Philologische Feinarbeit

In seinem Band „Gegenlektüren“ bietet Rolf Selbmann Verstehensmodelle für viele bekannte und manche weniger bekannte literarische Texte

Von Günter RinkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Rinke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Münchner Literaturwissenschaftler Rolf Selbmann beschäftigt sich in seinem neuen Buch mit der „Theorie und Praxis der Literaturinterpretation“. Das Titelstichwort ‚Gegenlektüren‘ lässt Überraschendes und Unorthodoxes erwarten. Verstärkt wird diese Erwartung durch den Klappentext, in dem „Literaturinterpretation gegen den Strich des Herkömmlichen“ angekündigt wird. Titel, Untertitel und das sehr sachliche Umschlagbild mit einem Pfeildiagramm vermitteln den Eindruck eines eher trockenen Fachbuchs. Jedoch handelt es sich um eine lebendige und stellenweise geradezu spannende Lektüre, die zwar in erster Linie an ein Fachpublikum adressiert sein mag, für literaturinteressierte Laien aber auch empfohlen werden kann.

Die einführenden Theoriekapitel hält der Autor knapp, um sich dann umso ausführlicher seinen Textbeispielen zuzuwenden. Mit erkennbarem Sarkasmus zählt er einige der sogenannten turns auf, denen die Literaturwissenschaft in den letzten Jahrzehnten unterlag und bis heute unterliegt. Ohne diese im Einzelnen zu kommentieren, schreibt er, die Aufzählung abschließend: „Weitere turns, etwa der (post)colonial turn, lassen sich bei Gelegenheit und fast nach Belieben ausrufen.“ Es ist erfrischend und könnte für das Fach wegweisend sein, dass sich Selbmann mit wissenschaftlichen Modeströmungen nicht aufhält und sich stattdessen wieder den Texten zuwendet. Gern liest man Sätze wie diese:

Wenn man sich darauf verständigt, dass es die Texte sind, die Sensation machen sollen, nicht die Geistreichigkeit der Diskurse über sie, dann sind wir schon mitten im Thema. […] Interpretation verlangt eine grundsätzliche Achtung vor literarischen Texten, was nicht in Bewunderung, Verehrung oder gar Huldigung ausarten muss.

Nun, etwas Bewunderung darf beim Lesen eines gelungenen sprachlichen Kunstwerks schon sein. Bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Literatur sind aber methodische Entscheidungen unausweichlich. Im Kapitel „Theorien vereinfacht“ zählt Selbmann vier grundsätzlich verschiedene Möglichkeiten auf, literarische Texte zu analysieren und zu interpretieren: autororientiert, textorientiert, leserorientiert, intertextuell. Sind literarische Texte „Ausdruck der Persönlichkeit ihres Autors“? Sind sie aus sich selbst heraus verständlich, wenn sie in ihrer authentischen Gestalt (die oft nicht einfach zu rekonstruieren ist) vorliegen? Werden sie eigentlich erst durch die Lektüre, also durch die Mitarbeit der Lesenden, aktualisiert und mit Sinn versehen? Oder sind sie aus einem „Textfluss“ bereits vorhandener Texte hervorgegangen und schreiben diesen quasi eigenständig fort, so dass bisweilen vom ‘Tod des Autors‘ gesprochen wurde?

Vehement wendet sich Selbmann gegen die autorintentionale Interpretation. Dass der Autor sich über die Bedeutung seiner Texte täuschen kann, verdeutlicht er am Beispiel zweier Gedichte Theodor Fontanes: Wo Bismarck liegen soll und Meine Gräber. Das erste Gedicht hielt Fontane irrtümlich – das wird überzeugend begründet – für gelungen, die hohe Bedeutung des zweiten verkannte er. Weitere Beispiele findet man im letzten Kapitel, das mit der Frage „Können Texte schlauer sein als ihr Autor?“ überschrieben ist. Vermutlich erkannte Eduard Mörike nicht, dass sein kleines Gedicht Septembermorgen einen Epochenwandel indiziert. Thomas Mann tat seine kurze Erzählung Das Eisenbahnunglück als Gelegenheitsarbeit ab, allerdings mit einer gehörigen Portion Ironie, so dass man argwöhnen muss, dass er sich der Bedeutung der Erzählung als „Seismograf“ in Bezug auf den Zustand der wilhelminischen Gesellschaft durchaus bewusst war. In noch höherem Ausmaß trifft diese richtige Selbsterkenntnis Manns hinsichtlich der Bedeutung seiner Novelle Tod in Venedig zu, obwohl er nicht erkennen konnte, dass der Text schon auf „die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (G. F. Kennan), den Ersten Weltkrieg nämlich, vorauswies – oder man ihn zumindest so lesen kann.

Ob der Nutzen der autorintentionalen Interpretation mit den genannten Beispielen schon widerlegt ist? Sicherlich zu Recht in Verruf geraten ist die aus mancher Deutschstunde bekannte Frage: „Was will der Autor uns mit dem Text sagen?“ Spricht man statt autorintentionaler von produktionsästhetischer Methode oder von einer die Entstehungsbedingungen eines Textes sorgfältig rekonstruierenden biografischen Interpretation, ist der Nutzen eines solchen Vorgehens nicht leicht von der Hand zu weisen. Am Beispiel von Gottfried Benns Gedicht Astern macht Selbmann es selbst vor. Erst durch die Rekonstruktion der Entstehungsbedingungen dieses Gedichts aus dem Jahr 1935 wird es in seinen erkenntnistheoretischen, poetologischen und politischen Dimensionen wirklich verständlich. Was das Politische angeht, ‚wusste‘ das Gedicht vielleicht wirklich mehr als sein Autor. Die in einer späteren Edition – leider – geglättete Erstfassung weist auf Benns Problemsituation hin, die er in diesem und anderen Gedichten sowie in Briefen bearbeitete.

So kritisch wie die autorintentionale beurteilt Selbmann auch die an „Erwartungshorizonten“ orientierte rezeptionsästhetische Interpretation. Der Begriff wurde von Hans Robert Jauß 1970 in seinem Aufsatz Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft begründet. Jauß ging es allerdings weniger um die Bestätigung der Publikumserwartungen durch die Werke als vielmehr um die „ästhetische Distanz“, die bei der Rezeption anspruchsvoller Kunst immer wieder entsteht: Das Publikum ist schockiert, entsetzt, empört, weil mit dem Kunstwerk Unerhörtes gewagt wird. Allmählich tritt dann ein „Horizontwandel“ ein, und das zuvor anstößige Werk wird zum Klassiker.

Selbmann untersucht zwei Beispiele, um Verstöße gegen Erwartungen zu verdeutlichen: Paul Flemings Barockgedicht Wie Er wolle geküsst seyn (1646) und Rilkes berühmtes Gedicht Herbsttag (1902). Umreißt man die Erwartungen an Barockgedichte mit den Begriffen „Todeserwartung“ und „Wissen um vanitas“, so verstößt Flemings Kuss-Gedicht in vielerlei Hinsicht gegen diese Erwartung. Selbmanns vielschichtige Analyse überzeugt vollkommen, allerdings darf bezweifelt werden, dass der Erwartungshorizont an Barockgedichte mit den beiden Begriffen ausreichend beschrieben ist.

Beim Rilke-Gedicht ist es fast schon eine ironische Wendung, wenn Selbmann die Autor-Intention gegen die Erwartung ins Feld führt: „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr“, man kennt die Verse und denkt an „bedauerte[ ] und betrauerte[ ] Unbehaustheit“. Jedoch – ein Brief Rilkes zeigt, dass der Dichter den Herbst nicht ablehnt, sondern schätzt, nämlich als Schaffenszeit, als Zeit, sich zurückzuziehen und „lange Briefe [zu] schreiben“. Die autorintentionale Interpretation kann also dazu gut sein, eine neue Lesart eines Textes zu begründen. Sie kann „Gegenlektüren“ ermöglichen, die übrigens althergebrachte nicht notwendig entkräften: Schließlich enthält das Gedicht genügend negativ konnotierte Wörter, die den Abschied vom Sommer als wenig willkommene Wende im Jahreszyklus erscheinen lassen: „Winde“, „allein“, „wachen“ (Schlaflosigkeit), „unruhig“.

Diese Überlegungen sind nicht als Einwände gegen Selbmanns Buch gemeint. Seine Stärke liegt darin, dass es zu vertieftem Nachdenken über Texte anregt und neue Zugänge zu ihnen ermöglicht. Zum Beispiel durch genaue Analysen von Stoffgeschichten (Johann Peter Hebels Unverhofftes Wiedersehen und diverse Texte über diesen Stoff), Vorstufen (Conrad Ferdinand Meyers Der römische Brunnen), intertextuelle Bezüge (Hölderlin, Hälfte des Lebens – Paul Celan, Tübingen, Jänner; Friedrich Hebbel Sommerbild – Gottfried Keller Abendlied; Emanuel Geibel Hoffnung – Theodor Storm, Oktoberlied; Hebel, Prozess ohne Gesetz – Kafka, Türhüter-Parabel; Agnes Miegel, Die Frauen von Nidden – Thomas Mann, Mein Sommerhaus). Die Fülle der Beispiele zur Intertextualität zeigt, dass Selbmann offenbar diesen Ansatz für besonders ertragreich hält.

Ein Höhepunkt des Buchs ist das Kapitel über Gottfried Kellers Novelle Kleider machen Leute, die Selbmann umfassend unter Aspekten der Zeichentheorie interpretiert. Studierende des Fachs Germanistik sollten sich vor allem mit diesem Kapitel eingehend beschäftigen. Ausweislich seiner Publikationsliste ist der Autor dazu bestens eingearbeitet, hat er doch diese Novelle herausgegeben, erläutert und interpretiert. Überhaupt trägt der Band den Charakter der Zwischenbilanz eines Forscherlebens: vieles ist aus früheren Arbeiten des Autors hervorgegangen, im Literaturverzeichnis finden sich 19 Titel mit seinem Verfassernamen.

Der Anspruch, „Gegenlektüren“ anzubieten, wird insofern eingelöst, als zahlreiche bekannte und weniger bekannte Texte noch einmal „gegengelesen“ werden, wobei auch unerwartete Lesarten zutage treten. Bei den neuen Interpretationen wird vielfach in Fußnoten auf ältere verwiesen, sprich: es wird der Forschungsstand aufgenommen. Selbmann formuliert dazu die These: „Neuere Interpretationen sind dann ‚besser‘, wenn sie den von ihren Vorläufern aufgetürmten Berg auch wirklich bestiegen haben und ihn als Aussichtspunkt benutzen.“ Es ist richtig, die Forschung soll nicht immer wieder bei Null anfangen, das wäre unökonomisch. Jedoch muss eine Re-Lektüre nicht zwingend bei der oft unüberschaubaren Sekundärliteratur anknüpfen. Sie kann sich auch des im Lauf der Zeit immer weiter verfeinerten Instrumentariums der Erzähltext-, Dramen- und Lyrikanalyse bedienen, um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen.

Im Übrigen hätte ein gründliches Lektorat die Qualität des Bandes noch erhöhen können. Was früher „Druckfehler“ hieß, lässt sich meist leicht erkennen, es sollten aber nicht zu viele sein. Wenn Kafkas Ein Landarzt aber dreimal Der Landarzt genannt wird, so muss man sagen: Auch das kann passieren, sollte aber vermieden werden.

Titelbild

Rolf Selbmann: Gegenlektüren. Beiträge zu Theorie und Praxis der Literaturinterpretation.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2022.
246 Seiten , 40,00 EUR.
ISBN-13: 9783826078026

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