Noch mehr Moral?
Sebastian Muders und Philipp Schwind legen den Sammelband „Analytische Moralphilosophie. Grundlagentexte“ vor
Von Gertrud Nunner-Winkler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseVor mehr als 50 Jahren formulierte Luhmann den Kernsatz seiner soziologischen Ethikanalyse: Vor Moral gilt es zu warnen. Die Warnung könnte aktueller nicht sein. Überall ertönen Alarmrufe gegen moralische Besserwisserei. Doch gerade inmitten heftiger moralisierender Auseinandersetzungen mag ein nüchtern klärender Blick guttun: Welche moralischen Forderungen sind berechtigt und begründbar verpflichtend, welche überzogen?
Um diese Frage geht es in dem Sammelband Analytische Moralphilosophie, den Sebastian Muders, Postdoktorand, und Philipp Schwind, Oberassistent, beide am Ethikzentrum der Universität Zürich, herausgegeben haben. Die analytische Philosophie ist Anfang des vorigen Jahrhunderts aus der Sprachphilosophie und dem logischen Positivismus hervorgegangen. Sie orientiert sich am naturwissenschaftlichen Vorgehen und setzt den umfassenden spekulativen Theoriesystemen des kontinentaleuropäischen Idealismus eine am realistischen Alltagsverständnis orientierte Analyse konkreter Einzelprobleme entgegen. Im Teilbereich der Moralphilosophie geht es um Bewertungen des menschlichen Handelns.
Der vorliegende Band enthält 16 großenteils erstmalig ins Deutsche übersetzte Beiträge aus dem angelsächsischen Raum. Jeweils zwei Texte behandeln im ersten Teil die vier wichtigsten theoretischen Positionen, aus deren Sicht dann im zweiten Teil vier Dilemmata diskutiert werden. Zumeist formuliert der erste Beitrag jeweils eher grundlegende Thesen oder Annahmen, der zweite fügt Vertiefungen und klärende Korrekturen an. Jeder der acht Abschnitte sowie der Gesamtband beginnen mit einer informativen Einführung: Einer der beiden Herausgeber skizziert jeweils klar und konzise den Problemhorizont und die verfolgte Argumentationslinie.
Bei den theoretischen Positionen geht es um Kriterien für moralische Richtigkeit und deren Begründung. Der Band eröffnet mit dem Konsequentialismus, der die moralische Bewertung von Handlungen an deren Folgen orientiert. Es folgen die Deontologie, der Kontraktualismus und die Tugendethik mit ihren jeweiligen Kriterien – die Erfüllung von Pflichten, die Befolgung konsentierter Regeln, die stabilen Dispositionen tugendhafter Personen. Die Dilemmata im zweiten Teil beginnen mit der Kontroverse um moralische Aggregation: Spielt die Anzahl Betroffener bei begrenzten Rettungsmöglichkeiten eine Rolle? Darauf das Prinzip der Doppelwirkung: Ist eine Handlung erlaubt, die auf ein gutes Ergebnis abzielt, dabei aber auch Schaden anrichtet? Am Beispiel: Darf der Pilot eine Rüstungsfirma bombardieren, um den Krieg zu verkürzen, auch wenn er dabei riskiert, Zivilisten zu treffen? Über moralische Rechte: Gibt es ‚natürliche Rechte‘, die in allgemeinen Interessen – etwa dem an der gleichen, freien Entfaltung aller gründen? Erwachsen besondere Rechte aus Beziehungen, etwa Eltern-Kind-Beziehungen, gemeinsame Teilhabe an kooperativen Unternehmungen? Den Abschluss bildet die Debatte um den moralischen Zufall: Können wir Verantwortung zurechnen für etwas, das sich unserer Kontrolle entzieht – etwa genetisch verankerte Dispositionen, frühe Traumata, sozio-kulturelle Konstellationen? Dieses Problem bringt die Formel von der ‚Gnade der späten Geburt‘ prägnant zum Ausdruck, für die Helmut Kohl seinerzeit zu Unrecht verspottet wurde.
In der Moraldebatte hat eine Frage besonderes Gewicht: Welche Rolle spielen Folgen bei der Bewertung von Handlungen? Am Umgang mit dieser Frage lassen sich die Spezifika zentraler theoretischer Positionen wie auch die geschickte Abfolge der Beiträge illustrieren. An erster Stelle steht Shelly Kagans radikale Version des Konsequentialismus: Es sei geboten, stets die Handlung auszuführen, die insgesamt die besten Konsequenzen zeitigt – unabhängig davon, wem diese zugutekommen. Für irgendwelche Einschränkungen dieses Gebots gäbe es keinerlei überzeugende Begründungen. So sei es nicht rechtfertigbar, Nahestehenden den Vorrang vor Unbekannten einzuräumen, also etwa eigene Verwandte oder Freunde stärker zu bedenken als Hungernde in einem anderen Land. Ebenso wenig sei es rechtfertigbar, persönliche Interessen zu verfolgen, statt sich der Verbesserung der Verhältnisse zu widmen.
Aus der Deontologie folgt Einspruch. Bei Moral – so William David Ross – gehe es nicht um das Bewirken guter Folgen, sondern um die Erfüllung von Pflichten. Es gibt persönliche Pflichten gegenüber bestimmten Personen. So etwa gilt es, Versprechen einzuhalten, Wiedergutmachung zu leisten, Dankbarkeit zu erweisen. Diese Pflichten sind an der Vergangenheit orientiert: Man hat ein Wort gegeben, einen Fehltritt begangen, eine Wohltat empfangen. Um die Zukunft – um erwartete Folgen – geht es nicht. Dazu kommen generelle Pflichten – Wohltätigkeit und Gerechtigkeit zu üben, sich selbst zu vervollkommnen sowie Schädigungen zu unterlassen. Diese Pflichten genießen Vorrang vor dem Gebot, stets die bestmöglichen Folgen zu realisieren. Beispielsweise ist es nicht erlaubt, einen Gesunden zu töten, um mit den entnommenen Organen fünf Todkranke zu retten. Allerdings können bei Pflichtenkollisionen Folgenabwägungen Ausnahmen rechtfertigen.
Thomas Nagel stützt die deontologische Position durch eine vertiefende Überlegung: Zwar scheine es aus der Außenperspektive rational, alles – notfalls auch Übel – zu tun, um mehr Gutes herbeizuführen. Aber als Handelnde wählen wir nicht den objektiv besten Weltzustand, sondern entscheiden im Kontext persönlicher Bindungen, sozialer Verpflichtungen und situativer Bedingungen über unser Tun. Und als Opfer empören wir uns nicht nur, weil wir objektiv Schaden erlitten, sondern auch, weil das Übel nicht einfach geschah, sondern uns willentlich zugefügt wurde. Wie triftig dieses Argument ist, lässt sich auch empirisch belegen: KZ-Überlebende leiden unvergleichlich stärker an den erlittenen Traumata als Erdbebenopfer. Die ersteren haben über die eigene Todesangst und den Verlust Nahestehender hinaus einen Einbruch des Urvertrauens in andere Menschen überhaupt erfahren. Letztere hingegen erleben häufig zwischenmenschliche Solidarität.
Der Kontraktualismus teilt das Konzept allgemeiner und besonderer Plichten. Er fundiert sie in der rationalen Zustimmung aller zu Prinzipien, die jedermanns Interessen gleichermaßen schützen. Zu den universellen Interessen – etwa am Schutz vor Verletzungen oder Betrug – gehört auch das Interesse an der Verwirklichung eigener Ziele. So begründet Thomas Scanlon gegenüber Kagans umfassendem Moralanspruch die Forderung nach einem ‚persönlichen Bereich‘: Jeder solle eigene Projekte verfolgen können, die mit der gleichen Freiheit aller verträglich sind (David Gauthier).
Aus den im zweiten Teil des Bandes diskutierten Dilemmata sei das Problem der moralischen Aggregation herausgegriffen: Ist es wichtiger, jedem gleiche Gerechtigkeit widerfahren zu lassen oder ein insgesamt besseres Ergebnis zu erzielen? In Deutschland hat Ferdinand von Schirach dieses Dilemma kürzlich durch ein Theaterstück sowie einen Fernsehfilm mit nachfolgender Publikumsbefragung bekanntgemacht. Seine Frage lautete: Darf man ein Flugzeug mit unschuldigen Passagieren abschießen, wenn ein Attentäter droht, es auf ein gefülltes Stadion abstürzen zu lassen. Die konsequentialistische Antwort ist eindeutig: Natürlich ist die größere Zahl zu retten.
Deontologie wie auch Kontraktualismus argumentieren anders. John Taurek erklärt: Aus subjektiver Sicht hat jeder der Betroffenen ein gleiches Interesse am Überleben. Warum sollte einer akzeptieren, dass sein Leben von einem objektiven Standpunkt aus weniger wert sei? Verluste lassen sich nur bei Objekten aggregieren. Bei Menschen gilt es – um der Gerechtigkeit willen – jedem die gleiche Chance zu gewähren. Daher sei per Los zu entscheiden, ob die Passagiere oder die Stadionbesucher zu retten seien. Der moralischen Grundüberzeugung stimmt Frances M. Kamm zu: Jede Person gleich zu achten, verlange, jeder gleiche Überlebenschancen einzuräumen. Aber sie stellt andere theoretische Überlegungen an: Für je einen Passagier und einen Stadionbesucher wäre paarweise per Münzwurf zu entscheiden, wer von beiden gerettet würde. Das führt dazu, dass – wie beim Konsequentialismus – die größere Zahl gerettet wird. Aber die Begründung differiert: Das Ergebnis wird nicht erzielt, weil so insgesamt das größere Gut hervorgebracht wird, sondern weil nur so auch das Gewicht der beim Paarvergleich Überzähligen berücksichtigt wird.
Bei der Lektüre der Beiträge fällt auf, wie viele der Autoren sich auf die ‚Alltagsmoral‘ berufen. Dabei fühlt sich allerdings keiner bemüßigt, die eigenen Intuitionen zu überprüfen. Angesichts der Fülle einschlägiger empirischer Studien hätte es nahe gelegen, dass wenigstens die Herausgeber diese eklatante Leerstelle auffüllen. An zwei Fragen sei dies illustriert: Sind Ausnahmen zulässig? Gibt es einen ‚persönlichen Bereich‘? Mit großer Mehrheit vertraten Ende der 1990er ältere Befragte ein rigides Normverständnis. So etwa verurteilten sie das Versäumnis, Müll zu sortieren, bedingungslos (z.B. „Ordnung muss sein – auch wenn die das hinterher wieder zusammenwerfen“). Fast alle Jüngeren hingegen ließen Ausnahmen zu, wenn der Sinn der Regel verfehlt wird (z.B. „wenn die Container so weit weg sind, dass man mehr Benzin verfährt als das Sortieren bringt“) oder mit anderen moralischen Erwägungen konfligiert (z.B. „wenn einer alt oder gebrechlich ist“) (Nunner-Winkler). Aus moralischen wie auch aus religiösen Gründen verurteilte mindestens die Hälfte befragter deutscher muslimischer Jugendlicher einige Handlungen, die die katholischen – entgegen kirchlichen Normen – dem persönlichen Bereich zurechneten (Sex vor der Ehe, Selbstmord, Homosexualität) (Stefan Weyers u.a.).
Auch zum Problem der moralischen Aggregation liegen Daten vor – etwa zur Trolley-Vignette: ‚Sollte man den Weichenhebel umstellen, sodass der heranfahrende Zug nur einen statt der ansonsten fünf bedrohten Bauarbeiter überrollt?‘ Eine Metaanalyse zeigt: Diese Frage bejahten nur etwa zwei Drittel der professionellen Philosophen, hingegen fast alle Laien. Auch beim Flugzeugabschuss votierten die Allermeisten für die Rettung der größeren Zahl. Befunde dieser Art werfen die in den Texten ausgeblendete Frage auf: Auf wessen „intuitive Annahmen“ (Michael Slote) können wir uns berufen? Welche „der moralischen Überzeugungen des einfachen Menschen“ sind „keine Meinungen, sondern von vorneherein Wissen“ (Ross)?
Die Herausgeber empfehlen den Band für einführende Universitätsseminare oder den Oberstufenethikunterricht – sie empfehlen also Lektüre unter professioneller Anleitung. In der Tat sind – neben einigen gut lesbaren und klar argumentierenden Texten (insbesondere Ross, Nagel, H.L.A. Hart, Scanlon) – etliche Beiträge für Laien eher schwer zugänglich. Aber für die gemeinsame Erarbeitung differenzierter Überlegungen zur moralischen Kernfrage ‘Was soll ich tun?‘ ist dieser von den Herausgebern klug zusammengestellte und sehr informativ kommentierte Band gut geeignet.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
|
||