Bilanz eines Dichterlebens in zwei Systemen

Anlässlich seines 70. Geburtstages blickt Lutz Rathenow auf ein Leben zwischen Kunst und Politik zurück

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

74 Texte aus fast 50 Jahren umfasst der aus Anlass des 70. Geburtstages des Dichters und Bürgerrechtlers Lutz Rathenow von Marko Martin herausgegebene und mit einem Nachwort versehene Sammelband. Ein gutes Viertel davon war – zumindest in der hier vorliegenden Druckform – war bisher noch nicht veröffentlicht. Bei der Auswahl wurde – bis auf die den fünf Teilen der Ausgabe jeweils vorangestellten Gedichte – auf Rathenows Lyrik verzichtet. Ziel der Publikation war, folgt man der Intention des Herausgebers, die Vorstellung Rathenows als eines „deutsch-deutsche[n] Autor[s] im Spannungsfeld zwischen (autobiographisch grundierter) Fiktion und essayistisch-publizistischer Reflexion“. Das ist auf beeindruckende Weise gelungen.

Mit dem am 22. September 1952 in Jena geborenen Lutz Rathenow, der als in der DDR lebender Autor 1980 mit dem Erzählband Mit dem Schlimmsten wurde schon gerechnet in der Bundesrepublik debütierte, weil ihm im Osten des Landes sämtliche Möglichkeiten der Publikation versagt blieben, hat man einen Schriftsteller vor sich, in dessen Leben Kunst und Politik von Anfang an eng miteinander verflochten waren. Bereits als Student an der Universität seiner Geburtsstadt gründete und leitete er einen oppositionellen Arbeitskreis und fand sich fortan im Visier der nimmermüden Bespitzelungsorgane der DDR.

Das änderte sich nicht, als er nach seiner Exmatrikulation in Jena zusammen mit seiner Frau nach Berlin ging und neben seiner Arbeit am Theater als freier Schriftsteller zu existieren versuchte – ein müßiges Unterfangen in einem „garstigen Land, in dem es […] wenig Liebenswertes gab“, wie es in dem kleinen Text Spieglein im Gesicht heißt. Dass die gesammelten „Erkenntnisse“  staatlicher Überwachungsorgane und ihrer inoffiziellen Zuträger zu Rathenows Person bis zur Wende auf ein Textkonvolut von mehr als 15.000 Seiten anschwollen, stellt dabei eine jener Tatsachen dar, die der Schriftsteller in seinen Texten gern glossierte.

Viele der im vorliegenden Band versammelten, meist kurzen und pointierten Prosastücke handeln dementsprechend, wie es im kenntnisreichen Nachwort von Marko Martin heißt, „von der Absurdität der Macht und der potentiellen Hilflosigkeit ihrer ‚Ausüber‘.“ Dass Macht haben freilich auch verführerisch sein kann, zeigt jener frühe Text Rathenows, mit dem der Sammelband beginnt. In Der Hampelmann (erster Entwurf 1974) terrorisiert ein älterer Bruder seine Schwester mit Hilfe einer Spielfigur. Aus Neid über die scheinbar privilegiertere Behandlung der Jüngeren durch die Vertreter der Erwachsenenwelt entsteht bei dem Jungen der Gedanke, mit Hilfe der handtellergroßen, an der Wand des Kinderzimmers hängenden Puppe dem Mädchen Angst einzujagen.

Dabei entdeckt der Junge in diesen Situationen auch sein Talent zum Geschichtenerfinden. Er lässt den Hampelmann mit verschiedenen Stimmen im Dunkel des Schlafzimmers auftreten und erpresst von der geängstigten Schwester „Süßigkeiten und Dienstleistungen“ wie etwa das Erledigen der Hausaufgaben. Als die Mutter die verheerende Wirkung der Spielfigur auf die Kleine bemerkt, steckt sie den Hampelmann in den Ofen. Jahre später lässt der zum Schriftsteller gewordene Bruder einen Text, der die Kindheitsepisode zum Inhalt hat, mit dem Satz „Ich erschrecke, wenn ich daran denke.“ beginnen. Und auch wenn diese Worte in der endgültigen Fassung der kurzen Erzählung fehlen, machen sie doch eines deutlich: Wer Macht ausübt, sollte sich immer hinterfragen, ob er damit nicht indirekt auch sich selbst Schaden zufügt.

Jene „postfeudalistischen Kommunikationsverhältnisse und die realitätsverleugnende Paranoia der Regierung“, die zum Ende der DDR hin immer deutlicher zu spüren waren, prägen viele der Texte des Bandes. Ob in einem Alltagsgespräch zweier Frauen, in dem es darum geht, dass die staatstragende Partei auch ein Mitspracherecht bei Ehescheidungen besaß (Im Glaswerk). Ob in dem an den Roman Stern 111 von Lutz Seiler erinnernden Text Das Radio, in dem ein Vierzehnjähriger sich mit Hilfe seiner „Kofferheule“ aus seiner Heimatstadt Jena hinaus und hinüber über alle Grenzen träumt. Oder ob in Szenenwechsel zwei Männer – einer 17, der andere um die 60 – sich begegnen und die langen Haare des Jüngeren den Alten zu dem Kommentar „Früher, bei Hitler, hätte man dich vergast.“ verleiten. Immer, auch in den groteskesten Szenen ist da noch ein Stück erlebte Realität versteckt. Etwas, was noch schmerzt, auch wenn die Wunde DDR sich längst geschlossen hat.

Die Tage vom 19. bis zum 28. November 1980 verbrachte Lutz Rathenow im zentralen Untersuchungsgefängnis der DDR-Staatssicherheit in Berlin-Hohenschönhausen. Die Publikation seines ersten Buches Mit dem Schlimmsten wurde schon gerechnet im Westberliner Ullstein-Verlag hatte ihn dorthin gebracht. Nach seiner auch auf Drängen von Intellektuellen aus Ost und West erfolgten Haftentlassung entstanden Notizen, in denen er die Zeit im Gefängnis rekapitulierte (Die ersten Tage des Dezember. Ich kann wieder schreiben). Sie gehören neben dem im März 1977 entstandenem Text Für Lilo, in dem Rathenow beschreibt, was die Frau des Bürgerrechtlers Jürgen Fuchs nach dessen Verhaftung an Bespitzelung zu erleiden hatte, zu den privatesten und berührendsten Texten des vorliegenden Bandes. Dass es sich bei ihnen um keine „Märchen“ handelte, war Rathenow, der ein Faible für Märchen, Kinderbücher und Kindergedichte besitzt, als kleiner einleitender Zusatz zu den hier erstmals veröffentlichten persönlichen Erinnerungen wichtig.

Wenn man nach dem Ende der „Bevölkerungsintensivhaltung“ und dem Fall der Mauer vermutet hätte, alle, die einst dagegen waren, seien nun dafür, so ist die Prosa Lutz Rathenows auch hier ein Beweis für die Unstimmigkeit dieser These. „Alles ändert, wendet und windet sich“, lautete einer von dessen Kommentaren zur Lage der Nation Anfang der 1990er Jahre (JuniJuliNeunzehnhundertneunzig/ NochOstberlin). Er, der sich nie mit dem Gedanken trug, die DDR zu verlassen, bekundet in dem Text Wo waren sie an diesem Abend, dass er sogar ein gewisses Misstrauen gegenüber der Grenzöffnung am 9. November 1989 hegte. Konnte man dem „Schabowski-Gestammel“ im staatlichen Fernsehen wirklich vertrauen? Oder lief es vielleicht sogar darauf hinaus, alle unliebsamen Störenfriede aus dem Lande zu bekommen und sie anschließend – siehe den Fall der dreizehn Jahre zurückliegenden Biermann-Ausbürgerung  – nicht wieder hineinzulassen? Was also tun? Sich den feiernden Massen auf ihrem Triumphzug durch den Westteil Berlins anschließen? „Ich schätzte die DDR als skrupellos, bösartig und hemmungslos ein. Ich fand es clever, nach Hause zu gehen, anstatt wie Hunderttausende nach Westberlin.“

Nein, „in den Westen locken“ ließ Lutz Rathenow sich nicht. Auch in den Texten, die nach 1989/90 entstanden, blieb er seiner kritischen Sicht auf die gesellschaftlichen Verhältnisse treu. Zwar erweiterten Reisen – u.a. nach Kaliningrad, Argentinien, Uruguay und Ägypten – sein Weltbild, doch galt sein (literarisches) Hauptinteresse auch weiterhin den kleinen und großen Widersprüchen des Alltags. Nach wie vor hat er, wie es sein Herausgeber so treffend ausdrückt, „auch in seinen aktuellen Texten ein geradezu diebisches Vergnügen daran […], das Widersprüchliche, ja Inkohärente aufzuspüren.“        

Zwischen 2011 und 2021 hat Lutz Rathenow zwei Amtszeiten als sächsischer Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen verbracht. Literarische Spuren hinterlassen haben die im letzten Text des Bandes mit dem Titel Die Rätsel in Dresden. Ein Verzettelungsroman. Darin gerät eine vom „Landesbeauftragten“ Bertram erdachte literarische Figur – nicht nur im übertragenen Sinne – unter Beschuss. Und das gleich von zwei Seiten. Doch geschickt weiß der Mann sich den ihm von rechts und links auf den Leib rückenden Killern zu entziehen. Indem er sich nach seinen Schnürsenkeln bückt, geraten die Attentäter sich gegenseitig ins Visier. Es ist ein typischer Rathenow-Text: an die Realität angelehnt, aber auch ein bisschen verrätselt und irritierend. Denn wer hat sich in diesem „Verzettelungsroman“ eigentlich verzettelt? Der Schriftsteller, der in die Politik ging? Der politisch auf Mitwirkung Pochende, der deshalb seine Kunst ein bisschen hintanstellen musste? Der „Landesbeauftragte“ jedenfalls ist zufrieden mit dem Schluss seiner erdachten Geschichte, zumal der ihm „fortsetzungstauglich“erscheint.   

Trotzig lächeln und das Weltall streicheln ist unter dem Strich genau die „romanhafte Romanvermeidung“ geworden, die der Autor jüngst in einem Gespräch angekündigt hat. Also kein fertiger Blick auf ein Leben, nichts abgeschlossen Rundes, sondern ein Lebens-Puzzle, bunt, auch wenn hier und da die dunklen Farben überwiegen. Nicht nur ein Blick zurück im Zorn, selbst wenn der gelegentlich unverkennbar über den Texten schwebt, sondern auch ein Sich-Hineintasten in das, was noch kommt. Denn 70 kann ja nicht das Ende sein.

Titelbild

Lutz Rathenow: Trotzig Lächeln und das Weltall streicheln. Mein Leben in Geschichten.
Hg. von Marko Martin.
Kanon Verlag, Berlin 2022.
272 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783985680504

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