Tepegöz und die Armenier

Marc Sinans Debütroman „Gleißendes Licht“ erzählt phantasievoll und musikalisch-magisch die Geschichte seiner Familie

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Gleißendes Licht“ nannte der Komponist Marc Sinan sein Oratorium, das gleichzeitig letzten Herbst in Jena, Buchenwald, Berlin und Tel Aviv uraufgeführt wurde und die nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie thematisierte. Seinem literarischen Debüt gab der 1976 geborene Künstler nun denselben Titel: Auch sein Roman spürt anhand seiner eigenen Familiengeschichte autobiografisch dem Zusammenhang von Gewalt, Geschichte und Erinnerung nach. Im Mittelpunkt steht Kaan, ein junger Gitarrist und Komponist, der in einem bayerischen Dorf aufgewachsen ist: „Kaan. Ein beschissener Name für Deutschland, ein beschissener Name fürs Dorf.“

Seine Familie kommt aus der Türkei, seine Mutter Nur ist ausgewandert, um den patriarchalischen Strukturen zu entkommen, sie heiratet einen deutschen Mann.

Alles war gewöhnlich an Kaan. Seine blonden Locken, das Haus der Familie im Vorort von München, zehn Minuten mit dem Fahrrad zur S-Bahn, ein Reihenmittelhaus. Der Vater, Ingenieur mittleren Alters, mittlerer Angestellter bei Siemens. Die Mutter, technische Zeichnerin, hatte in seiner Abteilung gearbeitet und wusste gleich, er war der Richtige für sie. Kein Macho, ein weicher, schüchterner, gut gekleideter und recht attraktiver Mann, unerfahren in der Liebe und ihr völlig verfallen. Sie verliebte sich ein wenig in ihn, und ihr Verstand sagte ihr, dass er ihr gegenüber loyal sein würde. Ihr Gefühl sagte ihr, dass das mehr war, als sie je von einem der Männer hätte erwarten können, die sie sehr geliebt hatte. Ungewöhnlich für eine Münchner Durchschnittsfamilie war, dass Kaans Mutter Nur hieß. Nach einem Jahr in München sprach sie fließend Deutsch. Nach einem weiteren Jahr perfekt, sodass man sie am Telefon für eine junge Frau aus Hannover oder Braunschweig hielt, und nicht für eine Türkin vom Schwarzen Meer.

Bei einem Aufenthalt in Istanbul erfährt Kaan, dass seine Großmutter Vahide armenischer Abstammung ist, ihre gesamte Familie beim Völkermord an den Armeniern 1915/1916 ermordet wurde und dass sein Großvater Hüseyin an diesem Völkermord reich geworden ist:

Die Ländereien der Armenier wurden gegen übersichtliche Gefälligkeiten verschleudert, und Hüseyin hatte sich das Filetstück gesichert. Wie genau, das wusste keiner mehr, aber nach Ende des Krieges, 1923, gehörte ihm alles, was zuvor Artun Bey, dem angesehensten Armenier weit und breit, gehört hatte, dem leiblichen Vater von Vahide.

Dabei hat Hüseyin Umut 1915 als Soldat selbst den brutalen Mord von osmanischen Soldaten an vierzehn armenischen Kindern auf einem kleinen Fischerboot miterlebt:

Das Boot schwankt heftig, und doch wagt er es nicht, sich zu regen. Was ist das für ein unerhörtes Geräusch, denkt er, und sofort noch mal: der nächste Schlag, wie eine tiefe Hochzeitstrommel, und dann der Klang von Wasser, das sich über dem in den Fluten versinkenden Körper schließt. Vierzehn Mal wiederholt sich der Schlag, und Hüseyin fragt sich, wie sie so still sind, die Kinder, wenn sie die anderen in den Fluten verschwinden sehen, um schließlich selbst hinterherzugehen. Und warum sie sinken, sinken, sinken wie Steine.

In „Gleißendes Licht“ springt Sinan zwischen den Zeitebenen hin und her, vom München der 80er-Jahre zur Kleinstadt Trabzon am Schwarzen Meer, wo seine Großeltern wohnen, und zur Künstlerakademie Villa Tarabya in Istanbul, wo Kaan Stipendiat ist. Immer auf der Suche nach seiner Geschichte, der Geschichte der Opfer und der Täter. Er will verstehen, auch um mit sich und seiner Geliebten Zizi ins Reine zu kommen:

Wenn er anerkenne, dass etwas nicht stimme mit seiner Familie, mit ihm, dann könne er eine Verwandlung vollziehen, die bald abgeschlossen sei, und für diese Transformation brauche er sie, Zizi. Sie habe sich in eine Raupe verliebt, die sich nun verpuppt habe, um ein Schmetterling zu werden. Ich werde dein Pfauenauge sein, wirklich, oder glaubst du mir nicht?

Weitere Ebenen des streckenweise kompliziert aufgebauten Romans sind die Geschichte des ermordeten armenischen Komponisten Komitas Vardapet und der türkische Mythos des Tepegöz, eines einäugigen Monsters, der von seinem eigenen Bruder umgebracht wird.

Gleichzeitig gelingt es Sinan, mit einer oft sinnlichen Sprache und seiner überbordenden Phantasie, einer poetischen Raffinesse und der unbändigen Erzähllust, die aus jeder Zeile springt, den Leser schnell in seinen Bann zu ziehen. Das Springen, die Brüche, all das passt nicht nur zum Thema, sondern wirkt wie ein musikalisches Cluster, dessen Elemente zu einem Gesamtklang, zu einer Symphonie zusammenfließen. Bis zum Schluss, als der türkische Präsident, dessen Istanbuler Dienstvilla direkt neben der Villa Tarabya steht, zu einem Sommerfest lädt. Und für Kaan ist es klar: „Er hat sich entschieden, der Geschichte eine Wendung zu geben. Auch um seiner eigenen Geschichte eine Wendung zu geben.“

Titelbild

Marc Sinan: Gleißendes Licht.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2023.
352 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783498003142

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