Gottfried Benn, mal eben aufgewärmt

Der von Wolfgang H. Zangemeister und Jürgen Zippel herausgegebene Band „Gottfried Benn. Hommage und Retrospektive“ fragt nach der Bedeutung Benns, gibt aber nur bekannte Antworten. Reicht das?

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Haben wir Gottfried Benn und seine Dichtung möglicherweise schon ad acta gelegt, dass uns dazu nichts mehr einfällt? Ist er aus der Zeit gefallen und zum Recycling-Fall für den akademischen Betrieb geworden? Warum nicht das Wagnis einer Neuentdeckung und ihn noch einmal lesen, weil wir etwas übersehen haben könnten? Oder weil sich unser Blick verändert hat? Weil wir in Zeiten von Identitätspolitik einerseits und der Fluidität von Identitäten auf der anderen Seite, möglicherweise andere Zusammenhänge erkennen, wo immer es bei ihm um Doppelleben und Ambivalenzen geht?

Mit Blick auf den hier zu besprechenden Band bleibt festzustellen, dass wir auf den Fragen sitzenbleiben, denn was da „Hommage und Retrospektive“ im Untertitel heißt, ist nichts weiter als der unveränderte Nachdruck zweier Publikationen aus den Jahren 1986 (anlässlich von Benns 100. Geburtstag) und 1996, der Antworten zur Anschlussfähigkeit ins Heute verweigert. Warum also ein Nachdruck? Dann bitte gleich eine Rezeptionsgeschichte, die sicherlich verdienstvoll, weil aufschlussreich wäre, wie und warum wir etwas rezipieren.

Was haben Wolfgang Zangemeister und Jürgen Zippel in ihrem aktuellen Vorwort vom März 2022 darüber mitzuteilen?  Man habe sich gefragt, welche Bedeutung Benns Dichtung „nach den Umwälzungen der vergangenen drei Jahrzehnte“ heute noch habe. Immerhin war das angeblich eine Überlegung, aber eine direkte Antwort könne der Band nicht geben (wie auch?), jedoch aufzeigen, „an welchen Stellen die Essenz und die Bruchlinien des Benn’schen Werkes, eben seine Ambivalenz, mit der heutigen Wirklichkeit korrespondieren – und wo nicht“. Was wohl nichts anderes heißt, als dass die Leser*innen sich selbst einen Reim darauf machen sollen. Dabei haben die Herausgeber durchaus eine „neue und junge Leserschaft“ im Blick, aber der würde ich das Original zur Lektüre empfehlen und nicht das Remake von Ansichten, die von Fall zu Fall schon ein wenig stockfleckig wirken.

Wie nun steht es um die versprochenen Essenzen und Bruchlinien? Zunächst einmal fallen die thematischen Dopplungen auf, die es damals im Abstand von zehn Jahren wohl nicht taten –  beispielsweise beim Stichwort „Doppelleben“ oder den vielbeschworenen „Ambivalenzen“ im Denken Benns und dem Thema „Rausch/Ekstase“ in Verbindung mit „Ich-Verlust“ und „Burnout-Syndrom“, dem damals psychoanalytisch nachgespürt wurde mit der Zweifelhaftigkeit aller Ferndiagnosen und ihrem Glauben, einen ganzen Menschen mit ein paar Aussagen und biografischen Details erklären zu können.

Breiten Raum nehmen die Erörterungen über das Verhältnis von Arzt und Dichter in der Person Benns und auch sein kritisches Verhältnis zu den Naturwissenschaften ein. Wahrscheinlich wurden solche parallelen Beschäftigungen schon immer überbewertet. Denn was würde uns die Tatsache, dass beispielsweise der italienische Schriftsteller Carlo Emilio Gadda von Beruf Ingenieur war über sein Werk verraten? Oder wie sollen wir die Musik des US-Amerikaners Charles Ives hören, der als Versicherungsexperte arbeitete? Hatten diese beruflichen Umstände tatsächlich Einfluss auf das Schreiben und Komponieren? Oder waren sie nicht einfach nur hinderlich, aber als Broterwerb notwendig? Mir sieht das verdächtig nach Biographismus aus, der gern zu Kurzschlüssen neigt.

Ästhetische Entscheidungen haben da ihr eigenes Gewicht und sind eher nicht kompatibel mit dem Lebensfahrplan. Eines freilich boten sie für Benn auf jeden Fall, nämlich eine gewisse Unabhängigkeit in der künstlerischen Arbeit, sozusagen die innere Freiheit. Das wird sicherlich ein Motiv gewesen sein und ermöglichte in seinem Fall sogar noch ein politisches Rückzugsgebiet in den soliden Beruf, nachdem er sich 1933 den Nazis andiente, um schon bald den scharfen und gefährlichen Gegenwind zu spüren.

Peter Rühmkorf beschäftigte sich in seinem Beitrag von 1996 mit der politischen Biographie Benns, wobei dem Dichter durch das kurze Intermezzo mit dem NS-Regime in der Nachkriegszeit zwar ein gewisser Makel anhing, der aber durch ein unantastbares Werk schon bald weggewischt war. Rühmkorf nannte Benn „eine Art Zwitter aus gefallenem Engel und aufsteigendem Stern“:

Er kam von der nächtlichen Seite Nietzsches her, seiner erdabgewandten, und er verband einen ungeheuren Riecher für Finalstimmungen mit einem stupenden Zug zum Antibourgeoisen, ästhetisch Imperialen, der kam uns in jedem Fall entgegen […].

Wären es heute wieder Finalstimmungen, die uns in Zeiten von Krieg und Klimawandel „entgegenkommen“?

Zu erinnern wäre, dass Carl Zuckmayer in seinen für den US-amerikanischen Geheimdienst verfassten Charakterporträts dem Kollegen Gottfried Benn immerhin bescheinigte, er sei weder aus Opportunismus noch aus Spekulation zu den Nazis übergegangen, sondern aus „Unbehagen an der Kultur“, „geistiger Verzweiflung“ und „weltanschaulicher Verworfenheit, die an Wahnsinnsgrenzen trieb“. Nachzulesen in dem Buch „Geheimreport“, wo Zuckmayer zu dem recht hellsichtigen Resümee gelangt: „Als Mensch und als Autor mag er heute in einem Zustand der Vereinzelung und Vereinsamung leben, den auch kommende Wandlungen nicht mehr verändern dürften.“

Ja, Distanz, die „kalte persona“ als Maske pflegte er bis zum Schluss, obschon ihm Gefühllosigkeit nicht vorzuwerfen ist. Im Gegenteil, nur verkleidete sich bei ihm das Gefühl stets in Haltung. Bei all dem spielte das Talent fürs Paradoxe mit hinein – sich einerseits „Gegner der Realität“ zu nennen und andererseits das Bekenntnis, „Demut nur vor einem Teller Brühe und Ehrfurcht vor einem Dollarschein“ zu empfinden – mehr Realitätssinn geht wohl nicht bei aller sonstigen „Realitätszertrümmerung“. Illusionslosigkeit lag ihm allemal mehr: „Ach diese ewige Entwicklung, welch‘ eine kommerzielle Kontinuität.“

Besondere Erwähnung verdienen die Beiträge von Helmut Lethen und Klaus Theweleit. Unter dem Titel „Drei Männer im Schutt“ ging Lethen den Nachkriegsbiographien von Carl Schmitt, Ernst Jünger und Gottfried Benn und ihren mehr oder weniger offen rivalisierenden Beziehungen nach. Schmitt figuriert darin als der eifersüchtige Beobachter, der „zutiefst gekränkte Mann“, gefangen in Plettenberg, in der sauerländischen Provinz, der anders als die beiden Kontrahenten in der Bundesrepublik keinen Fuß mehr auf den Boden bekam, zwar als graue Eminenz ein weitverzweigtes Netzwerk unterhielt, aber akademisch isoliert blieb. Schmitt beschreibt Benn 1951 als „Selbsttätowierer“: „Er tätowiert nihilistische Schauerlichkeiten auf seine brave pietistische Haut, so macht er sich unkenntlich.“ Was nichts anderes ausdrückt, als dass Benn der Verräter sei, der sich den Siegern andiene. Lethen ging dem Thema dieser seltsamen biographischen Verstrickungen 2006 noch einmal ausführlich in einer umfangreichen Studie nach mit dem Titel „Der Sound der Väter“.

Theweleit überschrieb seinen Beitrag mit „Kunst, Autobiographie des Körpers: ‚Artographie‘“ – eine recht rhapsodisch anmutende, wilde Reflexion über artistische Körper, Ich-Verluste, Trance-Zustände, Fallhöhen künstlerischer Erkenntnis und dergleichen Ausnahmezustände mehr:

„Die Körper sind getragen von der Gewißheit, losgelöst, zwanghaft schöpferische Einzelne in selbsterzeugten Staaten zu versammeln, deren (Zwangs-) Arbeit darin besteht, die sowohl nichtige wie lastende ‚Welt‘ aus Dornröschenschläfen oder bürgerlicher Geschäftigkeit zu erlösen, ihr eine Wirklichkeit zu verleihen, sie überhaupt erst zu erschaffen in wirklichem artistischem Gepräge.“

Und Theweleit findet auch sogleich den poetischen Nachfahren Benns, den „Rausch-Verwandten“ und „Bruder im Körper“, nämlich Rolf Dieter Brinkmann, den er mit zwei Zeilen als Beleg zitiert: „& so’ne Wirklichkeit eiert immer / dieselben Nervenbahnen“. Ja, da steckt Benn-Sound darin. Theweleit hält nichts von der Idee, Drogen und Rausch, mit denen Benn Erfahrung hatte, stünden für Ausbruchsversuche aus der Realität. Das Gegenteil sei zutreffend, Benn habe in die Wirklichkeit einbrechen wollen. Denn mit dem „Ausgebranntsein“ beginne jedes Mal das Wörterfinden. Im Übrigen beschreibe das Wort „Asozialität“ exakt den künstlerischen Schaffenszustand. Erst die „Produkte des Artisten“ werden „sozial“ „im Zusammentreffen und im Verschmelzen mit den Sinnen von Lesern. Hörern und Schauenden, die sich, das ist ihre Trance (sozialdemokratisch: Rezeption), von ihnen berühren lassen, sich ihnen anverwandeln“.

Die Tagung von 1996 wurde mit einer Diskussion beendet, bei der Lethen Gelegenheit fand, einen seiner „Lieblingssätze“ von Benn zu zitieren, nämlich diesen: „Der Mensch steht ganz woanders als seine Syntax, er ist ihr weit voraus.“ Lethens Kommentar, bei dem allerdings ungesagt bleibt, dass der Künstler den Menschen am Ende doch einholt, denn wozu hätte Benn sonst dichten sollen:

Er drückt eine Erfahrung aus, die viele von uns täglich machen: daß wir mit unserer Sprache nicht in der Lage sind, auszudrücken, was wir doch sicher zu erleben glauben: weder auf der persönlichen Ebene, noch im allgemeinen, politischen. Wir verwenden Normwahrnehmungen der Welt, bringen sie in vorgeformte Gymnasial- oder sonstige Schulsätze, die mehr uns reden als wir sie. Die Grammatik ersetzt unser Ich.

Ich bleibe dabei, anstatt Reprints vorwiegend abgestandener Ansichten zu lesen und Interpretationen zu interpretieren, sollten wir uns lieber auf den Weg zum Original machen. Es wäre eine Neuentdeckung wert.

Titelbild

Wolfgang H. Zangemeister / Jürgen Zippel: Gottfried Benn. Hommage und Retrospektive.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2022.
284 Seiten , 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783826075803

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