Ein anachronistischer Versuch

August Sanders „Menschen des 20. Jahrhunderts“ in einem Band

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kaum einen Zweifel kann es daran geben, dass August Sander (1867–1964) einer der großen Fotografen des frühen 20. Jahrhunderts ist. Diesen Rang hat er mit nur einer Publikation eingenommen, die 1929 als einer der letzten Veröffentlichungen des renommierten Kurt Wolff-Verlags erschienen ist: „Antlitz der Zeit“, so der Titel des Bandes, enthielt 60 Porträt- und Gruppenfotografien, die von einem einleitenden Essay Alfred Döblins begleitet wurden. Wahrscheinlich hat Döblins Text die Rezeption dieses Bandes weitgehend bestimmt, hebt er doch die Dynamik der sozialen Entwicklung dieser Jahre hervor, die zu extremen Widersprüchen und Brüchen führt. Diese ließen sich nun im Programm des Bandes erkennen, dem Döblin wissenschaftlichen Status zuschrieb, mithin eine deskriptive Qualität, die über das Abbildhafte jener 60 Fotografien hinauswies. Sander habe eben nicht nur beliebig Leute fotografiert, sondern „blendendes Material für die Kultur-, Klassen- und Wirtschaftsgeschichte der letzten dreißig Jahre“ zur Verfügung gestellt.

Dieses Attest geht darauf zurück, dass Sander einem Darstellungsprogramm folgte, mit dem er – hier auf wenige Fotografien konzentriert – eine soziale Typologie der deutschen Bevölkerung vorstellen wollte. Von Bauern über Arbeiter, Handwerker, Bürgerliche und Industrielle bis zu Intellektuellen und Künstlern finden sich in Sanders Programm so ziemlich alle sozialen und beruflichen Gruppen einer modernen Gesellschaft wieder.

Im Hintergrund dieser Publikation hatte Sander ein umfassendes Material zusammengestellt, mit dem er dieses Programm bedienen wollte, eine Sammlung von Fotomappen, die er unter den Titel „Menschen des 20. Jahrhunderts“ gestellt hatte und die im Laufe der Jahrzehnte zu einer umfangreichen, mehrere Mappen und einige hundert Fotografien umfassende Sammlung anwuchs.

Das ursprüngliche Konzept, soweit es bekannt geworden ist, stammt aus den Jahren 1925 bis 1927 und benannte sieben Kategorien: Ob nun die drei jungen Jungbauern im Sonntagsstaat, der Konditor in seiner Backstube, der Handlanger mit dem Steinpacken auf den Schultern oder die drei Revolutionäre auf den Stufen eines Hauseingangs – Sanders Fotografien haben bis heute einen hohen Bekanntheitsgrad behalten, zurecht.

Dennoch und gerade deshalb wirft sein Projekt Fragen auf, insbesondere was den Status in der Moderne angeht: Ziel Sanders war es, einen „Querschnitt durch die heutige Zeit und unser deutsches Volk“ vorzustellen. Dabei sind seine Gruppentitel aufschlussreich, folgt er nämlich keiner elaborierten soziologischen Struktur, sondern entwarf ein sich mehrfach überlagerndes Muster, das er mit Kategorien unterschiedlicher Herkunft bestückte. Der Anspruch war also hoch, und die Rezeption war anscheinend bereit, ihm zu folgen: Im Begleittext der Edition der „Menschen des 20. Jahrhunderts“ wird deshalb nicht nur die Biografie dieses großen Fotografen referiert, die Autorinnen, Gabriele Conradt-Scholl und Susanne Lange, unternehmen auch den groß angelegten Versuch, Sanders Projekt als genuines Projekt des 20. Jahrhunderts einzuordnen und zu legitimieren.

Dafür verweisen sie eben auch auf die Kategorien des Ursprungskonzeptes: „Bauern“, „Handwerker“, „Frau“, „Stände“, „Die Künstler“, „Die Großstadt“ und „Die letzten Menschen“. Moderne soziale Kategorien werden mit anachronistischen in eine Reihe gestellt, die Frauen-Fotografien reagieren offensichtlich auf die sich auflösenden Geschlechterrollen, suggerieren aber, wie die anderen Kategorien tendenziell auch, den Charakter anthropologischer Essenzen. Großstadt nimmt eines der großen Streitthemen der Zeit auf, was sich in den Bauernporträts gebrochen gleichfalls findet. Und hinter den „letzten Menschen“ finden sich diejenigen, die aus der Gesellschaft gefallen zu sein scheinen, „Idioten, Kranke, Irre und die Materie“. Eine Totenmaske des Sohnes Ernst, der intensiv am Fotoprogramm Sanders mitgearbeitet hatte, schließt diesen Band ab. In „Antlitz der Zeit“ waren Fotografien dieser Kategorie noch nicht präsentiert worden.

Das Programm hat mithin einen widersprüchlichen Charakter, was – wohlwollend verstanden – die Ungleichzeitigkeiten des frühen 20. Jahrhunderts aufnimmt (um einen Begriff Ernst Blochs zu verwenden). Allerdings lässt das Programm auch die Vermutung zu, dass Sander unter der Hand einen im Ganzen anachronistischen Ansatz verfolgt hat, nämlich die Ausdifferenzierung sozialer Rollen, die Auflösung sozialer Strukturen und die Fokussierung der Regelkompetenz auf das Subjekt, das sich zugleich an die Reste tradiertr, im Ganzen aber längst obsoleter Routinen zu klammern suchte, in ein typologisches System zu fassen. Und das zu einem Zeitpunkt, zu dem systemische Ansätze mehr und mehr an der Disparatheit der Phänomene, der Ausdifferenzierung der Formen, der Komplexität der Strukturen und der Widersprüchlichkeit wie Dynamik der Entwicklungen notwendig zu scheitern begannen. Dass Sander die Systematik seiner Sammlung immer wieder überarbeitete, ausdifferenzierte und erweiterte, ist auch als Hinweis darauf zu verstehen, dass seine Anstrengungen auf Dauer vergeblich waren – so eindrucksvoll sein knappe Auftaktband das Konzept doch zu bestätigen schien.

Damit aber wären Sanders „Menschen des 20. Jahrhunderts“ in ihrem Ansatz mehr dem 19. als dem 20. Jahrhunderts verpflichtet, auch wenn Gabriele Conradt-Scholl und Susanne Lange in ihrem Beitrag, der aus dem Essay-Band stammt, der bereits bei der ersten Ausgabe des Mappenwerks 2002 im wissenschaftlichen Begleitband veröffentlicht worden ist, alles daran setzen, Sander als Fotografen auf der Höhe des 20. Jahrhunderts zu positionieren und dafür alle Widersprüche einebnen. Dabei liefern sie selbst Hinweise genug für ein anderes Verständnis, Sander eben nicht umstandslos als Künstler der Moderne zu platzieren. Zwar lässt er sich auf der Basis seines Objektivitätsanspruchs, den er ausdrücklich in seinen eigenen Äußerungen formuliert, als Repräsentanten der Neuen Sachlichkeit einstufen. Dazu passt auch, dass er sich, als er als Fotograf in Köln reüssierte, umstandslos den Kölner Progressiven zugesellte. Diesem Umstand, aber auch dem Verlag, in dem „Antlitz der Zeit“ erschien und der der verhassten linksliberalen, als jüdisch verschrienen Kultur zuzuordnen war, und dem als Autor der Klassischen Moderne bekannten Alfred Döblin, der den Begleittext schrieb, mag auch die strikte Ablehnung zuzuschreiben sein, die sein Band 1929 in der nationalistischen Presse auslöste.

Dabei mussten die Rezensenten, die aus dem rechten Lager stammten, irgendwie den Auftakt des Bandes wegdiskutieren, in dem Sander Fotografien aus dem bäuerlichen Milieu präsentierte, die sich nicht zwingend etwa von denen der im nationalistisch-konservativen Spektrum beliebten Fotografin Erna Lendvai-Dircksen unterschieden. Und auch wenn Sander – anders als die nationalistischen Autoren und Fotografen – nicht die Absicht hatte, Zeit und Landsleute zugunsten einer imaginierten deutsch-zünftigen Vergangenheit zu diskreditieren, ist die Entscheidung, mit Fotografien von Bauern und Hirten zu beginnen, doch von einer kaum verhohlenen Faszination von einer als ursprünglich gedachten, bäuerlichen Daseinsform geprägt.

Auch dass er offensichtlich von den frühen Daguerreotypien beeinflusst war, wie im Begleittext hervorgehoben wird, unterläuft die bedingungslose Modernität seiner Fotografie, wenngleich der Ansatz, die Fotografie der Neuen Sachlichkeit, je mehr noch das Neue Sehens zwingend von allen Vorläufern abzusetzen, wohl doch mehr dem Bedürfnis zuzuschreiben ist, sie als etwas unbedingt Neues, Ungeheures auszuzeichnen. Allein schon die Daten der Aufnahmen zeigen aber, dass Sander zwar mit seiner Publikation von 1929 in die Weimarer Republik gehört, das Material aber in großem Maße bereits aus dem Kaiserreich stammte.

Der Einfluss der Porträtmalerei und die genrespezifischen Anforderungen an Porträtfotografen, denen sich auch Sander nicht entzog (ganz im Gegenteil, der nutzte sie), ist dabei nicht einmal benannt. Schließlich ist auffallend, dass Sander anscheinend vor allem Personen aus seinem weiteren Umfeld fotografierte, aus seinem Mikrokosmos mithin die Struktur der Makrogesellschaft zu extrahieren suchte. Das mindert seine Bedeutung nicht, zeigt aber auch sein Scheitern an, wenn man sein Projekt als Maß nimmt.

Es ist wohl der letztjährigen Pariser Ausstellung geschuldet, die Sander in den Kontext der Neuen Sachlichkeit und der Kultur der 1920er Jahre gestellt hatte, dass der Verlag Schirmer und Mosel die einbändige Ausgabe des zentralen Werks August Sanders nun erneut aufgelegt hat. Rund 750 Fotografien finden sich in dieser umfangreichen Ausgabe der „Menschen des 20. Jahrhunderts“, ein Werk, das, beginnend um 1910 über mehr als vierzig Jahre entstanden ist und bis heute als Solitär dasteht.

Titelbild

August Sander: Menschen des 20. Jahrhunderts. Ein Kulturwerk in Lichtbildern eingeteilt in sieben Gruppen.
Schirmer/Mosel Verlag, München 2022.
807 S. , 98,00 EUR.
ISBN-13: 9783829605007

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch