Vom Nutzen und Nachteil der Provinz für das Leben

Die sieben in seinem Band „Landkrank“ versammelten Erzählungen von Tobias Schwartz schlagen einen Bogen von der napoleonischen Zeit bis in unsere Gegenwart

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwei der drei im Berliner Elfenbein Verlag veröffentlichten Romane des Schriftstellers, Dramatikers und Übersetzers Tobias Schwartz – Nordwestwärts (2019) und Vogelpark (2020) – besitzen ihr gemeinsames geographisches Zentrum in der niedersächsischen Provinz. Dort, wo Deutschland an die Niederlande grenzt, liegt unweit von Nordhorn, der Kreisstadt des Landkreises Grafschaft Bentheim, die keine 10.000 Einwohner zählende Kleinstadt Emlichheim. Hier wuchs Schwartz auf, ehe es ihn Mitte der neunziger Jahre nach Berlin verschlug. In Emlichheim erlebte er die kleinen und großen Dramen einer Kindheit nahe an der Natur und fern der großen Welt. Und in die Stadt, in der Europas größte kartoffelverarbeitende Stärkefabrik beheimatet ist, führen auch die meisten der Erzählungen zurück, die Schwartz jetzt in dem Band Landkrank versammelt hat.

Sieben Texte sind es insgesamt, der kürzeste gerade einmal drei Seiten lang, der längste knapp 80. In mehreren von ihnen spielen Heranwachsende eine zentrale Rolle. Zwei führen in die Geschichte zurück: Varnhagen in Bentheim an den Anfang des 19. Jahrhunderts, „Fahrt nicht über Bentheim!“ in die Nazizeit. Was in allen Erzählungen auffällt, ist das enge Verhältnis der Figuren zu der sie umgebenden Natur. Es wimmelt in den Texten geradezu von Narzissen und Margeriten, Rittersporn und Phlox, Kartoffelrosen und Mahonien. Hummeln, Bienen und Wespen durchsummen die Wiesen. Spatzen, Krähen und Dohlen beleben den Himmel darüber. Der brutal herbeigeführte Tod eines kranken Kükens berührt das Herz eines kleinen Jungen und konfrontiert ihn zum ersten Mal mit der Endlichkeit allen Lebens.

Tobias Schwartzʼ Texte bewegen sich geschickt zwischen Tragik, Melancholie und den komischen Seiten des Daseins. Eine heitere Szene kann bei ihm unversehens in ihr Gegenteil umschlagen. Herzhaftes Lachen bleibt einem ein paar Seiten später plötzlich im Halse stecken. Und vor den großen Gefühlen verstecken sich seine Protagonisten manchmal so lange, bis es zu spät ist. Was in der Erzählung Frag mich oder hör die Smith einmal als „schüchterne Zweisamkeit“ bezeichnet wird, in der den Band beschließenden Titelgeschichte führt es dann direkt in die Katastrophe.

Auch dem aus Paris kommenden und seinen Heimweg über das norddeutsche Tiefland nehmenden Karl August Varnhagen (1785–1858), mit seinen Tagebüchern und Denkwürdigkeiten weithin bekannter und gut vernetzter Chronist der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, begegnen bei seinem Aufenthalt auf der Burg des Grafen von Bentheim gleich mehrere Frauen. Nach dem kurzen Liebesabenteuer mit einer Hofdame der alten Gräfin schließt er bei einem Ausritt mit dem ihm wohlgesonnenen Erbgrafen Bekanntschaft mit dessen „Herzensdame“ und ihrer so eloquenten wie gebildeten Schwester, die als Waisen in einem Pfarrhaus ein neues Zuhause gefunden haben.

Dass der Erbgraf dabei glaubt, sein eigenes Problem – das Skandalöse und sich deshalb Verbietende einer Ehe zwischen einem Adligen und einer Bürgerlichen – sei auch dasjenige Varnhagens, bei dem unterschiedliche Konfessionen einer Heirat entgegenstünden, wird der kurze Zeit darauf durch seine Heirat mit der Schriftstellerin und späteren Berliner Salondame Rahel Levin ad absurdum führen. Denn das aus alten Zeiten Überkommene, wie es in der nordwestdeutschen Provinz noch zu herrschen scheint – „wie schnell das Neue alt war und wiederum mit einem neuen Neuen in engster Verbindung stand“, denkt Varnhagen beim Anblick der Gässchen und lauschigen Plätze Bentheims –, ist für den weitgereisten Weltmann längst nicht mehr verbindlich.    

Schön und wohl nicht ganz ironiefrei ist es, wie Tobias Schwartz seine historische Figur, die er mit viel Sympathie beschreibt, die „Bentheimer Art“ wahrnehmen lässt. Es hat sich wohl nicht allzuviel getan zwischen der Zeit der Napoleonischen Kriege und jenen Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, in denen der Autor selbst groß wurde. Die Mentalität der Hiesigen – für Varnhagen „eine bizarre, da durch die Bank miteinander im altvertrauten Einklang befindliche“ Mischung aus Individuen, die seiner Weltgewandtheit einerseits mit „Nicht-glauben-Können“, andererseits mit „Gar-nicht-so-genau-wissen-Wollen“ gegenüberstehen – scheint kaum Wandlungen zu unterliegen. Ausgerüstet mit einer „urtümlichen Gemütlichkeit“, begegnet dem Reisenden jener „tumbe und auffallend zur Distanzlosigkeit neigende Menschenschlag“ mit der nicht zu erschütternden Überzeugung, dass nichts seine von Anfang an feststehende Weltsicht auch nur im Geringsten zu erschüttern vermöge. „Niemand wusste hier, dass er nichts wusste, und sie wussten alle nichts“, stellt Varnhagen fest, ohne die Menschen dafür zu verurteilen oder ihnen gleich ganz seine Zuneigung zu entziehen.

Mit einer anderen historischen Situation bekommt man es in der Erzählung „Fahrt nicht über Bentheim!“ zu tun. Die jüdische Berliner Familie, die in den 1930er Jahren einen Weg sucht, der Nazigewaltherrschaft zu entkommen, wurde vorgewarnt: Jeder Weg hinaus aus einem Deutschland, in dem für Juden kein Platz mehr ist, sei sicherer als der über Bentheim. Denn Bentheim sei eine „verruchte Station“. Hier, im Nordwesten, sei die Anzahl der Menschen, die bei Wahlen die Nazis unterstützten, um 10 Prozent höher als im Rest des Reiches. Und entsprechend hoch sei der Eifer derjenigen, die die Züge nach potentiellen Flüchtlingen durchsuchten.Wider besseres Wissen macht man sich zu dritt aber doch auf den gefährlichen Weg Richtung Rotterdam. Denn es bleibt nicht viel Zeit bis zu Abfahrt des Schiffes nach Amerika, wo Familienangehörige schon auf sie warten. Bereits für den nächsten Tag hat ihnen der Vater von der Rotterdamer Niederlassung seiner Firma aus Plätze für die Überfahrt gebucht. Also nimmt man das Risiko auf sich – und muss erleben, dass all jene Recht hatten, die vor der Reiseroute über Bentheim warnten.  

„Fahrt nicht über Bentheim!“ ist aus der Sicht eines jungen Mädchens geschrieben, das die Zugfahrt nach Holland – anders als ihre Mutter und die jüngere Schwester, von denen sie nie wieder etwas hören wird – dank eines Zufalls überlebt. In einer reichen Fabrikantenfamilie aufgewachsen, kommt Lotte die Flucht mit dem Vater nach Amerika wie ein Durchtrennen ihrer Wurzeln vor. Für sie, die mit den Büchern von Theodor Fontane und Georg Hermann, ihrem Lieblingsautor, aufgewachsen ist, in einer herrschaftlichen Villa lebte, in der Vicki Baum als Gast begrüßt wurde, wird der Name „Bentheim“ in den kommenden Jahrzehnten als Synonym für ihren schmerzlichen Verlust und die Grausamkeit stehen, mit der andere, blind dem Nazisystem sich unterwerfende Mitläufer, einst ihre Familie zerstörten. Doch als sie Mitte der 50er Jahre widerstrebend erneut über Bentheim fährt, um ihrem Mann die alte Berliner Heimat zu zeigen, genügt ein Blick auf den Bahnsteig, um zu sehen, dass dort immer noch dieselben Grenzbeamten ihren Dienst verrichteten, die „unter Hitler die Juden aus den Zügen geholt“ hatten.  

Landkrank greift zahlreiche Erzählfäden wieder auf, die Schwartz schon in den beiden Emlichheim-Romanen verwoben hat. So kommt einem nicht nur der auf seinem Motorrad Feuer fangende lutheranische Pastor Riemenschneider aus dem kürzesten Text des Bandes, Noch eine Geschichte vom Pastor Riemenschneider, eigentlich mehr einer Anekdote als einer Erzählung, durchaus vertraut vor. Mit dem ihm von der niedersächsischen Landeskirche zur Verfügung gestellten modernen Gefährt ist es ihm noch einfacher geworden, seine über zahlreiche Ortschaften verstreute Schäfchen beisammen zu halten. Doch für all jene, die die reformierten, altreformierten oder gar katholischen Gottesdienste besuchen, ist der am Auspuff des Motorrads hängen gebliebene und deshalb an beiden Enden lichterloh brennende Talar des Dahinbrausenden ein deutliches Zeichen dafür, dass man mit Riemenschneider einen „Teufelspfarrer“ vor sich habe, vor dem sich in Acht zu nehmen Pflicht sei.

Der Verrat eines Jungen durch einen Freund, auf den er sein Vertrauen gesetzt hat. Das Ende von Liebesgeschichten, die scheitern, weil einem der beiden eigentlich zueinander Gehörenden irgendwann die Kraft oder der Mut verlassen. Der brutale Einbruch des Todes in die heile Welt eines Kindes. Ein aufklärerischer Blick auf die beschränkte Welt der deutschen Provinz, der gleichzeitig kritisch, aber auch liebevoll wahrnehmend ist. Die Geschichte einer Flucht, die tragisch endet und doch einen kleinen Hoffnungsschimmer lässt. Tobias Schwartz bestätigt mit seinen Erzählungen, was schon die Romane verrieten: Den schon seit Langem in Berlin lebenden Dramatiker und Romanautor lässt die Provinz auch in seinen kürzeren Prosatexten nicht los. Es ist die Herkunft, die sein Schreiben motiviert, die eigene Kindheit, in die er sich gemeinsam mit seinen unterschiedlichen Figuren zurücktastet, zurück zu  den Gerüchen, dem Geschmack der Kindheit und allem, was die Natur einem in ihr und mit ihr groß gewordenen Menschen bedeutete und bedeutet. 

Titelbild

Tobias Schwartz: Landkrank. Erzählungen.
Elfenbein Verlag, Berlin 2022.
240 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783961600786

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