Die Magie der Literatur

In Anthony Doerrs Roman „Wolkenkuckucksland“ finden die Figuren Hoffnung und Mut in der Ausweglosigkeit

Von Marisa MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marisa Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anthony Doerrs titelgebendes Wolkenkuckucksland ist ein Ort, an den sich alle sehnen; ein Ort, der eine Zuflucht bildet, das Entkommen aus menschlichen Miseren ermöglicht und gleichzeitig einen Beweggrund bietet, niemals aufzugeben. Wolkenkuckucksland erzählt von einer

Stadt am Himmel, wo Wein durch die Straßen floss und Schildkröten mit Honigkuchen auf dem Rücken herumwanderten! Wo es niemandem an etwas mangelte, der Westwind ohne Unterlass wehte und alle weise waren!

Das sagenumwobene Land hoch oben in den Wolken mutet an wie ein Garten Eden, ein Paradies, von dem alle fünf Hauptfiguren träumen. Die Handlung des Romans erstreckt sich über 700 Jahre: Die junge Waise Anna lebt im Konstantinopel des 15. Jahrhunderts. Zeitgemäß existieren kaum Bücher, die Bevölkerung besteht überwiegend aus Analphabeten. Anna, die erst zwei Mal in ihrem Leben ein Buch gesehen hat, ist fasziniert von Buchstaben und Worten. Sie entflieht ihrem harten Alltag als Näherin, indem sie von einem betagten Lehrer heimlich Altgriechisch lernt.

Während sie den Boden des Arbeitsraums fegt, einen weiteren Ballen Stoff holt, einen Eimer Kohlen, […] die Finger taub, Atemwolken über der Seide, übt sie die Buchstaben auf den tausend leeren Seiten in ihrem Kopf ein. Jeder steht für einen Klang, und die Buchstaben und ihre Klänge zu verbinden heißt, Wörter zu bilden, Wörter zu verbinden, Welten zu schaffen.

Die LeserInnen begleiten Annas Lernprozess und das damit verbundene Glücksgefühl, die Umwelt Stück für Stück zu entschlüsseln, auf so eindringliche Art und Weise, dass auch Erinnerungen an eigene, erste Leseerfahrungen entfacht werden.

Fast über Nacht erstrahlt die Welt in neuer Bedeutung. Sie liest die Inschriften auf Münzen, auf Grund- und Grabsteinen, auf bleiernen Siegeln, Strebepfeilern und auf in die Stadtmauer eingelassenen Marmorplatten – jede verwundene Straße der Stadt ist ein eigenes zerschlissenes Manuskript.

Schließlich entdeckt Anna einen Kodex, der die Reise des Hirten Aethon zum Wolkenkuckucksland schildert. Diese Metaerzählung webt der Autor wie einen roten Faden einerseits zwischen den Kapiteln als weiteren Erzählstrang ein, andererseits als direkte Begegnung zwischen den ProtagonistInnen und dem fiktionalen Buch.

Neben Annas Lebensweg werden auch die Schwierigkeiten der anderen Figuren geschildert. Der im späten Mittelalter lebende Omeir wird aufgrund grassierenden Aberglaubens von Menschen gemieden und auch die im 20. und 21. Jahrhundert lebenden Figuren erfahren soziale Ausgrenzung. Unabhängig von zeitlichen sowie örtlichen Gegebenheiten demonstriert Doerr damit Archetypen menschlicher Verhaltensweisen, die sich wie ein Fluch durch die Menschheitsgeschichte zu ziehen scheinen.

Die Figur des Seymour beispielsweise lebt in den 2000er Jahren, seine Hypersensibilität lässt ihn bereits früh in der Schule zum Außenseiter werden. Er braucht fast überall einen Gehörschutz, um dem für ihn unerträglichen „Lärm der Welt“ zu entkommen. Sein einziger Freund ist eine Eule, sein „Trustyfriend“, dem er sich anvertraut. Als er diesen verliert, radikalisiert sich sein weiterer Lebensweg.

Zeno muss als kleiner Junge mit dem Verlust seines im Krieg gefallenen Vaters zurechtkommen, er findet regelmäßig Zuflucht in der Stadtbibliothek. Später muss auch er im Koreakrieg dienen, wo er die Liebe seines Lebens kennenlernt. Doch weil er sich seine Homosexualität nicht eingesteht, bleibt sie unerwidert.

Je weiter die Romanhandlung fortschreitet, desto mehr wird die Verbindung zwischen den Figuren deutlich. Doerr erschafft mit Wolkenkuckucksland ein komplexes Netz, durchzogen von Leitmotiven und außerliterarischen Ereignissen; beginnend mit der Eroberung Konstantinopels zum Ende des Mittelalters, über den Zweiten Weltkrieg, den Koreakrieg bis hin zum anthropogenen Klimawandel, dessen Folgen Doerr sowohl in den 2000er bis 2020er Jahren als auch in den sogenannten „Missionsjahren“ der dystopischen Zukunft thematisiert. Gleichwohl folgt der Roman nicht der historischen Chronologie. Diverse Handlungsstränge wechseln sich über die Jahrhunderte in Form kurzer Kapitel ab. Durch die Vermengung außerliterarischer Realität mit fiktionalen Ereignissen und Figuren quer durch die Jahrhunderte spielt Doerr mit den Erwartungen der LeserInnen. So lohnt sich zweifelsohne ein mehrmaliges Lesen.

Aristophanes‘ antike Komödie Die Vögel bildet die Grundlage für Doerrs Roman, insbesondere das von ihm entworfene Traumland ist davon inspiriert. Das Motiv des Vogels greift Doerr immer wieder auf. Vor allem als Analogie, wenn die Hauptfiguren davon träumen, wie ein Vogel hinfort zu fliegen; Doerr muss zugleich Kenntnisse über verschiedenste Flugtiere erlangt haben: Krähen, Dohlen, Wiedehopfe, Falken, Rotschenkel, Wachteln, Reiher, Schwarzkehlchen, Möwen, Schwalben, Elstern, Helmspechte, Sumpfhühner, Spatzen, Kormorane, Kuckucke und mehr. Die frequente Einstreuung der Vogelnamen mutet an der einen oder anderen Textstelle willkürlich an. Negativ fällt auch die häufige Durchbrechung des Spannungsbogens auf, denn die gekonnt aufgebaute Dramatik findet oftmals durch häufige Wechsel zwischen den zahlreichen Erzählsträngen rigoros ein Ende, teils mitten im Satz und nahezu jedes Mal als Cliffhanger. Obwohl dies für Verdruss bei den LeserInnen sorgen mag, versteht sich Doerr dennoch darauf, die LeserInnen immer wieder zügig in die im Präsens geschriebenen Fragmente eintauchen zu lassen. 

Der Roman ist sprachlich nicht zu fordernd und verständlich geschrieben. Manchmal schleichen sich an der ein oder anderen Stelle altertümliche Begriffe wie „Schalk“ ein. Spannend sind auch die vielen intertextuellen Verweise, Eindruck hinterlässt insbesondere das Lied der heimkehrenden Seemänner aus Homers Odyssee, denn das sichere Nachhausekommen kontrastiert die sonst vorherrschende Not zur Flucht.

Egal wie nah die Figuren am Abgrund stehen, sie schöpfen durch die Erzählung über die Reise zum Wolkenkuckucksland Hoffnung. Während über die Jahrzehnte und Jahrhunderte um und mit den Figuren alles zerfällt, spendet das fiktionale Buch starke Zuversicht. Sowohl die Geschichte als auch das Buch selbst überdauern bis in die Zukunft. Doerr kreiert mit Wolkenkuckucksland im doppelten Sinne eine Hommage an die magische Wirkung von Büchern, um in andere Welten einzutauchen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Anthony Doerr: Wolkenkuckucksland.
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence.
Verlag C.H.Beck, München 2021.
560 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783406774317

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