Love actually
Patrick Fortmanns Studie „Kristallisationen von Liebe“ offenbart Einblicke in eine zerrissene Gesellschaft
Von William Collins Donahue
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Titel Kristallisationen von Liebe. Zur Poetik des Gefühlswissens zwischen Romantik und Realismus (2021) ist einer bekannten Vignette von Stendhal entlehnt. Diese berichtet von einem alten Brauch unter Salzburger Bergleuten: Jedes Jahr lassen sie einen abgestorbenen Ast in einen aufgelassenen Schacht ab. Ziehen sie ihn einige Monate später wieder rauf, ist er mit Salz-Kristallen übersät. Selbst der magerste Zweig ist „besetzt mit einer Unzahl beweglicher, blendender Diamanten; man kann den ursprünglichen Zweig nicht wiedererkennen“. Indem Fortmann dieses Bild zu seinem Buchtitel Kristallisationen von Liebe erhebt, kündigt er an, worum es ihm geht und mit welchem theoretischen Ansatz er sich dessen annehmen möchte: Er will die seinem Gegenstand, der Liebe, eigene Flüchtigkeit würdigen und gleichzeitig aufmerksam ihren vielfachen Reflexionen, Spuren – oder besser noch: Kristallisationen – nachgehen, wie sie in der spät- und nachromantischen Literatur in Deutschland besonders auffällig zu Tage treten.
Wie nähert man sich so einem trotzigen Gegenstand, der die Grenzen von Gattungen und Nationalliteraturen weit überschreitet? Passenderweise setzt Fortmann mit einer der berühmtesten Liebesgeschichten der Weltliteratur an, Schlegels Roman Lucinde. Sie dient ihm dazu, den Tisch für eine Untersuchung zu richten, die auf der grundlegenden Bedeutung der Literatur nicht nur als bevorzugte Materialquelle beharrt, sondern gleichermaßen als Vermittlerin „sozialen Wissens“ und für die gesellschaftliche Analyse. Darauf baut er ein beeindruckendes Theoriegerüst auf, indem er die einschlägigen Beiträge etwa von Foucault, Barthes und Luhmann zum Thema sichtet, aber nicht, um sie als höchste Instanzen einzusetzen – oder gar als Großmeister, deren Grundannahmen die folgende Analyse leiten sollen. Fortmann übernimmt eher, was er für nützlich hält. Dazu gehört etwa die allen gemeine Bevorzugung der Literatur – „die grundsätzliche Überzeugung, dass die Entwicklung der Liebe an Literatur gebunden ist und sich in Literatur niederschlägt“. Bei Luhmann findet er weiteren Rückhalt für jene Methode, die seine Studie leiten wird, nämlich die Weigerung, schon im Voraus festzulegen, welche Faktoren die Entwicklung der verschiedenen Liebeskonzepte und -bräuche bestimmen: „Semantische Verschiebungen können neuen Sozialformen ebenso Vorschub leisten wie entstehende Strukturen semantische Änderungen motivieren können.“
Das ist nun weder nebensächlich noch schwammig, trägt es doch dazu bei, Fortmanns letztliche Vorliebe für jenen Theorieansatz der „Poetologie des Wissens“ zu verdeutlichen und zu rechtfertigen, wie er bereits mehrfach von Jacques Rancière und Joseph Vogl beschrieben wurde.
Reißt er auch schließlich beträchtliche Teile jenes Theoriegerüstes wieder ein, das er so gewissenhaft errichtete, geht es ihm nicht darum, Literatur gegen Theorie auszuspielen, sondern vielmehr darum, einen verfeinerten Ansatz zu entwickeln, der unter anderem das Vermögen der Literatur anerkennt, außerliterarische Wirklichkeit sowohl zu reflektieren als auch zu beeinflussen und selbst als Ort theoretischer Selbstreflexion zu dienen.
Gleiches gilt für Fortmanns Auseinandersetzung mit Julia Kristeva (beispielsweise deren Verständnis der „fundamentalen Literarizität der Liebe“), Eva Illouz, Thomas Anz und weiteren. Dabei handelt es sich nicht einfach um die unerlässlichen Würdigungsverweise auf jene, die ihm auf diesem Forschungsgebiet voranschritten, sondern um Wertgutachten, die die Ansicht stützen, dass Literatur selbst eine „Erscheinungsform des Wissens“ sei, nicht einfach ein soziologisches Artefakt oder ein Anzeichen für andere, „tiefere“ Kräfte. Für Fortmann besitzt Literatur einen Eigenwert; er nennt ihn einmal „die Eigenlogik der Literatur“. Literatur gehe damit über ihre Funktion als Beleg für diese oder jene vorangehende theoretische Verpflichtung hinaus. Sie umfasst ein Bollwerk des „Liebeswissens“, das sowohl passiv (als Zeitdokument) als auch aktiv (als Modell für mögliches Verhalten, Denken, Handeln usw.) wirkt. Seine eigenen Worte sind zitierenswert, veranschaulichen sie doch den differenzierten, eigenständigen Ansatz, der diese Untersuchung ausmacht:
… die Liebe [liegt] quer zu den historischen Wissensbereichen wie zur gegenwärtigen Ordnung der Wissenschaften. Sie erweist sich, allein wissensgeschichtlich betrachtet, als ein schillernder Gegenstand, der sich Einordnungen verweigert und Festlegungen widersetzt, indem er sich in verschiedenste Richtungen ausfalten und unter unterschiedlichsten Blickwinkeln betrachten lässt.
Das bedeutet, dass seine Einleitung weit darüber hinausgeht, den herkömmlichen konzeptionellen Rahmen für die anschließende Untersuchung zu bieten. Vielmehr legt er darin einen durchdachten und schlüssigen Beweis für den Wert von Literatur und Literaturwissenschaft vor und leistet damit einen wesentlichen, wenn auch etwas versteckten, Beitrag zum gegenwärtigen Diskurs über den Stellenwert der Geisteswissenschaften in der akademischen Welt, im Hochschulwesen und überhaupt in der Gesellschaft.
Ist die Romantik gewiss ein gut beackertes Forschungsfeld, ist die unmittelbar anschließende Epoche längst nicht so gut erschlossen. Fortmann will mit Kristallisationen von Liebe Abhilfe schaffen. Seine Geschichte beginnt passenderweise mit Heine, den wir laut Fortmann unter Wert verkaufen, wenn wir uns mit der These abfinden, dass er lediglich aus den romantischen Liebeskonzepten die Luft ablässt und sie als abgegriffen oder gar illusorisch entlarvt. Verbindlichkeit, nicht bloße Ablehnung, zeigt uns Fortmanns nuanciertere Darstellung von Heine. Detailliert und ausführlich legt er offen, wie Heine auf August Wilhelm Schlegels Konzept der romantischen Poesie zurückgreift, insbesondere wie dieses in den Jenaer Vorlesungen erscheint. Das wird leider häufig übersehen, weil Heine in seinem Spätwerk Schlegel so gnadenlos satirisiert. Doch Schlegels im Kern historisierende und weltliche Methode sollte Heine in dessen eigener Auseinandersetzung mit der Moderne beträchtlich nutzen. Bekanntermaßen lehnte er die „Mittelalterfixierung“ von Schlegel und anderen Romantikern ab, ebenso wie die damit verbundene romantische Vorstellung, eine Art heilendes Ganzes im Rückgriff auf mittelalterliche Ideale und Mythen zu erreichen.
Hier ist Fortmanns Beitrag eindeutig, wenn auch subtil: Er behauptet, man solle Heine nicht bloß als symptomatische Erscheinung der Spätromantik sehen. Das äußerst beliebte Buch der Lieder sei nicht einfach ein Anzeichen dafür, dass die Romantik allmählich zur Neige gehe und für die aufkommende Wirklichkeit der bürgerlichen Gesellschaft immer weniger tragbar und aktuell sei. Nicht zuletzt dank Fortmanns aufschlussreicher Lektüre des kaum bekannten Essays Die Romantik, den er als „Selbstkommentar“ zu der berühmten Gedichtsammlung entlarvt, gewinnen wir eine frische Sicht auf Heine, der sich schon ganz früh mit den Kerngedanken der Romantik auseinandersetzte. Es handelt sich also nicht um die Geschichte seiner allmählichen Ernüchterung – und auch nicht um unsere. Sie erzählt vielmehr von der sorgfältigen Sichtung des romantischen Erbes, die sich zu manchen Strängen bekennt und sie wiederbelebt, während sie andere ausmustert. Wie Fortmann mit seiner Lektüre von Schlüsselgedichten zeigt, bestätigt sich die Auffassung von Heines Poesie als poetologisch – und als ein ausgesprochen geeignetes Mittel „Liebeswissen“ zu vermitteln, wie mittelbar und offen dies auch sein möge.
Heine geht andere Wege als seine romantischen Ahnen und Zeitgenossen, indem er die Aufmerksamkeit abermals auf das faszinierende Geflecht von Liebe und Moderne lenkt, ein zentrales Thema der Untersuchung. Wie Fortmann zeigt, war es Heine, der so eindringlich ergründete, wie der romantische Begriff von Liebe von christlichen Vorstellungen von erlösendem Leiden, insbesondere dem Leiden Christi, abgeleitet und mit ihnen verwoben sind. Diese Analyse, wie Fortmann so treffend formuliert, „überführt die biblische Leidensgeschichte in die Geschichte der Leidenschaften“; eine Hauptaufgabe des Buchs der Lieder werde dementsprechend darin bestehen, beide zu entflechten. Und tatsächlich stellt dies die dritte von drei „Figuren“ dar, die Fortmann in Heines Werk ausmacht: die Liebe als säkulare Religion, die das Christentum destabilisiert und in gewisser Weise umstürzt. In aufschlussreichen Interpretationen von Donna Clara, Almansor und Die Wallfahrt nach Kevlaar zeigt er, wie inständige menschliche Liebe immer wieder mit dem Christentum aneinandergerät, oft begleitet von unbequemen und problematischen Islamdarstellungen.
Eine solche Aufwertung Heines muss zwangsläufig einen Vergleich mit den berühmten Anti-Heine-Polemiken von Kraus und Adorno eingehen. Abgesehen davon, dass er aufzeigt, wie beide auf ihre Art verkürzen (Kraus behauptet, Heine gebe dem Publikumsgeschmack nach; Adorno hält dagegen, er habe sich der Marktnachfrage angepasst), zeigt Fortmann wohltuend auf, dass beide auch insofern zumindest halbwegs Recht hatten, als sie richtig erkannten, dass Heine beharrlich jeder Art schlichter Aussöhnung auswich. „Heines Gedichte reißen die Poesie […] aus ihrem Refugium“, gesteht er ein. Das soll aber nicht heißen, dass Kunst auf jegliche Autonomie verzichte. Vielmehr – hier bläst Fortmann wiederholt ins gleiche Horn – soll dieser Prozess der Konfrontation idealistischer Liebesvorstellungen mit der gelebten Wirklichkeit bürgerlicher Gesellschaft brechen. Seine Lektüre des berühmten Gedichtes Theetisch identifiziert an dessen Ende eine klassische Isersche „Leerstelle“. Aber es ist keine, die die Liebe oder den dichterischen Prozess der Reflexion für ungültig erklärt; die Antwort findet sich anderswo: „Erst die Schlussstrophe deutet an, dass der gesuchte Ort nur jenseits von etablierten Wissensordnungen und bürgerlicher Gefühlskultur zu finden sein wird“. Dieser erste Abschnitt von Kristallisationen von Liebe bietet also eine bedeutende Überarbeitung unseres Heine-Bildes, indem gezeigt wird, wie dieser sich schon sehr früh mit dem romantischen Rezept für kulturelle Erneuerung auseinandersetzte, und zwar viel differenzierter, als es die Forschung bisher erkannt hatte.
Vieles, was bei Heine nur zwischen den Zeilen steht, wird bei den Autoren des Jungen Deutschlands, worum sich der zweite Teil der Untersuchung schwerpunktmäßig kümmert,offen gezeigt und zum Programm. In oft vorschnell dahingeworfenen Romanen und Novellen stellen diese Autoren Liebe und sexuelle Beziehungen ausdrücklich als gesellschaftliche und gar politische Frage dar. Wie viele seiner Mitstreiter studierte Karl Gutzkow (wohl der bekannteste unter ihnen) einst Theologie und wurde zum Atheisten, der seine Animosität gegenüber Religion mit dem Eintreten für weltliche Liebe verband, für Beziehungen frei von kirchlicher Legitimation und Kontrolle. Aufgabe der Literatur war es, beispielhaft neue Muster der Liebe darzustellen und damit die Aufgabe einer Art weltlicher Bibel zu übernehmen. Fortmann erhellt uns diesen weniger bekannten Literaturkorpus und zeigt dabei, wie auf unterschiedliche Weise eine Glaubenskrise immer wieder mit einer Liebeskrise verflochten ist. Manche, wie Theodor Mundt, fanden Wege zur Aussöhnung von „Geist“ und „Fleisch“, andere, wie der radikalere Laube (radikal zumindest bis zu seiner Verhaftung), plädierten offen für freie Liebe als Ausdruck politischer Emanzipation und Demokratie. Programmatisch oder agitatorisch ist diese Literatur nicht nur auf vorhersehbare Weise. Fortmann bringt Gesichtspunkte auf, die stark zum Nachdenken anregen und immer noch relevant sind, wie etwa Gutzkows rührende Frage nach der Möglichkeit „wahrer“ (gemeint ist: spiritueller) Liebe in nachreligiöser Zeit.
Geschickt wechselt Fortmann zwischen der Einzellektüre von Schlüsselwerken wie Gutzkows skandalöser Wally, die Zweiflerin und dem Darstellen des größeren Kontextes. Er versteht es nicht nur, die Autoren des Jungen Deutschlands so zu zeigen, wie sie selbst sich und ihr Streben verstanden, sondern auch kritisch zu hinterfragen. So lassen beispielsweise Laube und Gutzkow in ihren Vorstellungen von geschlechtlicher Emanzipation grundlegende Genderstereotypen der duldsamen Frau weitgehend unberührt. Doch ein so unendliches Thema wie die Liebe wirft unweigerlich weitere Fragen auf. Wie unterschiedlich erlebten beispielsweise Männer und Frauen „freie Liebe“ zu einer Zeit, in der es noch keine zuverlässigen Verhütungsmethoden gab? Diese Frage beschäftigte die deutsche Literatur vor allem in bedeutenden und umstrittenen Werken wie Die Kindermörderin und Die Soldaten.
Fortmann unterstreicht zu Recht die Beschäftigung des Jungen Deutschlands mit dem Antiklerikalismus. Wie auch bei Heine stand dieser im Mittelpunkt ihrer Polemiken und war aufs Engste mit ihrem Liebeskonzept verknüpft. Doch die Erörterung einzelner Werke, etwa Charlotte Stieglitz von Theodor Mundt, hängt manchmal zu stark von den schablonenhaften Religionsvorstellungen des Autors ab (wie beispielsweise Mundts Befund, Selbstmord folge aus religiöser „Jenseitsfixierung“). Um die kulturellen Folgen der Wirkung des Romans besser ermessen zu können, wäre hier ein differenzierterer Blick auf die katholische und protestantische Theologie bzw. Praxis des 19. Jahrhunderts zu begrüßen. Ebenso willkommen wäre ein Nachdenken über den Stand der Juden und des Judentums im Jungen Deutschland, vor allem angesichts der Tatsache, dass, wie Fortmann erläutert, die männliche Hauptfigur in Wally, dem wohl bekanntesten Roman dieser Bewegung, letztlich die Jüdin Delphine heiratet.
Der dritte und letzte Abschnitt der Untersuchung widmet sich der Liebe in erster Linie als etwas Körperlichem. Während sich hier das Augenmerk auf einen einzigen Autor, Georg Büchner, richtet, geht ihm eine umfassende und ergiebige Darstellung des Aufstiegs der Biowissenschaften, der Physiologie und erster Erkenntnisse über Gemeinsamkeiten zwischen tierischer und menschlicher Natur voraus. Als Wissenschaftler war Büchner in der Lage, sich diese neuen Erkenntnisse nutzbar zu machen und selbst – so Fortmann – zum literarischen Sprachrohr der „Physiologie der Liebe“ zu werden. Gibt es kaum Zweifel daran, dass Büchner den Liebesdiskurs wesentlich weiter auf die körperliche Seite der Dyade rückt, hat er doch nicht auch, so behaupte ich, den geistigen Blickwinkel völlig aufgegeben. Während Fortmanns eigene Analyse (z. B. der Eröffnungsszene zwischen Danton und seiner Frau Julie in Dantons Tod) empfänglich für diesen Gesichtspunkt ist, liegt die Stoßrichtung der Erörterung darin – mitunter vielleicht zu zielstrebig –, Sexualität unmittelbar in der Natur zu verorten, unter nahezu vollständigem Ausschluss alles Ätherischen. Doch das hieße, der Dynamik im Herzen von Büchners Werk die Luft zu rauben, jenem gequälten Flackern zwischen scheinbar unvereinbaren Alternativen (spirituell/körperlich; transzendental/stofflich), wie wir es in Lenz, Woyzeck und in seinen eigenen Briefen sehen und das heute noch so fesselt.
In einem maßgeblichen Aufsatz über die Briefe Büchners, erschienen vor einigen Jahren in der Deutschen Vierteljahrsschrift, erinnert Fortmann uns daran, wie entscheidend es ist, beim Abwägen der Botschaft des jeweiligen Briefes den Empfänger zu bedenken. Das stimmt zwar, doch möchte ich eine Einschränkung hinzufügen, die auch für ähnliche Einwände in Kristallisationen von Liebe gilt: Zustimmende Äußerungen über Liebe und Christentum (oft innig miteinander verwoben), die sich an seine Verlobte und Eltern richten, müssen nicht als weniger glaubwürdig erscheinen, nur weil diese Empfänger diese Ansichten mit größerer Wahrscheinlichkeit vertraten. Das mag erklären, warum solche Gedanken häufiger dort auftauchen als sonstwo, aber es heißt nicht, dass sie ipso facto weniger aufrichtig sind. In dieser Studie wird viel Aufhebens darum gemacht, dass Büchner in einem Brief an seine Verlobte von seiner Liebe zu ihr spricht – und das in unmittelbarem Kontext der Vorbereitung einer zoologischen Demonstration für eine Universitätsvorlesung am nächsten Tag. Ja, Büchner stellt die beiden wohl deutlicher – und früher – als sonst jemand in der deutschen Literatur nebeneinander. Aber er macht damit auch einen recht guten Witz, wie er es nicht selten selbst in seinen tragischsten Werken tut. Entscheidender als die Briefe ist natürlich das eigene literarische Gesamtwerk, und hier zeigt Fortmann, wie Vorstellungen von traditioneller Liebe, wenn auch auf kritische Weise, bis in so unstrittig radikale Werke wie Woyzeck vorherrschen.
Was durch all diese Analysen übergreifend gezeigt wird, ist, wie Liebe und Sexualität im Mittelpunkt der Kritik an gesellschaftlichen und politischen Strukturen stehen – und damit fernab davon, nur Beigabe oder Nebenschauplatz zu sein. Beispielsweise geht die Behandlung der Grisette in Dantons Tod über den scheinbaren Fokus des Dramas auf die Französische Revolution hinaus, um den Mythos überlegener bürgerlicher Moral als falsch zu entlarven. So sehr der Vater in einer Szene (I.2) die Prostitution seiner Tochter ins beherrschende Narrativ des bürgerlichen Trauerspiels zerren und sich damit als Opfer hinstellen möchte, sehen wir in gleichem Maße, dass die Hauptfaktoren für ihre „Berufswahl“ Mangel, Hunger und die körperlichen Triebe von Männern und Frauen sind. In Leonce und Lena, einem Gegenstück zu Der Hessische Landbote, dient Sexualitätdazu, den Anspruch des Adels auf Rechtmäßigkeit aufzudecken und gleichermaßen aufklärerische Grundannahmen einer vom Willen dominierten Psychologie zu hinterfragen. Das wird auf humorvolle Weise klar, als der König, der im wahrsten Sinne des Wortes (von der Hüfte abwärts) keine Kleidung trägt, feststellt: „der freie Wille steht [davorn] ganz offen.“ Wie Heine, der schon sehr früh die inneren Widersprüche der Romantik erkannte, sprengt Büchner, wie Fortmann zeigt, schon in seinen Anfängen das bürgerliche Trauerspiel und mit ihm die dazugehörige Ideologie einer Überlegenheit des Bürgertums.
In seinem einigermaßen überraschenden Schlusssatz zu dieser Untersuchung gibt Fortmann einen Überblick über die wichtigsten zeitgenössischen philosophischen Ansätze über die Liebe, wie sie Hegel (Liebe als transzendentale, vereinigende Kraft), Schopenhauer (Liebe als im Sexualtrieb verwurzelt und auf die Fortpflanzung der Art gerichtet) und Kierkegaard (als ein poetisches Aushandeln romantischer und bürgerlicher Vorstellungen) formulieren. Ich nenne dies „überraschend“, denn nach Forschungskonvention müsste es in der Einleitung auftauchen. Aber Fortmann hat meines Erachtens recht, wenn er so zum Schluss seiner Untersuchung kommt. Der Leser kann diese Einblicke immer rückwirkend geltend machen; sie an den Anfang zu stellen, hätte ihre Rolle aufgeblasen und stünde im Widerspruch zur eigentlichen Grundannahme und Methode seiner Studie, der „Poetologie der Liebe“, die die Literatur als vorrangigen Ort der Reflexion und Analyse würdigt. In seiner Schlussfolgerung führt er Hans Blumenberg ins Feld, um darauf hinzuweisen, dass die Philosophie selbst eine Begleiterscheinung und nicht den hier besprochenen literarischen Werken vorzuziehen ist. Glücklicherweise ist er jedenfalls nicht bereit, jenen großen Philosophen den Vortritt zu lassen, die sich selbst an die Literatur als bevorzugte Quelle des „Liebeswissens“ wandten und deren Ideen – nach Fortmanns knapper Darstellung zu urteilen – recht schablonenhaft wirken im Vergleich zur Mehrdeutigkeit und Nuanciertheit eines Heine oder Büchner, ja sogar einiger Autoren des Jungen Deutschlands. Die Philosophen gleichzeitig einzubeziehen und herunterzuspielen, ist ein erfrischender Schachzug von Fortmann.
Diese ungemein einleuchtende und beredte Studie stellt Fortmann in eine Reihe mit dem verstorbenen Jeffrey Sammons; der hätte sich über dieses Zusammenwirken von theoretischer Finesse, Stil und meisterhaftem Zugriff auf die Primärliteratur gefreut. In dieser Untersuchung deutscher Literatur des frühen und mittleren 19. Jahrhunderts zum Thema Liebe begegnet Leserinnen und Lesern darüber hinaus eine ganze Reihe von Aperçus (über Platon, Sterne, Richardson, Swift, Rousseau usw.), die die Schlussfolgerungen des Buches gekonnt in den größeren Kontext der Weltliteratur stellen und uns nochmals vor Augen führen, wie aktuell der „Liebeskummer” der damaligen Zeit noch heute ist.
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Jens Berger
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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