Integration jenseits von Werken und Nationalsprachen

Natalie Chamats Wildwuchsbuch zu Walter Benjamins „Aufgabe des Übersetzers“ macht Hoffnung

Von Christophe FrickerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christophe Fricker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Walter Benjamins Die Aufgabe des Übersetzers ist einer der komplexesten und sowohl in seiner Sicht auf das Übersetzen als auch in seiner Wirkung auf übersetzungstheoretische Diskussionen wirklich außerordentlichen Texte. Soll man damit anfangen, wenn man sich vorher kaum mit dem Übersetzen beschäftigt hat? Auf jeden Fall, denn man wird nie damit fertig werden. Ich habe ihn einmal im Rahmen eines Sommerschulkurses mit Jugendlichen diskutiert, deren Verständnis von Sprache, Mehrsprachigkeit, literarischen Werken und Traditionen nachher wunderbar erschüttert war. Worum geht es?

Natalie Chamat zufolge bestimmt Benjamin das Übersetzen als „Entfaltung des Originals“, dessen Ziel es ist, „die apriorische Verwandtschaft der Sprachen […] als gedachtes Verhältnis einer Konvergenz“ darzustellen. Die „unterschiedlichen Sprachen“ sollen letztlich „in ein indifferentes Übersetzungskontinuum“ integriert werden. Das Übersetzen setzt also das „Nachleben“ großer Originaltexte ins Werk, aber nicht um dieser selbst willen und schon gar nicht um derer willen, die diese Texte geschrieben haben oder lesen sollen, sondern um durch das Übersetzen ein „Verwandtschaftsvertrauen“ zum Ausdruck zu bringen, das eine „integrierende Sphäre über den Nationalsprachen“ schaffen kann. Im Fokus des Übersetzens steht also für Benjamin nicht das Werk, sondern Sprache, und dabei nicht deren „informationsorientierte[ ] Mitteilungsfunktion“, sondern das, was sich dem Codieren, dem Tagging, der Einordnung in das Ohnehin-schon-Gewusste verweigert. Benjamins Sprachverständnis ist anti-instrumentell, seine Herangehensweise an das Übersetzen messianisch, aber, wie Chamat herausarbeitet, nicht asozial. Chamat argumentiert, dass Herder als Bezugspunkt für Benjamin bisher unterschätzt wurde, und identifiziert in Herders „Bestätigung einer immer schon sozialen Seite einer nicht instrumentellen Sprache“ einen für Benjamin wichtigen, produktiven Ansatz. Das ist eine bemerkenswerte Erkenntnis, nicht nur für Benjamins Theorie, sondern auch für Baudelaire und andere symbolistische Lyriker, in Auseinandersetzung mit denen Benjamin seine Theorie entwickelt hat.

Das vorliegende Buch leistet noch in mehreren anderen Bereichen wichtige Beiträge zum Verständnis des Benjamin̛schen Aufsatzes: Chamat zeigt mit beeindruckender Konsequenz, dass Benjamins Utopie einer ‚übersetzten‘ Sprachkonvergenz zwar in einer gewissen Weise die postbabylonische Sprachverwirrung aufhebt, dass diese Utopie aber nicht in erster Linie die Überwindung von Schuld und Strafe bedeutet, sondern als außerzeitliche Vision in einer Ursprünglichkeit gründet, die über solche Kontroversen erhaben ist. (In je eigener Weise haben Günter Figal und Nicholas Lash sich mit diesem Thema beschäftigt und könnten als vielleicht unerwartete Referenzen herangezogen werden.)

Weitere Schwerpunkte von Chamats Buch sind Trauer und Melancholie als Empfindungen, die das Übersetzen auf eine „reine Sprache“ hin anstacheln, und die – frühneuzeitliche, barocke, moderne – Legitimationskrise von Herrschaft, Autorität und Autorschaft, die überkommene Gehalte und Symbole fraglich werden lässt und dadurch ebenfalls zur übersetzerischen Triebfeder wird.

Ich habe bisher vorsichtig von Chamats ‚Buch‘ gesprochen und will das nun doch etwas genauer fassen. Der Titel, Florilegium Benjamini, ist zugleich Gattungsangabe. Das Buch ist wissenschaftlich fundiert, es geht auf die Dissertation der Autorin zurück. Es ist aber als wuchernder und in seinen Entwicklungsrichtungen – trotz eines anfänglichen „Ausblicks“ und einer inhaltliche Schwerpunkte andeutenden Zusammenfassung – nur schwer vorhersehbarer Essay angelegt. Chamats Herangehensweise ist programmatisch unsystematisch. Dafür muss man beim Lesen offen sein; man wird belohnt. Eines ihrer Hauptanliegen ist es, Benjamins Übersetzertext in Benjamins eigenem Werk und in weiten ideengeschichtlichen Bezügen zu verorten. Der Sprung in diese Kontexte wirkt oft unvermittelt; deren Erkundung dann umso sorgfältiger. Chamat untersucht zum Beispiel beeindruckend luzide, inwiefern Benjamins Sprachextremismus und Carl Schmitts ‚Ausnahmezustand‘ miteinander zu tun haben, und sie verwahrt Benjamin höflich, aber bestimmt gegen Inanspruchnahmen von Derrida und George Steiner. Die entsprechenden Passagen sind im allerbesten Sinne spannend.

Die gleich auf der ersten Seite des Buchs aufgeworfene Frage, die auch Benjamins Frage ist, kommt dann umso dringender in den Blick: Was ist Übersetzbarkeit? Inwiefern ist das Übersetzen, das, um es einmal etwas polemisch zu formulieren, Ermeinen einer intentionslosen Sprachkonvergenz, in manchen Werken schon angelegt? Inwiefern steht das Übersetzen damit paradigmatisch für Geschichte überhaupt bzw. inwiefern müsste sich die Geschichtsphilosophe, wenn sie sich ihrer selbst versichern will, mit dem Übersetzen befassen? Zu hoffen ist, dass diese von Natalie Chamat aufgeworfenen Fragen zu neuen – konvergierenden? – Gesprächen verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen, nicht zuletzt der manchmal erstaunlich isolierten Übersetzungswissenschaft, Anlass geben.

Titelbild

Natalie Chamat: Florilegium Benjamini. Walter Benjamin und das Schriftgedächtnis in der Übersetzung.
Wallstein Verlag, Göttingen 2022.
267 Seiten , 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783835352087

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch