Das Schweigen der Wälder

In Vera Bucks Thrillerdebüt „Wolfskinder“ stellt sich eine junge Journalistin ihrer Vergangenheit und entdeckt das Geheimnis einer sich gegen die Welt abschottenden Siedlung

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jakobsleiter heißt der kleine, nahezu unzugängliche Ort hoch in den Bergen. Hier sollen Nachkommen jener Alttäufer wohnen, die  einst nur überlebten, weil sie „Verfolgungen, Zwangskonvertierungen, Plünderungen und Deportationen“ auswichen, indem sie sich in ein weitläufiges Höhlensystem zurückzogen und jeglichen Kontakt mit der Zivilisation vermieden.

Auch die „letzte überlebende Kommune von Alttäufern, die es in Europa noch gibt“, versucht, dem Leben in den Städten und Dörfern fernzubleiben. Gegen Besuche aus den 750 Meter tiefer gelegenen Siedlungen versucht man sich so gut wie möglich abzuschirmen, indem man Schilder aufgestellt hat, die vor dem Betreten des Berges warnen. Möglicher Steinschlag, frei laufende Stiere, Lawinen und Wölfe sollen Wanderer und Neugierige auf Distanz halten. Und als man trotz heftiger Ablehnung des Projekts einen Antennenmast direkt neben seine kleine Kapelle stellt, lässt der gegen alles Moderne sich ereifernde, zynische Priester Isaiah nichts unversucht, die ihm anvertrauten Schäfchen gegen diesen Einbruch des Heute ins Gestern aufzuhetzen.

Doch weil die zwei jüngsten Siedlungsbewohner – der siebzehnjährige Jesse und die 16 Jahre alte Rebekka –in die Schule der am Fuße des Berges gelegenen Gemeinde Almenen gehen, lässt sich der Einbruch der Gegenwart in das an jahrhundertealten Traditionen sich orientierende Leben in Jakobsleiter nicht für immer verhindern. Zumal Jesse mit überdurchschnittlichen Leistungen glänzt und Rebekka schon bald viel mehr Gefallen am Leben unter den Menschen im Tal findet als in der Abgeschiedenheit und Ödnis der Bergsiedlung.

Daher ist es eigentlich kein Wunder, dass das Mädchen eines Tages plötzlich verschwunden ist. Einer der beiden Arbeiter, die die Antenne in Jakobsleiter montiert haben, soll sie zu sich gelockt haben, glaubt Jesse zu wissen. Allein Rebekka ist nicht die einzige junge Frau, die in den vergangenen Jahren in der Gegend spurlos verlorenging. Auch eine junge Journalistin ist an den Ort zurückgekehrt, an dem ihre Freundin vor zehn Jahren bei einem Camping-Ausflug verschwand, um die traumatischen Folgen jenes Ereignisses, unter denen sie seither leidet, zu verarbeiten. Und bald kursieren Gerüchte, die die Bewohner der Gegend misstrauisch gegen die verschlossenen Männer von Jakobsleiter werden lassen.

Vera Buck, die heute als freie Autorin in Zürich lebt, hat bereits während ihres Studiums von Journalistik, Europäischer Literaturwissenschaft und Drehbuch, welches sie bis nach Hawaii führte, Texte für Radio und Fernsehen, später Kurzgeschichten für Anthologien und Literaturzeitschriften geschrieben. 2012 schaffte sie es bis ins Finale des 20. Open Mike in Berlin. Wolfskinder ist ihr vierter Roman und zugleich das Thrillerdebüt der Autorin. Auch in ihm schlägt wie bereits in den vorangegangenen Büchern der Autorin ihr Interesse für die Geschichte zu Buche, wenn auch nicht so dominant wie etwa in ihrem für den Friedrich-Glauser-Preis 2016 nominierten Romanerstling Runa (2015).

Die Geschichte der letzten europäischen Alttäufer-Kommune hoch in den Alpen hat freilich einen Haken: Sie wurde vom Vater des Bürgermeisters von Almenen erfunden, um Straftätern ihre Wiedereingliederung in eine Gesellschaft zu ermöglichen, die generell und zumal auf dem Lande geneigt ist, Gesetzesbrecher für immer zu stigmatisieren und ins Abseits zu drängen. In Jakobsleiter sollten diese Männer ein Zuhause finden und einen Neuanfang versuchen. Damit dies funktionieren konnte, wurde die wahre Herkunft der Bewohner der Siedlung verschwiegen und die Abgeschiedenheit des Orts mit einer religiösen Legende erklärt.

Als die junge Journalistin Smilla Arnold, die in der Nachrichtenredaktion eines regionalen Fernsehsenders mit Allerweltsrecherchen beschäftigt ist und dementsprechend mit ihrem Beruf zu hadern beginnt, hinter das Geheimnis von Jakobsleiter kommt und als ihren ersten großen Scoop öffentlich macht, geht in Almenen allerdings nicht nur das Vertrauen in Bürgermeister Hofer, der das menschenfreundliche Projekt seines Vaters im Stillen fortgeführt hat, verloren. Denn jetzt ziehen die Einheimischen – genau wie Smilla, die glaubt, endlich zu wissen wem ihre Freundin Juli zehn Jahre zuvor zum Opfer gefallen ist – ihre Schlüsse. Und der Grund, warum seit Jahren immer wieder junge Frauen in der Gegend spurlos verschwinden, scheint plötzlich offen zutage zu liegen.

Wolfskinder arbeitet mit Figuren, die im Gedächtnis bleiben. Der hochveranlagte Jesse, der nach einer gemeinsamen Wolfsjagd mit seinem Vater eines der Jungen einer getöteten Wölfin großzieht. Die neunjährige Edith, die nie eine Schule von innen gesehen hat, in und mit der Natur aufgewachsen ist und in der Smilla Züge ihrer verschwundenen Freundin Juli wiedererkennt. Rebekka, die die Freiheit außerhalb von Jakobsleiter sucht und in der größten Unfreiheit landet. Die Lehrerin Laura Bender, die sich um die Zukunft von Jesse sorgt, den gefährlichen Aufstieg nach Jakobsleiter wagt, um die Eltern des Jungen zu überzeugen, ihn auf eine weiterführende Schule zu geben, und enttäuscht den gefährlichen Rückweg antreten muss. Ihnen allen und noch einer Handvoll weiterer Personen verleiht Vera Buck je eigene Stimmen, so dass man die Handlung aus verschiedenen Perspektiven verfolgen kann.

Eine ganz eigene, vielleicht sogar die wichtigste Rolle in diesem Thriller, fällt aber der Natur zu. Wälder und Berge, steile Hänge, labyrinthisch sich verzweigende Höhlengänge und eine schwer zugängliche Klamm mit dunklen Geheimnissen – für die einen ihre ureigene Welt, mit der sie kommunizieren, in der sie leben, für die anderen eine unheimliche Kulisse, bedrohlich und von Angst erzeugenden Geräuschen geprägt. Auch wenn der Geschichte am Ende ein wenig der Atem und die Plausibilität ausgehen, bleibt dennoch festzuhalten: Mit Wolfskinder ist Vera Buck ein Roman gelungen, der durch seine kontrastreich angelegten Figuren, beeindruckende Landschaftsbilder und die aus dem Spannungsfeld zwischen Natur und Zivilisation, Stadt und Land, Tradition und Moderne entstehenden Konflikte zu überzeugen weiß.                                

Titelbild

Vera Buck: Wolfskinder.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2023.
416 Seiten , 17,00 EUR.
ISBN-13: 9783499009686

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