Imperialistisches Denken in der russischen Weltliteratur und ukrainische Unbeugsamkeit

Von Natalia Blum-BarthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Natalia Blum-Barth

Ein Wunder
geschah auf der Welt

Taras Schevchenko, Der Traum

1991 schrieb Joseph Brodsky das Gedicht Auf die Unabhängigkeit der Ukraine. Angeblich auf Rat seines Freundes, des litauischen Dichters Tomas Venclova, veröffentlichte Brodsky sein ‚Kunstwerk‘ nicht, trug es aber bei Lesungen vor. Darin präsentiert sich der Nobelpreisträger als Imperialist und Chauvinist. 2014 wurde dieser Text in Russland zum Gedicht des Jahres erklärt. Ja, 2014 – nach Putins Annexion der Krim.

Spätestens nach Russlands Überfall auf die Ukraine dürfte Venclova das Gedicht des Freundes nicht mehr als „schlechten Witz“ bezeichnen. Und auch wenn sonst besorgt versucht wird, dieses Hass-Gedicht als „ein hässlicher Fleck auf Brodskys sonst weisser politischer Weste“[1] zu deklarieren und es „ausschließlich als politische Äußerung“[2] zu bewerten, ändert dies nichts an der Tatsache: Es ist ein Gedicht eines Nobelpreisträgers. Viel mehr: Bei seiner Analyse zeigen sich der geschichtliche Bezug, die sprachliche Gestaltung und die Intertextualität u.a. als bewusste Kunstgriffe Brodskys, der an eine imperialistische Tradition der russischen Literatur anknüpft.

I

Brodskys Hasstirade besteht aus zehn Strophen, die einen Paarreim aufweisen. Dieses für Kindergedichte typische Reimschema sorgt für lockere, fröhliche Stimmung. Brodsky pervertiert es, was in der ersten und letzten Strophe besonders deutlich wird, die darüber hinaus einen thematischen Rahmen bilden: die Zerstörung der Ukraine und die Vernichtung der Ukrainer.

Дорогой Карл Двенадцатый, сражение под Полтавой,
слава Богу, проиграно. Как говорил картавый,
время покажет — кузькину мать, руины,
кости посмертной радости с привкусом Украины.

[…]

С Богом, орлы, казаки, гетманы, вертухаи!
Только когда придёт и вам помирать, бугаи,
будете вы хрипеть, царапая край матраса,
строчки из Александра, а не брехню Тараса.[3]

Lieber Karl XII, die Schlacht bei Poltawa
ist Gottseidank verloren. Wie der mit dem Sprachfehler sagte,
die Zeit wird zeigen – Kuzkins Mutter, Ruinen,
Knochen der posthumen Freude mit Beigeschmack der Ukraine.

[…]

Gott mit Euch Adler, Kosaken, Hetmane, Vertuchai!
Wenn auch eure Zeit zu sterben kommt, Stiere,
ihr werdet röcheln, am Matratzenrand kratzend,
Zeilen aus Alexander und nicht die Lüge von Taras.

Eröffnet wird das Gedicht mit der Erwähnung der Schlacht bei Poltawa von 1709. Das ist ein dramatisches Jahr in der Geschichte der Ukraine, das die Aufhebung der Kosakenarmee 1764 durch Katharina II einläutete. In der Schlacht bei Poltawa kämpfte der Hetman Ivan Mazepa an der Seite der Schweden, obwohl er nach dem Abkommen von Kolomak (1687) verpflichtet war, an der Seite von Moskowien zu kämpfen. Um seine Gebiete von der Zerstörung durch Schweden zu retten, die im Anmarsch waren, und in der Hoffnung, seine Herrschaftsgebiete der Protektoratsmacht des Moskauer Zaren (seit 1654) zu entreißen, wechselte Mazepa in der Schlacht bei Poltava die Seiten.

Mit der Erwähnung der Stadt Konotop in der zweiten Strophe – „жовто-блакитный реет над Конотопом“ (Gelb-Blau weht über Konotop) – verweist Brodsky auf den großen Sieg der ukrainischen Kosaken gegen Moskau in der Schlacht bei Konotop im Juli 1659. Dadurch wird der Jahrhunderte lang andauernde Kampf der Ukraine für ihre Unabhängigkeit von Moskau deutlich.

Diese historischen Ereignisse dienen Brodsky als Matrix des Verrates, dessen die Ukrainer beschuldigt werden, weil sie den Austritt aus der Sowjetunion und die Souveränität der Ukraine proklamierten. Dafür werden Ukrainer von Brodsky beschimpft, verhöhnt, verachtet und verjagt:

Не нам, кацапам, их обвинять в измене.

[…]

Скажем им, звонкой матерью паузы метя, строго:
скатерьтю вам, хохлы, и рушником дорога.
Ступайте от нас в жупане, не говоря в мундире,
по адресу на три буквы на все четыре

Nicht uns, Kazapen, steht es zu, ihnen den Verrat vorzuwerfen

[…]

Wir sagen ihnen streng, die Pausen mit lauten Schimpfwörtern markierend:
Das wars dann wohl, verpisst euch, Chochly,
von uns in euren Zhupanen, sagt nicht Mundiren,
an die Adresse in drei Buchstaben in alle vier [Seiten]

Den Inhalt dieser Zeilen unterstreicht die Wortwahl – die Schimpfwörter und die ethnografischen Bezeichnungen, die die abwertende und erniedrigende Haltung des Autors gegenüber den Ukrainern bewusst verstärken. Der häufigste russische Ethnophaulismus für Ukrainer, „chochol“, hat seinen Ursprung im 17. Jahrhundert und bezieht sich auf die Frisur der Kosaken der Zaporizka Sitch. Ihre Stirnlocke – diese bekam jeder Mann, der sich bei Kosaken meldete – nannten Vorfahren der heutigen Russen „chochol“, ein Wort, das auf Turksprachen zurückgeht. Auch der von Ukrainern für Russen verwendete Ethnophaulismus „Kazap“ hat seinen Ursprung in den Turksprachen und bedeutet „Metzger, Schinder, Henker“. Seine Entstehung bezieht man auf die Zerstörung von Baturyn, der Hauptstadt des Hetmanen Mazepa, im November 1708. Zwischen 11.000 und 15.000 Einwohner der Stadt wurden von Truppen des Zaren Peter I. grauenvoll umgebracht, geschlachtet. Indem Brodsky den Ethnophaulismus „kazapy“ verwendet, erinnert er an eine der bittersten Niederlagen der Kosaken und die Bestialität der zaristischen Truppen. Ihnen schreibt der Autor die militärische Ehre zu, worauf „Mundire“ (Monturen) verweisen. Ukrainer, die den Austritt aus der Sowjetunion proklamierten, entehrt Brodsky, indem er sie in „Zhupanen“ (Bauernwesten) darstellt und beschimpft.

Bemerkenswert ist die Sicht des Autors, der seit 1972 in den USA lebte, auf den Westen: 

Пусть теперь в мазанке хором Гансы
с ляхами ставят вас на четыре кости, поганцы.

Jetzt sollen in den Lehmhütten euch Fritzen
Zusammen mit Polaken auf vier Knochen stellen, ihr Heiden.

Brodsky operiert mit alten Feindbildern und scheint im Westen nur Unterdrückung und Ausbeutung zu sehen. Sein Bild der Sowjetunion verrät in der ersten Strophe die Redewendung „время покажет – кузькину мать“ (die Zeit wird zeigen – Kuzkins Mutter). Sie ist durch Nikita Chruschtschow, der 1953 bis 1964 Erster Sekretär der KPdSU war, bekannt geworden, als er 1959 beim Treffen mit Richard Nixon ‚drohte‘, dass die Sowjetunion im Wettbewerb um die Führung in der Welt die USA ein- und überholen wird.

In der dritten Strophe äußert sich Brodsky explizit über das Leben in der Sowjetunion:

Сами под образами семьдесят лет в Рязани
с залитыми глазами жили, как при Тарзане.

Wir lebten unter Ikonenbildern siebzig Jahre in Rjazan
Mit voll besoffenen Augen wie zu Zeiten von Tarzan.

In diese Zeilen kann man sowohl den Personen-Kult von Lenin und Stalin – „Ikonenbilder“ – als auch die Flucht des homo sovieticus in den Alkoholismus hineininterpretieren, was eine durchaus kritische Sicht Brodskys auf die Sowjetunion offenbart. Nichtsdestotrotz erschüttert ihn der Austritt der Ukraine aus der Sowjetunion, weil er weiß, dass dies den endgültigen Zerfall der Sowjetunion bedeutet und das Rad der Geschichte nicht mehr zurückzudrehen ist.

Trotz allem markiert Brodsky seine Erkenntnis der endgültigen Zäsur durch die Mehrsprachigkeit und zwar die Verwendung zahlreicher ukrainischer Wörter: рушник-карбованец, жменя, левада, краля, баштан, вареник, не треба, кавунам u.a. Brodsky, der im langjährigen US-amerikanischen Exil in der Lyrik der russischen Sprache treu blieb, wusste um die Bedeutung der Muttersprache. Deshalb fungiert Ukrainisch zur Markierung der Andersartigkeit, aber auch der Identität und Souveränität der Ukrainer. So paradox es auch erscheint: Durch die Verwendung der ukrainischen Wörter erkennt Brodsky die Unabhängigkeit der Ukraine an! Hier zeigt sich auch, was Brodsky und Putin gemeinsam haben: die Sicht auf den Stellenwert der Sprache und ihre Funktion für die Bildung und den Zusammenhalt einer Nation.

II.

Sprache ist nicht nur ein Mittel der Kommunikation. Sprache ist die Stimme eines Volkes, ein Unterscheidungsmerkmal nach außen und ein Bindeglied nach innen. Der Sprache kam die entscheidende Bedeutung in Putins Rechtfertigung seiner imperialistischen Politik zu. Bereits im Juni 2014 sagte er bei seinem Auftritt in Wien: „Wir werden immer ethnische Russen in der Ukraine und jenen Teil des ukrainischen Volkes verteidigen, die nicht nur ihre ethnische, sondern auch kulturelle und sprachliche Bindung mit Russland fühlen, die sich als Teil der breiten russischen Welt empfinden. […]“. Am Vortag des Überfalls auf die Ukraine beteuerte er: „Die Frage ist, die Rechte und Interessen der Russen und russischsprachiger Bürger im Süd-Osten der Ukraine zu sichern. Das ist Novorossija.“

Nach einer langen Zeit der Russifizierung, die in den 1930er Jahren begann, verlor die russische Sprache mit dem Zerfall der Sowjetunion den Status einer überethnischen Sprache. Es gab 36 Millionen Sprecher der russischen Sprache außerhalb Russlands, von denen 25 Millionen ethnische Russen waren. Diese Statistik ist das Ergebnis der Russifizierung, die aus drei zentralen Faktoren bestand, die in der Ukraine besonders deutlich zur Geltung kamen:

1. Der Genozid am ukrainischen Volk durch die im Zuge der Kollektivierung herbeigeführte Hungersnot 1932-1933. Nach Berechnungen ukrainischer Demografen betrug die Opferzahl ca. 4,5 Millionen Menschen, bestehend aus 3,9 Millionen direkten Opfern und 0,6 Millionen Geburtenverlusten.[4] 40-44% der Gesamtopferzahl der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg waren Ukrainer! Zur physischen Vernichtung der Ukrainer zählten auch langjährige, massenhafte Inhaftierungen in Straf- und Arbeitslagern, Verschickungen und Deportationen.

2. Diese Jahrzehnte lang andauernde physische Vernichtung des ukrainischen Volkes wurde flankiert von der Um- und Ansiedlung ethnischer Russen in den leergefegten Regionen sowie in den späteren Zentren der Industrialisierung im Donbass. Dies führte zur Veränderung der Bevölkerungsstruktur insbesondere im Osten und Norden der Ukraine.

3. Die nationale, kulturelle und sprachliche Vielfalt sowjetischer Republiken wurde im Laufe der Zeit durch die Vorherrschaft der russischen Sprache und Kultur verdrängt, auch wenn offiziell weiterhin nationale Folklore gepflegt wurde – als Alibi für die Öffentlichkeit. Die Aufgabe der Russifizierung und Ideologisierung oblag dem Bildungssystem. Am 13. März 1938 wurde die Resolution verabschiedet, die Russisch als Pflichtfach ab dem zweiten Unterrichtsjahr in den Schulen der nationalen Republiken und Regionen vorschrieb. Nationalsprachen wurden marginalisiert, sie galten als rückständig, minderwertig und defizitär, während Russisch mit jedem Jahr an Ansehen und Prestige gewann.

Die Russifizierung der ukrainischen Sprache beinhaltete das Aufzwingen und die Implementierung der unnatürlichen und atypischen lexikalischen, semantischen und syntaktischen Elemente, der Calque des Russischen, die Reduzierung synonymischer Reihen, phonetische Angleichung durch die Streichung einiger Laute, lexikalische ‚Säuberungen‘ – mindestens 13.000 ukrainische Lexeme, die für das russische Ohr zu fremd klangen, wurden ‚beschlagnahmt‘ und aus den Wörterbüchern gestrichen.

Diese Methoden bewirkten einen hohen Grad der Russifizierung der ethnischen nichtrussischen Bevölkerung. Die Regierungsetage der implodierenden Sowjetunion scheint sich dieser Tatsache sowie ihrer historischen Tragweite bewusst gewesen zu sein. Deshalb führte der letzte Außenminister der Sowjetunion, Andrej Kozyrjev, den Begriff „russischsprachige Bevölkerung“ ein. Die Etablierung dieser Kategorie wurde nach dem Zerfall der Sowjetunion zur Legitimierung der hegemonialen Interessen Russlands in ehemaligen sowjetischen Republiken benutzt: in Armenien, Georgien, Bergkarabach, Tschetschenien, Weißrussland, Kasachstan und in der Ukraine. Seit neun Jahren ‚verteidigt‘ Putin russischsprachige Ukrainer, die „kulturelle und sprachliche Bindung mit Russland fühlen“, indem er zuerst die Krim annektierte und dann sein Novorossija-Projekt (inspiriert nicht zuletzt von Solschenizyn!) durch die Abspaltung des Luhanska- und Donezka-Gebiets forcierte. Und das alles mit großer Zustimmung – und im Fall der Krim-Annexion frenetischer Begeisterung – der Russen. Die wenigen Kritiker dieser Politik – Walerija Nowodworskaja (2014) und Boris Nemzow (2015) – mussten sterben.

Für die Haltung der Russen gibt es mindestens zwei Gründe: 1. Die Glorifizierung der Sowjetunion und 2. das Großmachtdenken. Während der Zerfall der Sowjetunion für die meisten ehemaligen Sowjetrepubliken die Erlangung der Unabhängigkeit und die Besinnung auf ihre historische und kulturelle Identität bedeutete, stand Russland als Verlierer da: Verlust von Territorien, Macht, Einfluss und schließlich der Ideologie. Die Sehnsucht nach der Sowjetzeit gedieh, weil die Gräueltaten, die die Installierung und Aufrechterhaltung der Sowjetmacht begleiteten, nie aufgearbeitet wurden, geschweige denn verurteilt und bestraft.

III.

Als intratextuelle Verweise fungieren im Gedicht Auf die Unabhängigkeit der Ukraine das Motiv der vergangenen Liebe und der Ruine[n]. Der Ausruf „Не поминайте лихом!“ („Lebt wohl“) sowie die Erwähnung von Borschtsch („а курицу из борща грызть в одиночку слаще“) kann man als Allusion auf Nikolai Gogols erstes Buch Вечера на хуторе близ Диканьки (dt. Abende auf dem Weiler bei Dikanka) deuten, das in zwei Teilen 1831 und 1832 erschien und die magische Welt der ukrainischen Folklore präsentiert.

Als unmarkiertes Zitat kann auch das Wort „вертухаи“ in der letzten Strophe interpretiert werden. Es handelt sich um einen Begriff der russischen Gefangenensprache, der im Roman В круге первом (dt. Im ersten Kreis) von Alexander Solschenizyn benutzt wird. Vermutlich kannte Brodsky auch das 1990 erschienene Buch Как нам обустроить Россию (dt. Wie sollen wir Russland gestalten), wo Solschenizyn im „Wort an die Ukrainer und Weißrussen“ die Einheit mit Russland predigt. Nach seiner Rückkehr 1994 wurde der frühere Dissident öfter der Gast bei Putin und genoss großes Ansehen im Kreml.

Der „Alexander“ in der letzten Strophe von Brodsky ist allerdings nicht auf Solschenizyn zu beziehen, sondern meint Alexander Puschkin. Brodsky scheint an das Gedicht Я памятник себе воздвиг нерукотворный seines russischen Lieblingsdichters anzuknüpfen. Darin prophezeit Puschkin, wie er nach seinem Tod von allen verehrt wird:

Слух обо мне пройдет по всей Руси великой,
И назовет меня всяк сущий в ней язык,
И гордый внук славян, и финн, и ныне дикой
Тунгус, и друг степей калмык.

Mein Ruhm geht durch das ganze große Russland,
Und in jeder Sprache, die darin ist, wird man mich nennen,
Der stolze Enkel der Slawen und der Finnen und heute der wilde
Tunguse und ein kalmückischer Steppenfreund.

Wäre Puschkin enttäuscht, dass man heute über ihn auf Kalmückisch oder in einem der Dialekte der Tungusen nicht sprechen kann? Natürlich hat das nichts mit seinem Ruhm zu tun, lediglich damit, dass die meisten Dialekte der im russischen Sibirien ansässigen tungusischen Völker – wie auch sie selbst – nicht mehr existieren. Und Kalmücken können kaum noch ihre Muttersprache, sie wurden erfolgreich russifiziert. Puschkins Namen kennt man aber in jeder Ecke der ehemaligen Sowjetunion, seine Märchen rezitierte man den Kleinkindern, seine Gedichte musste man bereits in der Grundschule auswendig lernen. Ich würde behaupten, Puschkin war der bekannteste und beliebteste russische Dichter in der ehemaligen Sowjetunion noch lange nach ihrem Zerfall. Dabei störte man sich nicht daran, dass der „Enkel der Slawen“ als stolzer besungen wird, und der Tunguse als wilder.

In der vierten Strophe schreibt Puschkin, dass er die Freiheit besungen hatte. Zu seinen Lebzeiten eroberte und annektierte Russland Georgien, Armenien, Aserbaidschan, viele Kaukasus-Völker sowie Finnland und Bessarabien. Den Kaukasus-Krieg thematisiert Puschkin in seinem Poem Der Gefangene im Kaukasus (Кавказский пленник). Im Epilog lesen wir folgende Zeilen in der Erstübersetzung (1823) von Alexander von Wulffert:

O Kotlerewsky! Gleich Gewittern,
Kamst du und schlugst; dein Säbel frass
Geschlechter: Ahn‘ und Enkel zittern
Vor dir, wie vor dem Seuchentod…

[…]

Dein Schneehaupt neig‘ und bleib uns treu,
Kaukas! Jermolow kommt geschritten!

Es schweigt die Schlacht. Der Russe zwang
Das Raubgebiet, mit seinem Schwerte.[5] 

О Котляревский, бич Кавказа!
Куда ни мчался ты грозой —
Твой ход, как черная зараза,
Губил, ничтожил племена…

[…]

Поникни снежною главой,
Смирись, Кавказ: идет Ермолов!

И смолкнул ярый крик войны:
Всё русскому мечу подвластно.

In der Erzählung Капитанская дочка (Die Hauptmannstochter) wird die Bekämpfung der Kirgisen und Baschkiren und der Anschluss des an Bodenschätzen reichen Orenburg erwähnt. Wie selbstverständlich berichtet Puschkin im Märchen von Zarentochter und sieben Recken (Сказка о мёртвой царевне и о семи богатырях) vom allmorgendlichen Zeitvertreib der sieben Brüder-Recken: 

Иль башку с широких плеч
У татарина отсечь,
Или вытравить из леса
Пятигорского черкеса.

Entweder den Schädel auf der breiten Schulter
dem Tataren abzuschlachten, 
Oder aus dem Wald vertreiben
den Tscherkessen aus Pjatigorsk

Ja, Tataren und Tscherkessen waren einheimische Völker im Nordkaukasus…

Auch im Poem Медный всадник (Der Kupferrreiter, 1833) verherrlicht der zum Pantheon der Weltliteratur gezählte Puschkin die Eroberungspolitik von Peter dem Großen. Der große Aufklärer und Erneuerer seines Landes, der das Fenster zum Westen aufstieß, – so  die tradierte Vorstellung von diesem Zaren – besetzte Gebiete „wo früher der finnische Fischer, / der Stiefsohn der düsteren Landschaft“ (Где прежде финский рыболов, / Печальный пасынок природы), d.h. verschiedene finno-ugrische Völker, zu Hause waren:

Отсель грозить мы будем шведу,
Здесь будет город заложен
На зло надменному соседу.
Природой здесь нам суждено
В Европу прорубить окно,
Ногою твердой стать при море.

Von hier bedrohen wir die Schweden,
hier gründen wir die Stadt
Zum Ärger des arroganten Nachbarn.
Das Schicksal schickt uns diese Landschaft,
das Fenster zu Europa zu schlagen
Mit festem Fuß stehen wir am Meer.

So besingt Puschkin die Eroberungen des aufstrebenden Peters des Großen und die Gründung von St. Petersburg 1703, der Heimatstadt von Joseph Brodsky. Vermutlich auf die Gründungsgeschichte seiner Geburtsstadt beziehen sich wiederum die letzten Zeilen im Gedicht Auf die Unabhängigkeit der Ukraine:

будете вы хрипеть, царапая край матраса,
строчки из Александра, а не брехню Тараса.    

ihr werdet röcheln, am Matratzenrand kratzend,
Zeilen aus Alexander und nicht die Lüge von Taras.

IV.

Taras Shevchenko (1814-1861) ist der bekannteste ukrainische Dichter, Schriftsteller, Maler und Kämpfer für die Unabhängigkeit der Ukraine. Seine Bedeutung für die Erneuerung der ukrainischen Sprache und Literatur kann nicht überschätzt werden. In seinen Werken prangerte er die russischen Eroberungen der Ukraine, die Verbote der ukrainischen Sprachen und die Vernichtung der ukrainischen Kosaken, wie etwa beim Bau von St. Petersburg im Poem Cон (dt. Der Traum):

О, царю поганий,
Царю проклятий, лукавий,
Аспиде неситий!
Що ти зробив з козаками-
Болота засипав
Благородними костями;
Поставив столицю
На їх трупах катованих!

Oh, du böser Zar
verfluchter, dämonischer Zar,
Drache unersättlicher!
Was hast du mit den Kosaken gemacht –
mit ihnen die Sümpfe getrocknet
auf ihren edlen Knochen
auf ihren gefolterten Leichen
deine Hauptstadt gebaut!

Als „Lüge“ verunglimpft Brodsky die Dichtung von Taras Schevchenko. Damit steht er in der Jahrhunderte langen Tradition der russischen Zaren und Zarinnen, Kommunisten, NKWDisten und KGBler. Ukrainische Literatur wurde nicht nur verunglimpft und verboten, ukrainische Dichterinnen und Dichter, Künstler und Musiker wurden ermordet und die Erinnerung an sie vernichtet. Warum wurden Hnat Chotkewytsch, Les Kurbas, Mykola Kulisch, Mykola Zerov, Mykola Leontowytsch, Walerjan Pidmohylnyj, Marko Woronyj, Myroslaw Irtschan, Jewhen Pluschnyk, Hryhorij Kossynka, Mykola Serow und viele andere erschossen? Wer brachte Mykola Chwyljowyj und Mykola Skrypnyk zum Suizid? Warum wurde Serhij Paradshanow nach der Premiere seines Films Schatten der vergessenen Ahnen verhaftet? Wer verbrannte alle Partituren von Wassyl Barwinskyj? Was machte man mit Oleksandr Dowschenko und Wolodymyr Sossjura? Wie oft wurden Wassyl Stus und Jewhen Swerstiuk verhaftet und in die Arbeitslager verschickt? Diese Liste kann seitenweise fortgeführt werden…

Eine der ersten russischen Raketen im Februar 2022 schlug in Oleksandr Koschyz-Straße in Kyjiv ein. Koschyz war Dirigent des ukrainischen Chors, der 1919 mit Gastspielen durch mehrere europäische Länder tourte und 1922 die USA erreichte. Dort wurde das ukrainische Volkslied Schtschedryk in Bearbeitung von Mykola Leontowytsch als Carol of the Bells in der ganzen Welt bekannt.

Anfang März 2022 trafen russische Raketen auch das Haus „Слово“, (Slowo-Gebäude), ein kulturhistorisches Denkmal und Literaturmuseum in Charkiw. Dieses Gebäude wurde Ende der 1920er Jahre für ukrainische Schriftsteller und Künstler erbaut, von denen die meisten Josef Stalin zum Opfer fielen. Nun wollte man auch das Andenken an sie vernichten.

Am 10. September 2022 befreiten ukrainische Truppen die von Russen besetzte Stadt Balakliia im Gebiet Charkivska. Als Soldaten von einem Bigbord die Banner mit russischer Trikolore herunterrissen, waren darunter das Portrait von Taras Schevchenko und die Zeilen aus seinem Poem Kaukasus zu sehen: „Борітеся – поборете“ (Kämpft und ihr werdet siegen). 

 

[1] Hans Christoph Buch: Ein hässlicher Fleck auf der sonst weissen politischen Weste – wie Joseph Brodsky dazu kam, in einem Gedicht die Ukraine zu schmähen. NZZ, 31.05.2022 https://www.nzz.ch/feuilleton/joseph-brodsky-und-das-haesslichste-gedicht-ueber-die-ukraine-ld.1682628

[2] Илья Клишин: Поэт и хулиган. Как «патриоты» пытаются выдать Бродского за своего из-за стихотворения «На независимость Украины», THE INSIDER РАССЛЕДОВАНИЯ РЕПОРТАЖИ АНАЛИТИКА, https://theins.ru/opinions/ilya-klishin/253489

[3] Иосиф Бродский — На независимость Украины, https://rustih.ru/iosif-brodskij-na-nezavisimost-ukrainy/ Wenn nicht anders angegeben, sind alle hier zitierten Gedichte aus dem Russischen und Ukrainischen von mir möglichst textnah übersetzt.

[4] Omelian Rudnytskyi, Nataliia Levchuk, Oleh Wolowyna, Pavlo Shevchuk, Alla Kovbasiuk: Demography of a Man-Made Human Catastrophe: The Case of Massive Famine in Ukraine 1932–1933. In: Canadian Studies in Population 42.1-2 (2015), S. 53-80.

[5] Alexander Puschkin: Der Berggefangene. Aus dem Russischen übersetzt. (Zweisprachige Ausgabe) St. Petersburg 1824, S. 63 https://archive.org/details/derberggefangene00push/page/n7/mode/2up?view=theater