Liebe und Macht

Warum sind wir süchtig nach „The Crown“?

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler und Stefanie von WietersheimRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie von Wietersheim

Rätsel des Lebens. Warum, um Gottes Willen, haben wir uns insgesamt 50 Folgen der Netflix-Serie „The Crown“ angesehen, von denen jede 58 Minuten dauert? Die Windsor-Story in Einzelhappen über Monate genossen oder als Binge Watching reingezogen – und dabei gefiebert, gelacht, geweint und schließlich getrauert, als alles vorerst vorbei war?

Selbstverständlich hätten wir in der Zeit, in der wir die Geschehnisse in der Flimmerkiste gebannt verfolgten, auch seriöse Bücher über den Verfall des britischen Imperiums nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs lesen können. Haben wir aber nicht. Auch wir wissen, dass nicht alles, was in der Serie zu sehen war, historisch korrekt ist. Dennoch haben wir uns von diesen grandios verfilmten Märchen mitreißen lassen. Und uns ist dabei egal, ob die Details historisch korrekt sind.

Wir waren nicht allein. Im Januar 2020 veröffentlichte der Streamingdienst erstmals Zahlen: Demnach hatten bis dahin 73 Millionen Haushalte auf der ganzen Welt die Serie gesehen. Seit ihrem Start im November 2016 scheint sie von Staffel zu Staffel immer beliebter geworden zu sein. Ted Sarandos, verantwortlich für die Inhaltsstrategie von Netflix: „Die Zahlen beweisen, dass die Beliebtheit der Serie mit jeder Staffel steigt. ‚The Crown‘ ist Teil des ‚kulturellen Zeitgeistes‘ geworden.“ Ja, die Serie durchtränkte auf einmal den Alltag der Zuschauer, auch jenseits des Bildschirms: Hochglanzmagazine produzierten aufwendige Modestrecken, in denen Models in „The Crown“-Outfits vor herrschaftlichen Landsitzen posierten, Modeschmuck-Marken boten Kopien der glitzernden Tiaras, Halsbänder und Ringe an. Zuschauer kauften Biografien englischer Premierminister und diskutierten die Rolle Margaret Thatchers für die europäische Gesellschaft des 20. Jahrhunderts – und das graue London erschien auf einmal als Stadt ebenso screen-sexy wie sonst nur New York City.

Warum zogen sich Abermillionen Menschen dieses moderne Märchen rein wie Süchtige ihre Drogen? Neuere und neueste englische Geschichte ist ja nicht unbedingt ein Fach, das fußball- oder yogabegeisterte Bürger und Bürgerinnen weltweit zu ihren Passionen zählen. Sondern eher etwas für geisteswissenschaftliche Freaks oder Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Ganz einfach: Es geht um Liebe und Macht. Um Sex und Geld. Es geht um die untrennbar miteinander verwobenen großen Lebensthemen, die Menschen seit Jahrtausenden beschäftigen. In eigenen Dramen des Alltags – und als Zuschauer auf den Bühnen dieser Welt, als Leser, als Voyeure.

Der scheinbar simple „Liebe und Macht“-Basso Continuo in „The Crown“ ist ein so großes Seh-Vergnügen, weil er von vielen Motiven und Variationen so raffiniert umrankt wird, dass die Spannung nie nachlässt. Und die Zuschauer freuen sich, dass sie gerade nicht mit einer niederdrückend schweren Krone auf dem Kopf ihre eigenen „Liebe & Macht“-Battles kämpfen müssen, sondern mit einer Kuscheldecke über den Knien vor dem Fernseher Kessel-Chips mampfen können. Geschichte als Großes Kino, mit einem großen G.

„The Crown“ – In a nutshell

Das hochkarätig besetzte Drama befasst sich mit der Regierungszeit der britischen Königin Elizabeth II., dem Schicksal jenes Teils der Welt, den sie beherrschte, und dem Schicksal ihrer Familie. „The Crown“ arbeitet politische Krisen sowie Skandale, die den Palast erschütterten, auf und gibt einen fiktiven Einblick in die Beziehungen der Familie der Windsors. Jede Staffel beschäftigt sich mit einem anderen Jahrzehnt von Elizabeths Regentschaft. Die gesamten Folgen sind nicht nur die Geschichte der Familiensysteme Windsor. Sie bebildern zugleich die Geschichte eines Imperiums, das zu einer zweitklassigen europäischen Nation degradiert wurde.

Die erste Staffel behandelt die Zeit nach der Heirat der englischen Prinzessin Elizabeth mit dem bildschönen Mannsbild Philip, dem (späteren) Herzog von Edinburgh, im Jahr 1947. Die zweite Staffel geht auf die Zeit von der Suezkrise 1956 bis zur Abdankung des Premierministers Macmillan im Jahr 1963 ein. Staffel Drei widmet sich den Jahren 1964 bis 1977, in denen Harold Wilson Premier war. Die vierte Staffel umfasst die Spanne 1979 bis 1990, die Zeit von Margaret Thatcher, in die die Hochzeit von Prinz Charles mit Diana Spencer fiel. Die fünfte Staffel zeigt den Premier John Major und das Ende der Ehe von Charles und Diana. Die sechste Folge, mit der der Reigen abgeschlossen sein wird, widmet sich dem Übergang in das 21. Jahrhundert und dem Tod der Königin 2022. Sie ist für den Herbst 2023 angekündigt.

Soweit der formale Handlungsstrang des Netflix-Opernprogramms. Anders als in der Oper müssen sich die Zuschauer jedoch daran gewöhnen, dass die Heldinnen und Helden von unterschiedlichen Schauspielern gespielt werden: Hat man sich in den ersten beiden Staffeln an Claire Foy als junge Elizabeth gewöhnt, muss man sich auf Olivia Colman umstellen. Beide Frauen wurden für ihre Darstellung mit dem Golden Globe als beste Schauspielerin in einem Drama ausgezeichnet. Auch bei den anderen Figuren ist die Neubesetzung wegen des fortschreitenden Alters der Protagonisten zu verkraften – mit viel Raum für Diskussionen bei den Zuschauerinnen und Zuschauern: Die Rolle von Prinz Philip wird erst von Matt Smith und danach von Tobias Menzies gespielt, während Prinzessin Margaret anfänglich von Vanessa Kirby und danach von Helena Bonham Carter verkörpert wird.

Man kann nur den Mut des Ideengebers zur Serie, Peter Morgan, bewundern, dem Drehbuchverfasser des Films „The Queen“ aus dem Jahr 2006 – denn an einem solch großen Stoff kann man vor allem eines: grandios scheitern. Er hat jedoch überzeugend gezeigt, zu was Filmemacher fähig sind: Menschen mit der Kraft der Fantasie in ihren Bann zu ziehen. Großes Kino, und das über Monate. Klar ist, dass die Serie nur funktioniert, weil das Empire eine Weltmacht war und seine Könige und Königinnen als außergewöhnliche Charaktere gezeichnet werden. Wobei nicht eindeutig ist, ob sie es wirklich als Personen waren oder von der Institution „The Crown“, der „Firma“ zu solchen gemacht wurden.

Liebe, große Politik und Kettenraucher

Die erste Folge „Wolferton Splash“ beginnt mit einer großen Liebesgeschichte und einem politischen Drama – beides wird die Basis für die kommenden Staffeln sein: „Winston still thinks he is the father of the Nation“, murmeln die politischen Granden der Tories in der Westminster Abbey, als der soeben wiedergewählte Premierminister Churchill mit seiner Ehefrau zur Hochzeit von Kronprinzessin Elizabeth, der Tochter von King George VI., kommt. Trotz reichlich Gegenwind und Zweifel seitens ihrer Familie heiratet sie Philip, Prinz von Griechenland und Dänemark: „till death do us part“.

Wie historisch sensibel Peter Morgan mit seinem komplizierten Stoff umgeht, erkennt man allein an jener kleinen Szene, in der Churchill die Abwesenheit der älteren Schwestern Philips kommentiert. „Those, married to some Nazis“, womit er auf die Tatsache anspielt, dass sich die Schwestern Sophie und Cecilia sehr eng mit den deutschen Nationalsozialisten einließen. Sophie war verheiratet mit Christoph Ernst August Prinz von Hessen, einem SS-Oberführer und Leiter des „Forschungsamtes“ des Reichsluftfahrtministeriums, Cecilia war Mitglied der NSDAP.

Zwölf Monate nach der Hochzeit seiner ältesten Tochter wird der König an Lungenkrebs operiert. Es ist unglaublich, wie viel in dieser Serie geraucht wird! Auch der todkranke König raucht hustend weiter, auch seine Töchter rauchen. Früher als gedacht muss darüber nachgedacht werden, wer König George VI. auf dem Thron nachfolgen soll. Er fragt seine älteste Tochter, ob sie ihn auf der Commonwealth Tour vertreten kann, zusammen mit ihrem Mann. Beim Jagen auf Enten macht der König dem Schwiegersohn klar, was seine lebenslange Aufgabe ist: „SHE is the job. SHE is the essence of your duty. Loving her, protecting her.“ Philip antwortet: „I understand, Sir.“ Und in der Abschlussszene dieser Folge sitzt die Kronprinzessin am Schreibtisch des Vaters auf seinem Stuhl und streicht über die rote Box mit der Aufschrift „The King“.

So hebt diese Serie über das britische Königshaus und das von ihm beherrschte Empire an. Wer da nicht wissen möchte, wie es weitergeht – selbst, wenn er oder sie zu wissen glaubt, was noch geschah – ist nicht unser Freund.

Sind wir alle Mohammed Al-Fayed? Über Afternoon Tee, gerollte Herrensocken und die Jagd

Beim faszinierten Sehen der Serie fragten wir uns immer wieder: „Was geht uns das eigentlich an? Als Nicht-Briten?“ Immer und immer wieder stellten wir unsere zugegebene Crown-Sucht infrage. Verzauberte uns der Glanz dieser Familie und von dem, was sie verkörpert? So, wie es dem jungen ägyptischen Straßenhändler Mohamed Fayed – Spitzname Mou Mou – geschah, als er den abgedankten König Edward VIII. und dessen Gemahlin Wallis Simpson auf einer Gartenparty in Alexandria beobachtete? „Did they call a spell on you?“ fragt ihn sein verärgerter Vater, der gegen die Briten eingestellt ist, deren Mittelmeerflotte im Juli 1882 die Stadt Alexandria in Trümmer geschossen hatte. Sehen wir uns ein Stück weit in dem ägyptischen Straßenjungen, der sich schwor: „I want to match them“?

Klar, wir selbst sind nicht der spätere Milliardär, der in Paris das Hotel „Ritz“ kauft und danach das Londoner Kaufhaus „Harrods“ für 600 Millionen Pfund erwirbt – und das alles, um von der englischen Gesellschaft angenommen zu werden. Um ein „British Gentleman“ zu werden, stellt er den früheren Kammerdiener des ehemaligen König Edward VIII., Sydney Johnson, ein und bittet diesen, ihm alles zu lehren, was er selbst bei dem Herzogspaar gelernt hat. „Will you teach me? British manners are the finest in the world“, fleht der Ägypter den Schwarzen an. Und dieser erklärt ihm, dass der Afternoon Tea ein Ritual ist, und dass man Herrensocken immer zusammenrollen muss. Dass Golf und Polo wichtige Einstiegsaktivitäten für die britische Gesellschaft sind, von der Jagd ganz zu schweigen: „The English are fundamentally a bloodthirsty breed.“

In seiner – letzten Endes vergeblichen – Suche, dazu zu gehören, kauft er die vollkommen verfallene „Villa Windsor“ im Pariser Bois de Boulogne, lässt sie komplett renovieren und lebt selbst darin, mit seinem Kammerdiener Johnson. Es kann einem das Herz brechen, wenn man sieht, wie liebevoll er Johnson in den Tod begleitet. Und wie grausam die königliche Familie diese sehnsüchtige Untertanenschaft kaltlächelnd ausbeutet, deren Land dem Ägypter nie die Staatsbürgerschaft verliehen hat, nach dem Unfalltod seines Sohnes Dodi gemeinsam mit der ehemaligen Prinzessin Diana im Tunnel unter Paris schon gar nicht.

Wir haben einen England-Tick

Durch diese opulente Bilderflut, mit der uns Peter Morgan, seine Schauspielerinnen und Schauspieler und die Armee von Mitwirkenden beschenkt haben, wurde uns erneut vor Augen geführt, dass wir nicht nur einem kulturellen Zeitgeist gefolgt sind. Und nein, wir sind nicht alle Mohammed Al-Fayed, auf der Suche nach sozialer Anerkennung durch die englische Oberschicht. Ein allgemeines „englisches Virus“ steckt in uns selbst seit Jahrzehnten, es ist Teil unserer biographischen DNA. Sicher hat jeder Zuschauer seine ganz eigene winzige oder riesige Geschichte, die ihn oder sie mit England verbindet. Unsere Englandgeschichte hebt an mit einer Serie von Auslandssemestern, mit der Begeisterung für Laura Ashleys Teekleider und Tapeten, dem Tanzen von Reels in der Burns’ Night mit schottischen Freunden in Paris – und wird allgemein getragen von der Liebe zur englischen Sprache, die einen gefühlt mit der halben Welt verbindet.

Die Macht der Sprache – neben Liebe und politischer Macht – zog uns noch als halbe Kinder in ihren Bann. Es waren die Sprachkurse in Brighton, Bath, Norwich und Oxford, die unter nie endendem englischen Regen die Faszination für dieses Land und seine Bewohner weckten. Kalte Sommer, in denen die Mädchen selbstverständlich keine Strümpfe über ihren blaugefrorenen Beinen trugen. Minzsoße zu Fleisch. Würstchen morgens um 7 Uhr. Dann die Lektüre von „Little Lord Fauntleroy“ von Frances Hogdson Burnett, von „The Wind in the Willows“ von Kenneth Grahame und noch viel später die Kurzgeschichten von W. Somerset Maugham. Der Film „A Room with a View“ von James Ivory mit der hinreißenden jungen Helena Bonham Carter – und dann die immer wiederkehrenden Aufenthalte auf den britischen Inseln, die den Virus am Leben hielten. Antiquarisch gefundene Bände der Autobiographie von Wallis Windsor „The Heart has its reason“ aus dem Jahr 1958 stehen im Bücherregal neben den Memoiren ihres Gemahls „A King’s Story“ aus dem Jahr 1951 – gekauft für 50 Pennies im Sommer 1989. Vor zwei Wochen erst kam die aus dem Jahr 2021 stammende kritischen Betrachtung des den Nazis zugewandten kurzlebigen Königs Edward VIII. von Andrew Lownie namens „The Traitor King“ dazu. Einmal Virus, immer Virus. Macht, Liebe, Lesen.

Gibt es ein solches Virus auch für andere Länder und Kulturen – und wäre eine parallele Serie etwa auch über Frankreich, Spanien, Italien oder Schweden denkbar? Da die dortigen Königshäuser entweder verjagt wurden oder, wie im Fall von Schweden, repräsentative Relikte sind, müsste es dabei eher um Kämpfe innerhalb einer rein demokratischen Politik gehen, um Essen und Liebe, Geld und Macht. Würden wir eine Serie über die Dramen der Hohenzollern und deren Kaiserreich sehen wollen? Geschichte und Identität mit hohem Glamourfaktor vereint gibt es in keiner anderen Familie der westlichen Welt – sieht man von den Kennedys in den USA ab, die enge familiäre und diplomatische Beziehungen zur englischen Aristokratie pflegten.

„The Crown“ ist und bleibt die ultimative Family Affair. Und wir sind gespannt auf die Staffel 6 und ihre Folgen – auch wenn wir wissen, dass vieles darin Schmonzette, Kulisse und Kintopp ist und nicht die historische Wahrheit.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zur monatlich erscheinenden Kolumne „Rätsel des Lebens“ von Dirk Kaesler und Stefanie von Wietersheim.