Namenloses Elend für ein namenloses Mädchen

Die Schweizer Autorin Sarah Elena Müller schreibt in ihrem Debütroman „Bild ohne Mädchen“ wutfrei über Kindesmissbrauch

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Großvater einer Familie in den Schweizer Bergen ist gestorben. Hinterbliebene bestellten Pizzen, „um die noch lebenden Körper mit irgendwas zu füllen.“ Dieser sezierende Blick auf menschliche Beweggründe zieht sich durch den Roman, jedoch wird man nur ganz allmählich immer misstrauischer, was den Kontakt zwischen einem Kind und einem verschrobenen Nachbarn betrifft.

Vorangestellt ist ein Kapitel mit dem Titel „Weitsicht“ – nicht als optischer Begriff, sondern als „Horizontblick“, der über die Verantwortung an der Spitze der Alterspyramide einer Familie hinausreicht, in der „eine Figur die Gussform der nächsten ist“. Wenn Eltern, ob links-alternativ wie im Roman oder nicht, ihrer Verantwortung nicht gerecht werden, kann ihrem Kind das geschehen, was der namenlosen Hauptfigur widerfährt. Sie wird erst „Das Kind“, dann „Das Mädchen“, später „Die Tochter“ und schließlich „Die junge Frau“ genannt.

In dieser Rezension kann nicht auf alle die sprachlich souverän gestalteten Geschehnisse eingegangen werden, in denen sich oft Reales und Surreales mischen. Erwähnt sei aber, dass die Begriffe „Pädophilie“ und „Kindesmissbrauch“ kein einziges Mal gebraucht werden.

Zunächst führt banaler Streit um eine beschädigte Laubsäge zu einer Vision des fantasiebegabten Kindes: „Die verschiedenen Vernünfte der Erwachsenen treten auf eine Lichtung im Wald. Es sind Hirsche.“ Dem bettnässenden „Problemkind“ helfen weder Algentabletten, die es in den Froschteich kippt, noch der Blickkontakt mit einem Heiler, der ihm eine „Alarmunterhose“ beschafft, in der ein Sensor bei Kontakt mit Flüssigkeit ein Klingeln auslöst.

Auf dem Bildschirm des Nachbarn hat das Kind, das ihn mit Erlaubnis der medienfeindlichen Eltern oft besucht, kurz das unscharfe Bild eines Engels gesehen. Doch der Nachbar hat den Kopf geschüttelt: kein Engel. Das Kind wünscht sich nun Auskunft vom vielbeschäftigten Vater. Der Kopf des Biologen jedoch ist zugestellt mit Pflanzen, Tieren und Tabellen. Auch von der Mutter kommt keine Antwort; die Bildhauerin will, dass die Vorstellungskraft von innen herausfließt. So wird der Engel zur Bezugsperson des Kindes.

Der Nachbar heißt Ege, und kurz drängt sich der Gedanke auf, der in der Schweiz seltene Vorname aus dem Türkischen solle besagen, dass diesem Mann einiges zum Engel fehlt. Ege, der eine „Praxis für praktische Medientheorie“ betreibt, will sich die Außenwelt vom Leib halten, um ein Lebenswerk zu schaffen. Abgehobenes Künstler-Ego ist der Autorin nach eigenem Bekunden nicht fremd; ein Interview, das sie mit einem Täter führte, erbrachte weitere Aufschlüsse für eine Figur, die kein testerogengesteuertes Monster ist, in ihrer selbstischenHaltung bar jeder Ethik jedoch nicht minder gefährlich.

Eges Partnerin Gisela, oft von ihm gekränkt, hofft inständig, sein Werk möge bald überzeugende Gestalt gewinnen. Diese extrem labile Frau wechselt quasi im Sekundentakt zwischen betroffener Einsicht und verzweifelter Beschönigung und folgt dabei einer eigenen verqueren Logik.

Dann kommt Eges Sohn aus Berlin zu Besuch. Der bekundet dem Kind auf Nachfrage lachend, kein Engel zu sein. Ege findet, eine Studentin der Medientheorie habe ihn ihm, ihrem Professor, diesen Sohn „abgenötigt“.Die „Aufklärung“, so ein Abschnittstitel, geht schief: Die Eltern schenken dem Kind ein Buch, in dem die Zeichnung eines durch ein „Tor aus Fleisch“ in der Unterhosengegend kommenden Babys große Bestürzung auslöst.

Das Kind erzählt dem Engel von einem Film, den sie mit Ege vor Giselas Kamera gespielt hat. Da habe Ege gesagt, er müsse pinkeln. Der Engel hält das für eine blöde Geschichte.

Aus einem kalten Bach flieht das Kind pitschnass zu Gisela, die es zu Ege schickt, der aus der Entzugsklinik zurück ist. Gisela braucht Zeit für sich. Als das Kind wiederkommt, geht sein Blick durch Gisela hindurch, und der Engel spricht von einem nackten Engel als Geschenk.

Aus dem Kind wird das Mädchen, und an der Unterhose können die Eltern ablesen, dass sie eine junge Frau werden wird. Das Mädchen findet das unfair, wo doch Eges Sohn einfach dadurch zum Mann wurde, dass er eine Baumsäge richtig bediente. Der Engel rät ihr, die verlogene Werdenszeit einfach zu überspringen.

Der trunkene Ege gerät von der sonnenheißen Terrasse in die Unterwelt, holt sich Verbrennungen zweiten Grades und einen Hitzschlag. Die Sanitäterin tröstet ihn mit der Aussicht auf regelmäßigen Besuch vom Nachbarmädchen. Dann muss Ege mit kaputter Leber ins Krankenhaus. Doch er will bald in die Oberwelt zurückkehren.

Als der Heiler erkennt, dass das Mädchen auch Engel sieht, zahlt er hundert Franken „als erstes Honorar für Einbildungen“, wie der Engel das später nennt.

Eges Sohn erzählt dem Vater des Mädchens, es schaue sich mit Ege auf dem Fernseher unscharfe Filme an, Eges Lebenswerk.

Das Mädchen verliebt sich in einen Nachbarssohn, wohl nur, weil dessen Heugabel sie an den Zweizack des Engels erinnert. Als sie ihn mit in ihr Zimmer nimmt, fliehen die Eltern in hilflosem Protest ins Café.

Dann ist der Engel nach einem Zerwürfnis mit dem Mädchen wieder da, in Giselas Auto, nur für das Mädchen sichtbar. Er spricht aus, dass Ege sich nach dem Sohn verzehrte wie nach dem Mädchen und dass Gisela immer erst hinzukam, wenn alles vorüber war. Man begreift, dass das aufblitzende Bild des Engels den von Elge missbrauchten Sohn zeigte.

Der Engel will Rache. Das Mädchen folgt ihm trotz Verbot in Eges Haus. Auf einem alten Video sagt Ege, auch sie sei zwischen den großen Zehen am kitzligsten, und seine Hand findet den Eingang zur Unterhose.

Die junge Frau kommt nicht mehr zu Ege, verlässt die Eltern und zieht in die Stadt. Ege klickt sich durchs Internet und kollabiert in verschüttetem Wein. Die Mutter des Mädchens sucht Ege auf und will (viel zu spät!) wissen, welche Rolle ihre Tochter in seinem Film gespielt hat und was die beiden die ganze Zeit trieben. Mit glühenden Augen erwidert Ege, vielleicht seien die Zehen einer Tochter ihr verlängertes Gehirn, und wenn man sie dort kitzle, werde es gelöscht.

Gisela will beschwichtigen. Ege habe sich „das“ mit Kindern zwar gewünscht, hätte es aber bestimmt niemals umgesetzt. Er sei eben ein großes Kind und rede nur Stuss. Die Mutter bleibt hilflos, kraftlos. „Die Wände laufen vor ihr zusammen. Sie blickt in die Ecke des Windfangs.“

Humor setzt winzige Glanzlichter auf das düstere Gesamtbild. Da hofft der Vater, Kartoffelpuffer würden das Kind „abfedern.“ In einer Geschichte des Kindes gibt es einen edlen Hirsch mit tropfender Nase. Und wenn von einer Neurose die Rede ist, denkt das Kind an Rosen.

Der Romantitel Bild ohne Mädchen verwundert. „Mädchen ohne Bild“ wäre wohl treffender: Man erfährt nichts über das Aussehen des Mädchens, das wiederum kein reales Bild von sich und der Welt hat.

Sarah Elena Müller legt einen atemberaubenden Debütroman vor. Sie erzählt ohne Wut auf den Täter, jedoch so eindringlich, wie es dem brisanten Thema und den erschütternden Spätfolgen bei Opfern von Kindesmissbrauch gebührt. Ihre multimediale und musikalische Kompetenz schlägt sich in einer kühnen eigenständigen Sprache nieder.

Titelbild

Sarah Elena Müller: Bild ohne Mädchen.
Limmat Verlag, Zürich 2023.
208 Seiten , 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783039260515

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