haltung des Kindes ein, das die Ursache für die Tränen seiner Mutter kaum erahnen kann. Die rötliche Glut der Sonne allerdings muss als Vorausahnung der Luftangriffe verstanden werden.

Wenige Jahre später, nach einem im Keller überstandenen Luftangriff, wird der Großvater des Erzählers „quicklebendig. Er blätterte in seinem Buch und berichtete von tollkühnen und ebenso besonnenen Menschen. Ich hatte ihn im Verdacht, dass er das alles nur erfand, um uns zu beruhigen.“ Zu den Zuhörern zählt das Ehepaar Scheib. Herr Scheib fordert den Großvater auf, nicht nachzulassen: „‚Erzählen Sie nur weiter!‘ ermunterte er meinen Großvater. ‚Es steht schlimm um uns, wenn wir nichts Lustiges mehr zu erzählen haben.‘“

Voller Sarkasmus schimmert das Lessing-Zitat auf. Vom Sohn des Ehepaares Scheib heißt es, er „habe einen hohen Rang bei der SS“. Seine Mutter „zeigte eine abgegriffene Fotografie herum, auf der ein junger blonder Mann in einer schwarzen Uniform zu sehen war.“ Er war wohl am Überfall auf Polen beteiligt, wie seine Mutter mit verhaltenem Stolz berichtet.

Diesem Stolz kann sich der Vater nicht anschließen. Immer häufiger betrinkt er sich, auch will er „`nichts mehr von seinem Sohn wissen`“, wie Frau Scheib berichtet.

Indem Heckmann darauf verzichtet, Vermutungen darüber anzustellen, was genau die Aufgabe dieses SS-Mannes in Polen gewesen sein könnte, stellt er erneut die Perspektive des Kindes kommentarlos neben die der Erwachsenen; gleichberechtigt nebeneinander stehen der Erfahrungshorizont des damaligen Kindes und der des erwachsenen Erzählers. Das Kind, die es umgebenden Erwachsenen und auch wir Leser sind darüber unterrichtet, dass der Vater dieses jungen Mannes „nichts mehr von seinem Sohn wissen“ möchte. Wir Nachgeborenen, wie auch der Schriftsteller Heckmann, können mehr als nur vermuten, was den Vater dazu bewogen haben wird, seinen Sohn zu verstoßen; aber indem wir es nicht definitiv benennen können, ahnen wir, wie all diese Informationen auf das damalige Kind gewirkt haben müssen. 

Eines Tages erhalten die Eltern des Erzählers ein amtliches Schreiben, in dem es heißt, „daß es sich nicht vereinbaren lasse, zugleich ein Hitlerjunge und ein Ministrant zu sein. (…) Der Katholizismus sei eine Sklavenreligion und würdige nicht unsere nationale Aufgabe.“ Die Mutter des Erzählers löst das Problem, indem sie es ignoriert: „So änderte sich auch nichts: Ich blieb Ministrant, war zugleich Pimpf, und der Krieg ging weiter.“ Erneut erfolgt keine Erklärung, weder für das Kind damals, noch für den Leser heute. Eines allerdings lässt sich mit Sicherheit sagen, nämlich dass sich Eindeutigkeit nicht erzielen lässt und Sicherheit nicht zu haben ist. 

Pfarrer Perabo verlegt die Sonntagsmesse immer weiter in den frühen Morgen, um seinen Messdienern die Doppelexistenz als Pimpfe und Messdiener zu ermöglichen, was ihm schließlich auch gelingt: „Der Wettlauf endete schließlich auf Grund des größeren Schlafbedürfnisses seitens des Fähnleinführers damit, daß um sechs Uhr der erste Gottesdienst in St. Gallus begann und um sieben Uhr sich das Jungvolk zum Dienst versammelte.“ Ein Erfolg für den Pfarrer, doch die Reaktion lässt nicht lange auf sich warten. Er wird zusammengeschlagen, der Ich-Erzähler enteckt ihn als „ein schwarzes Kleiderbündel, aus dem ein Wimmern tönte. Als ich mich vorbeugte, erkannte ich Pfarrer Parebo“. 

Und wieder unterlässt es Heckmann, Vermutungen über die Täter anzustellen. Natürlich können wir diese Tat nur als Reaktion auf den so stillen wie konsequenten Widerstand des Pfarrers deuten; aber indem der Autor darauf verzichtet, diesen Zusammenhang kommentierend zur Sprache zu bringen, erhalten wir eine Vorstellung davon, wie dieses Ereignis auf das kindliche Gemüt des Ich-Erzählers gewirkt haben muss. 

„Von meinem Großvater sagte man, daß er Richard Wagner über alles geliebt habe; von seinem Sohn, meinem Vater, wußte ich dies aus eigener Erfahrung.“ Richard Wagner erlangte während der NS-Zeit eine herausgehobene Bedeutung. Auch der Vater des Ich-Erzählers liebt Wagners Musik. Damit macht er sich gemein mit einem anderen Wagner-Enthusiasten: „Die Wagnerbegeisterung Adolf Hitlers führte dazu, daß der Komponist zu allen Anlässen gespielt wurde. (…) Mein Vater (…) erklärte, man könne nicht von dem Begeisterten auf den schließen, der die Begeisterung hervorrufe.“

Onkel Fritz, der gegen Ende des Krieges bei einem Luftangriff ums Leben kommt, bringt die Problematik Wagnerscher Musik auf den Punkt: “Wozu denn Schönheit? Warum nicht lieber das Große, das Erhabene, das Gigantische? Das, was die Massen bewegt? Ist es nicht leichter, gigantisch zu sein als schön?“

Die unterschielichen Meinungen zum Werk Wagners führen nicht zum Zerwürfnis innerhalb der musikbegeisterten Familie, und das selbst dann nicht, als der musikalische Titan vom Filius schlicht ausgelacht wird. Gelegenheit hierfür bietet eine „Wagnersoiree“, organisiert von Tante Ella, der Leiterin der Musikbücherei im Volksbildungsheim.

Bereits vor dem eigentlichen Konzert ist die Stimmung enthusiastisch: Das Haus in der Obernhainer Straße war nachgerade wagnerdurchtost.“ Gegen dieses Tosen scheint selbst der Ich-Erzähler die Waffen strecken zu müssen: „Wagner fegte durch den Raum, strich die Buchreihen entlang und stürmte in die dunklen Ecken, wo er grollend verklang. Meine Ohren brachen auf, und in meinem Kopf ließ sich die Musik nicht beschwichtigen. Sie ergriff Besitz von mir.“ Doch nach dem wuchtigen Bass des Gurnemanz folgt der Sopran Kundrys und lässt das gigantische Kartenhaus des Erhabenen zusammenfallen. Der Ich-Erzähler kann nicht mehr an sich halten: „Ein Lachen stieg in meiner Kehle hoch. (…) Es rollte wie eine Woge aus mir heraus und stürmte gegen Wagner an.“ Der Vater führt ihn hinaus, das Kind muss „den Rest des Konzerts in der Vorhalle verbringen.“ Doch obwohl der Sohn Wagners Musik auslacht, gibt er den Musikgeschmack seines Vaters nicht der Lächerlichkeit preis. Indem beide weiterhin über ihre musikalischen Vorlieben im Gespräch bleiben, verfällt Wagners Musik nicht der Verdammnis. 

Sechsundzwanzig Jahre nach seinem Erscheinen hat dieses Buch nichts an Aktualität verloren, denn erneut kann Richard Wagner sich nicht dagegen wehren, von einem der größten aktuellen Kriegsverbrecher missbraucht zu werden:

Als Drahtzieher der Wagner-Gruppe im Hintergrund gelten Dmitri Utkin und Jewgeni Prigoschin. Der Name der Söldner-Truppe soll auf Utkins Vorliebe für den deutschen Komponisten Richard Wagner zurückgehen. Die politische Gesinnung des Neonazis ist auf seinen Körper tätowiert: Es sind SS-Runen. (https://www.fr.de/politik/wagner-gruppe-russland-putin-brutale-soeldner-truppe-ukraine-krieg-92043525.html)

Titelbild

Herbert Heckmann: Die Trauer meines Großvaters. Roman.
Mit einem Nachwort von Hans Sarkowicz.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2022.
352 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783895613838

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