Leser’s Traum

Das literaturwissenschaftliche Kompendium „Arno-Schmidt-Handbuch“ ist ein verlässlicher Kompagnon durch Leben und Werk des auratischen Schriftstellers

Von Nico Schulte-EbbertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nico Schulte-Ebbert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Satirezeitschrift „pardon“ erschien im Oktober 1973 eine Glosse Peter Knorrs mit dem Titel: „Wer hat sich den bloß einfallen lassen?“ Anlass ist der mit 50.000 D-Mark dotierte Goethe-Preis der Stadt Frankfurt am Main gewesen, der im Vormonat dem legendenumrankten Schriftsteller Arno Schmidt (1914-1979) verliehen worden war. Knorr stellte zehn hochamüsante Thesen zur Existenz (oder genauer: Nicht-Existenz) „diese[r] seltsamste[n] Figur der deutschen Literaturszene“ auf, über die es in der zweiten unmissverständlich heißt:

Es gibt ihn [Arno Schmidt] gar nicht. Und das Gegenteil soll er erst mal beweisen. Fest steht doch: er ist zur Entgegennahme des diesjährigen Goethe-Preises in Frankfurt nicht erschienen. Statt dessen hat eine (seine?) Frau Schmidt Geld und Ehren in Empfang genommen. Die kann ja wirklich so heißen; was sagt das?

Jetzt, gut fünfzig Jahre nach Peter Knorrs Thesenanschlag, liegen gleich zwei aktuelle Publikationen vor, die sich ebenjenem Arno Schmidt mit solch beeindruckender Qualität und Quantität widmen, dass man annehmen muss, es könne ihn gar nicht nicht geben. Einerseits hat der Münchner Literaturwissenschaftler Sven Hanuschek bewundernswerte Akribie und Ausdauer bewiesen, indem er sich an Leben und Werk des ‚Phantoms‘ Schmidt mit einer im April 2022 bei Hanser veröffentlichten, fast tausendseitigen Biografie (https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=28852) abgearbeitet hat. Andererseits ist nur wenige Monate später ein nicht minder umfangreiches, nicht minder beeindruckendes Handbuch bei de Gruyter erschienen, für das der 1960 geborene, seit 2010 in Bremen lehrende Axel Dunker und die 1962 geborene, seit 2002 in Oldenburg lehrende Sabine Kyora verantwortlich zeichnen. Beide Herausgeber publizieren seit den 1980er Jahren zu Schmidt und haben 2015 gemeinsam in der edition text & kritik den siebzehn Beiträge umfassenden Sammelband Arno Schmidt und der Kanon ediert, der auf eine Tagung im September 2014 anlässlich des hundertsten Geburtstags des Schriftstellers zurückgeht. Anfang desselben Jubiläumsjahres erwähnte der inzwischen im norwegischen Trondheim lehrende Jan Süselbeck, der mit den systematischen Aspekten „Ironie und Humor“ sowie „Mond“ seinen Beitrag zum Arno-Schmidt-Handbuch geleistet hat, in einer Mischung aus Rezension und offenem Brief an den Bargfelder Eremiten (https://literaturkritik.de/id/18859) noch die folgende Anekdote:

Beim vergangenen Germanistentag in Kiel [im September 2013] sagte mir ein Mitarbeiter eines angesehenen Wissenschaftsverlags, dem ich vorschlug, man könne doch einmal gemeinsam ein Arno-Schmidt-Handbuch projektieren, das komme gar nicht in die Tüte, denn Sie [Arno Schmidt] seien ‚so etwas von einem toten Hund‘!

Zehn Jahre nach der Kieler Episode liegen nun insgesamt vierundsechzig mal mehr, mal weniger umfangreiche Beiträge vor, die, verfasst von den beiden Herausgebern selbst sowie dreißig weiteren Autoren – darunter profilierte Schmidt-Kenner wie Susanne Fischer, Sven Hanuschek oder Friedhelm Rathjen –, dieses gut achthundertseitige ‚Handbuch eines toten Hundes‘ bilden. Dabei wurde die doppelte Absicht verfolgt, einerseits Leser anzusprechen, „die Informationen für eine erste Begegnung mit Texten Schmidts finden möchten“, andererseits bereits „mit dem Werk Vertraute“ zu gewinnen, „die zu einzelnen Werken oder bestimmten Werkkomplexen und -zusammenhängen einen Überblick über die Forschung suchen“. Dieser Spagat gelingt zwar nicht immer, man führt ihn jedoch schmerzfrei und überzeugend durch. Nun liest man ein Handbuch in der Regel nicht wie einen Roman. Vielmehr pickt und stöbert man, sucht gezielt Hinter-, Ab- oder Tiefgründiges, ohne jedoch Gefahr zu laufen, ins Bodenlose abzudriften; die engbegrenzten Themenblöcke mitsamt passenden Überblicksbibliografien verhindern Überwältigung und Desorientierung. Liest man das Handbuch dennoch von der ersten bis zur letzten Seite – etwa, um eine Rezension zu verfassen –, so fällt einem das sehr gute Lektorat bis hinein in die bibliografischen Angaben auf, das nahezu keinen Fehler übersehen hat. Es konnte außerdem die zweiunddreißig Autorenstimmen stilistisch und sprachlich weitgehend harmonisieren, so dass Schmidt-Novizen und Schmidt-Obere auf ihre Kosten kommen werden, kurzum: Hier findet die Realisierung eines ‚Leser’s Traum‘ zwischen zwei Buchdeckeln statt.

Das Hauptgewicht der fünf großen Kapitel – von „Arno Schmidt in seiner Zeit“ über „Literarische und diskursive Voraussetzungen“, „Das literarische Werk“ und „Systematische Aspekte“ hin zu „Rezeption“ – liegt, wenig verwundernd, auf Schmidts literarischem Schaffen, dem auch teils unveröffentlichtes Material aus Briefen, Tagebüchern und Übersetzungen beigeordnet ist. So zeigt sich denn auch hier der erste, erwartbare Vorteil eines Handbuchs: es komprimiert die Fülle an Sekundärliteratur, reflektiert kritisch den Forschungsstand, macht Diskurslinien und deren Brüche deutlich, präsentiert einen konzisen Überblick über Motive, Stil, Sprache und Themen des Autors und seines Werks und gibt dem Leser Hinweise und Empfehlungen zur vertiefenden Lektüre an die Hand. Zudem werden Forschungslücken benannt, die häufig auch als inspirierende Desiderata formuliert werden, etwa wenn es heißt, dass „eine Beschäftigung mit Leben und Werk Schmidts in diesem psychoanalytischen Modus noch am Anfang“ stehe.

Nach den in Kapitel IV manchmal recht blassen, manchmal zu aufgeblasen wirkenden systematischen Aspekten – in alphabetischer Reihenfolge von „Flucht“ über „Phantastik“ hin zu „Utopie, Dystopie, Zukunftsroman“ angeordnet – kann das abschließende fünfte Kapitel als zweiter Gewinn dieses Handbuchs bezeichnet werden: es wartet mit einem Überblick zur Rezeption auf, der auch Schmidt-Kenner mit eher unbekannten Einblicken versorgen dürfte. Ohnehin sind es die zeitgenössischen Stimmen der Kritiker und Rezensenten, die Eindrücke der Erstleser der Texte des „Großmeister[s] literarischer Verzettelungen“ (Hektor Haarkötter), die den inzwischen durch allzu energische Dechiffrierungsexzesse träge gewordenen Blick auffrischen und erneuern können. So brachte etwa Martin Walser die widersprüchliche Schmidt-Rezeption der ersten beiden Bücher auf den Punkt: „Die Kritik hat an den Büchern Arno Schmidts jede überhaupt mögliche Wertung geübt! Wer alle diese Kritiken gelesen hat, weiß nicht, ob Arno Schmidt nun ein Genie oder ein Scharlatan ist.“ – Man könnte dieses zeitlose Diktum auf Schmidts Gesamtwerk anwenden.

Eine unerwartete Enttäuschung erwächst aus dem Frontdeckel des Handbuchs. Dort ist, wie aus den Angaben im Impressum hervorgeht, ein um 1955 entstandenes Portraitfoto Arno Schmidts mit seinem Zettelkasten wiedergegeben. Schmidt zählt, neben Jean Paul, Walter Kempowski, Hans Blumenberg, Friedrich Kittler, Niklas Luhmann oder Aby Warburg, zu den „berühmtesten Zettelkastenimperienbauer[n]“ (Heike Gfrereis und Ellen Strittmatter) – das Coverbild ist, so könnte man sagen, Programm. Dennoch sucht man vergeblich nach einem (Unter-)Kapitel, einer Passage, einem Absatz in diesem so reichhaltigen Arno-Schmidt-Handbuch, wo man Näheres über Schmidts „Kommunikation mit Zettelkästen“ (Luhmann) erfahren könnte. „Wenn ich ein Buch anlege“, so der öffentlichkeitsscheue Autor über das für sein Schreiben und Werk(en) so wichtige Utensil, „dann sind schon die Zettelkästen da, ich habe dann schon 60 bis 80 Prozent zusammen und kann sagen, wieviele Seiten der Text bekommt.“

Im November 2022 brachte der in Bern lehrende Althistoriker Stefan Rebenich in der „Neuen Zürcher Zeitung“ die Wichtigkeit von Handbüchern gerade in der digitalen Welt auf den Punkt:

Auch im Zeitalter von Google hat das Handbuch eine Zukunft, weil es den Reduktionismus wissenschaftlicher Einzelbetrachtungen, den Subjektivismus ideologischer Vorannahmen und den Relativismus präsentistischer Deutungen überwindet.

Das hat natürlich seinen Preis. Im Falle des Arno-Schmidt-Handbuchs kommt man nicht umhin, ein Adjektiv zu verwenden, das sowohl die Bedeutungen ‚Entsetzen erregend‘ als auch ‚übermäßig‘ in sich trägt: horrend. Der Prohibitivpreis von 199,95 Euro wird nicht nur für die gedruckte, gebundene Ausgabe verlangt; auch die digitalen PDF- und EPUB-Versionen schlagen mit fast 200 Euro zu Buche! Ähnlich geschluckt haben wohl die Schmidt-Leser und -Fans im Jahr 1970, als Zettel’s Traum zum Preis von 345 D-Mark in den Handel kam (Subskriptionspreis: 295 DM). Dies entspräche heute unter Berücksichtigung der Inflation einem Preis in Höhe von rund 720 bzw. rund 620 Euro bei Subskription – Leser’s Alptraum!

„Das Leben“, stellte Arno Schmidt in einem kurzen autobiografischen Text mit dem Titel Ich bin erst Sechzig fest,

ist so kurz ! Selbst wenn Sie ein Bücherfresser sind, und nur fünf Tage brauchen, um ein Buch zweimal zu lesen, schaffen Sie im Jahre nur 70. Und für die fünfundvierzig Jahre, von Fünfzehn bis Sechzig, die man aufnahmefähig ist, ergibt das 3.150 Bände : die wollen sorgfältigst ausgewählt sein !

Wer, wie Schmidt, den hochdotierten Goethe-Preis erhalten hat, der kann sich das Arno-Schmidt-Handbuch leisten. Auch wenn es keine Bibliothek ersetzen kann (oder will), so spricht es doch Bände.

Titelbild

Axel Dunker / Sabine Kyora (Hg.): Arno-Schmidt-Handbuch.
De Gruyter, Berlin / Boston 2022.
794 Seiten, 199,95 EUR.
ISBN-13: 9783110549331

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