Abschluss und Auftakt zugleich

Hoffnung und Hunger, Kälte und Lüge grundieren die erschütternde Biographie über die illusionslose Verflechtung von Leben und Literatur des russischen Schriftstellers Warlam Schalamow

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über Jahrzehnte hinweg hat sich die Literaturwissenschaftlerin Franziska Thun-Hohenstein mit Leben und Werk des russischen Schriftstellers Warlam Schalamow(1907-1982) beschäftigt, worüber nicht zuletzt ihre Funktion als Herausgeberin der Schalamow-Werkausgabe im Verlag Matthes & Seitz Auskunft gibt. Diese wissenschaftliche Lebensleistung kommt der vorliegenden Untersuchung auf eindrucksvolle Weise zugute. Erstmals werden ausgewertete Dokumente wie KGB- und Gerichtsakten, Aussagen von Zeitzeugen, geschichtliche Hintergründe und bedrückende Lebensstationen in einer bemerkenswerten Biographie einer deutschen Leserschaft vorgestellt. Das vorliegende Werk bildet somit Abschluss und Auftakt zugleich, sich dem Schicksal dieser russischen Persönlichkeit zuzuwenden, die heute zu den wichtigsten Schriftstellern seines Landes zählt.

In den Jahren 1929 bis 1931 war Warlam Schalamow erstmals wegen „konterrevolutionärer Agitation und Propaganda“ zu einer Haftstrafe im Lager verurteilt worden. Nach seiner Rückkehr waren ihm erste literarische Veröffentlichungen in Zeitschriften möglich, bis er ein weiteres Mal verhaftet und verurteilt wurde. Es folgten 14 weitere Jahre in Straflagern und Verbannung in der Kolyma-Region, dem Kältepol der Erde, die damals nur mit dem Schiff von Wladiwostok aus zu erreichen war. Nach dem Ende dieser furchtbaren Zeit hatte es nochmals fünf Jahre gedauert, bis der mittlerweile 46-jährige Warlam Schalamow wieder nach Moskau zurückkehren durfte. Fortan war er mit der Herausforderung beschäftigt, in welcher Weise das Erlebte zu Papier gebracht werden kann. Bereits in den letzten Jahren seiner Verbannung hatte er damit begonnen, Aufzeichnungen und Gedichte in Heften zu verfassen.  

Als eine Charakterisierung der dichten Forschungsarbeit von Franziska Thun-Hohenstein könnte eine Notiz Schalamows über seine Versuche, Grauen, Kälte und Niedertracht zu literarisieren, herangezogen werden: „Die neue Prosa ist das Ereignis selbst, der Kampf und nicht seine Beschreibung. D.h. – ein Dokument, die unmittelbare Teilnahme des Autors an den Ereignissen des Lebens“.

Warlam Schalamows erzwungener Aufenthalt in den Abgründen der menschlichen Zivilisation hatten ihn auf eine Weise gezeichnet, welche ihn für sein restliches Leben nicht mehr verlassen sollten. Besonders erschütternd fallen die Schilderungen seiner letzten Lebensjahre aus, als er, gezeichnet von schweren Krankheiten, zunehmend in einen nahezu autistischen Zustand eines ewigen Lagerhäftlings geraten war.

In acht Kapiteln unterzieht sich die Autorin der schwierigen Aufgabe, Leben und Werdegang von Warlam Schalamow in seiner lebenslangen Verwicklung mit Literatur nachzuziehen. Neben entwicklungspsychologischen Aspekten bezieht sie zugleich gesellschaftliche Umstände ein, welche in ihrer geschichtlichen Dynamik das Leben Schalamows in besonderer Weise beeinflussten. Seiner jugendlichen Distanzierung zum Vater, einem orthodoxen Priester, begegnet Thun-Hohenstein mit sensibler Einfühlung, ohne den weiterführenden Blick zu verlieren. Als bevorzugte Stätte für politisch Verbannte waren revolutionäre Unruhen in Wologda, der Stadt von Schalamows Kindheit, vorprogrammiert. Und nicht zuletzt die Lektüre Fjodor Dostojewskijs hatten im jungen Leser Schalamow Ahnungen von den inneren Abgründen im Menschen entstehen lassen.

Eine unverwechselbare Vermengung von Lebenstext und Kunsttext kennzeichnet über schicksalhafte Jahrzehnte hinweg das Leben Warlam Schalamows. In subtiler Weise versuchte auch der spätere Schalamow als Schriftsteller, an seine literarischen Anfänge als begeisterter Anhänger der linksoppositionellen Avantgarde anzuknüpfen. Traditionelle Prosastränge werden aufgebrochen, mit sich selbst und ihrer Widersprüchlichkeit konfrontiert und durch Perspektivwechsel konfiguriert. Als junger Mann war Schalamow, wie viele Zeitgenossen seiner Generation, der revolutionären Euphorie jener „Himmelsstürmer“ erlegen, welche eine neue Welt und eine neue Kunst errichten wollten. Die Aufbauphantasien waren freilich buchstäblich dem Kälteschock einer Welt der Zwangslager, dem Gulag, zum Opfer gefallen.

Im unablässigen Kreisen des Schreibens und Nachdenkens über das eigentlich nicht Sagbare stößt Schalamow auf menschengemachte Katastrophen, die sein Erleben im sowjetischen System auf furchtbare Weise bestätigen und zugleich unmittelbare Herausforderungen bereithalten:

Ich glaube, daß der Mensch der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ein Mensch, der Kriege, Revolutionen, die Feuer von Hiroshima, die Atombombe, den Verrat und – das Wichtigste, das Krönende – die Schande der Kolyma und der Öfen von Auschwitz erlebt hat, daß ein Mensch – denn von jedem ist ein Verwandter entweder im Krieg oder im Lager umgekommen –, ein Mensch, der eine wissenschaftliche Revolution erlebt hat, einfach anders an Fragen der Kunst herangehen muß als früher.

In besonderer Weise aufschlussreich sind die abschließenden beiden Kapitel, die Einblicke in das Leben des Schriftstellers Warlam Schalamow nach seiner Haft und Lagerzeit bereithalten. Es werden seine komplizierten Beziehungen zu Schriftstellern wie Alexander Solschenizyn(1918-2008), Boris Pasternak(1890-1960), Nadeschda Mandelstam(1899-1980) oder Jewgenija Ginsburg(1906-1977) geschildert. Allesamt komplexe Persönlichkeiten mit unterschiedlichen persönlichen wie politischen Temperamenten, welche dem zermalmenden Moloch des Lebens im bolschewistischen Russland zum Opfer gefallen waren. Kollegiale Beziehungen waren auch im dissidentischen Umfeld nicht frei von Widersprüchen und tragischen Verläufen. Ein allherrschendes Misstrauen jeder gegen jeden kennzeichnete nicht nur das sozialistische Herrschaftssystems, sondern führte darüber hinaus sein zersetzendes Wesen in verinnerlichter Form fort.

In der Sowjetunion waren Gedichte Schalamows nur in gekürzter und zensierter Form in schmalen Bändchen veröffentlicht worden. Obwohl er seit Februar 1973 Mitglied des Schriftstellerverbandes der UdSSR war, blieb seit Hauptwerk, die sechs Zyklen „Erzählungen aus Kolyma“, zu Lebzeiten ungedruckt. Erst in den Jahren von Michail Gorbatschows „Perestrojka“ gelangten die Texte an die sowjetische Öffentlichkeit.

Auf erschreckende Weise erhalten Schalamows Werke gerade in der heutigen Zeit den Charakter einer furchtbaren Aktualität. Die Lektüre bildet ein Gegengift gegen die Hohlheit eines verordneten Patriotismus und den sowjetischen Alltagsreflex, Leid und Elend in der Wahrnehmung einfach auszublenden, um sich somit einer persönlichen Verantwortung zu entziehen.

Neben einem farbigen Bildteil und einem Personenverzeichnis hebt sich diese sorgfältig aufbereitete Ausgabe auch durch einen bemerkenswerten Epilog „Alles oder Nichts“ von Franziska Thun-Hohenstein hervor, der Einblicke in die persönliche Herangehensweise der Autorin frei gibt.

Titelbild

Franziska Thun-Hohenstein: Das Leben schreiben. Warlam Schalamow.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2022.
600 Seiten , 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783957570376

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