Dennis Borghardt und Florian Lehmann publizieren den Sammelband „Kann das weg? Literarisierungen des Defekten und Defizitären“

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bisher wurden Abweichungen von der Norm im Hinblick auf literarische Figuren, Motive und Poetologien nur allzu häufig als defizitär abgetan; das Zerstörte, Unvollkommene oder Unnütze wurde vor allem auf seine Unterlegenheit gegenüber dem Vollkommenen reduziert und in Abgrenzung zum Erwünschten betrachtet. Diese Entwicklung wird im Sammelband Kann das weg? Literarisierungen des Defekten und Defizitären, 2022 von Dennis Borghardt und Florian Lehmann herausgegeben und im Wehrhahn Verlag erschienen, aufgebrochen und ins Gegenteil verkehrt: Das Mangelhafte wird auf die eigene Zweckmäßigkeit, Ästhetik und Wirkweise untersucht.

Neben einer einführenden Annäherung an den Themenkomplex greift der Band in vier Unterkategorien verschiedene zeitliche und inhaltliche Facetten des Defekten und Defizitären in der Literatur auf. Das Potenzial gattungsspezifischer Abweichungen, beispielsweise des als unvollständig erachteten Fragments, wird anhand von Horaz‘ Ars Poetica (Thomas Emmrich) ebenso neu bewertet wie die Funktion literarischer Figurationen, wie es unter anderem im Aufsatz zum Protagonisten aus Pär Lagerkvists Der Zwerg (Julia Heinig) der Fall ist. Darüber hinaus bieten Beiträge zu tradierten Poetologien und Narratologien, wie die im Rahmen von Heinrich von Kleists Briefessays Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden (Reinhard M. Möller) hervorgebrachte Denkfigur, eine kritische Reflexion vorhandener Normen. Schließlich spannt der Band einen Bogen zum Gegenstand „(Dis-)Ability“, indem die Repräsentation von Behinderungen und den damit einhergehenden Vorurteilen am Beispiel des Theaterstücks Die 120 Tage von Sodom von Milo Raus (Nadeschda Springer), angelehnt an den gleichnamigen Text des französischen Schriftstellers Marquis de Sade, untersucht wird. Auch der polarisierenden Diskussion um gegenwärtige pränatale Diagnosemethoden zur Feststellung genetischer Defekte (Waltraud Maierhofer) sowie den Entscheidungen, die aus diesen resultieren, bietet der Sammelband einen Aushandlungsort.

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Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Dennis Borghardt / Florian Lehmann (Hg.): Kann das weg? Literarisierungen des Defekten und Defizitären.
Wehrhahn Verlag, Hannover 2022.
288 Seiten, 25 EUR.
ISBN-13: 9783865259493

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