Biografie und Werk zwischen Realität und Fiktion

Zum 125. Geburtstag des Schriftstellers und Außenseiters Jakob Haringer

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jakob Haringer, heute fast vergessen, war eine der schillerndsten Figuren der deutschen Literatur in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, ein Hochstapler, Aufschneider, Schnorrer und … die Aufzählung ließe sich weiter fortsetzen. Große Teile seiner Biografie gehören in das Reich der Dichtung. Bereits über sein Geburtsjahr verbreitete er später mehrere Versionen. Heute lässt sich sein lyrisches Werk kaum noch genauer abschätzen; er hat wohl über tausend Gedichte geschrieben, verstreut in zahllosen Zeitschriften oder in eigenen Privatdrucken, für die er mehrere Phantasieverlage gründete.

Jakob Haringer wurde als Johann Franz Albert am 16. März 1898 in Dresden-Neustadt als Sohn eines ambulanten Buchhändlers (Johann Baptist Haringer) und einer Münchner Zigarettenverkäuferin (Franziska Albert) geboren, die aber erst später heirateten. Es war eine zufällige Reise seiner Eltern. Daher setzte Haringer später das Gerücht in die Welt, dass ihn seine Mutter in einem Eisenbahnzug kurz vor Dresden zur Welt gebracht hatte. Vielleicht war die merkwürdige Geburt ein Omen auf sein späteres Leben, denn Haringer blieb zeitlebens ein Reisender. Mit seiner Geburtsstadt verband ihn jedoch nichts; in seinem späteren Werk fand sich keine einzige Erwähnung.

Über seine Kindheit und Jugend gibt es wenig gesicherte Angaben. Die ersten Kindheitsjahre verbrachte Haringer in München, besuchte dort und später in Salzburg die Volksschule, anschließend die Realschule in Traunstein und Ansbach. Nach Abbruch einer kaufmännischen Lehre in einer Salzburger Feinkosthandlung begann sein unstetes Wanderleben. Unruhvoll trieb es ihn von Ort zu Ort; dabei sind die zahllosen, meist kurzzeitigen Aufenthaltsorte nur noch bruchstückhaft zu belegen. Bis Haringer im Februar 1917 zum Militärdienst eingezogen wurde, verdingte er sich wahrscheinlich als Tagelöhner, Kneipenpianist oder kleiner Angestellter. Zunächst wurde er an die Westfront in Flandern abkommandiert, jedoch ein Jahr später wegen eines Herzklappenfehlers für dienstuntauglich erklärt. Zwei Jahre später war Haringer in München, wo er mit der Revolution sympathisierte. Dass er dort eine aktive Funktion innehatte, dafür gibt es jedoch keinerlei Belege. Nach der Niederschlagung der Münchner Räterepublik wurde er für kurze Zeit inhaftiert. Danach wollte der 21Jährige in ein Kloster eintreten, doch nach zwei Wochen setzte er sein Wanderleben fort. Sein Zuhause war offenbar die Landstraße.

Die Nachkriegszeit bot mit ihren zahlreichen literarischen (meist kurzlebigen) Periodika jungen Autoren Publikationsmöglichkeiten – so auch für Haringer, der schon im Januarheft 1917 der anthroposophisch ausgerichteten Zeitschrift Das Reich zwei Gedichte veröffentlichen konnte. Weitere Gedichte schickte er an die unterschiedlichsten Redaktionen – vielfach mit Erfolg, z.B. bei den Weimarer Blättern, der Münchner Bücherkiste, im Heidelberger Saturn, in der Monatszeitschrift Sturmreiter oder Georg Brittings expressionistischer Literaturzeitschrift Sichel.

In den 1920er Jahren folgten weitere Veröffentlichungen. Meist in kleinen Ein-Mann-Verlagen, die für lyrische Experimente offen waren, erschienen erste Gedichtsammlungen: Hain des Vergessens (1919, Dresden), Die Kammer (1921, Regensburg) oder Kind im grauen Haar (1926, Frankfurt/M) – meist in Auflagen von wenigen hundert Exemplaren. Andere Gedichtbändchen (u.a. Weihnacht im Armenhaus (1924) oder Das Marienbuch (1925)) hatte Haringer als Privatdruck im selbstgegründeten Christof Brundel Verlag Amsterdam veröffentlicht. Hier gab er 1928/29 mit Die Einsiedelei. Ein Stundenblatt sogar ein eigenes Publikationsorgan heraus. Neben der Lyrik schrieb er auch Prosa und übersetzte aus dem Französischen (Francois Villon und Arthur Rimbaud) sowie dem Chinesischen.

Ein Vagabund wie Haringer war natürlich kein verlässlicher Autor für Buchverlage. So klopfte er bei prominenten Dichterkollegen an, deren Adressen er Kürschners Deutschem Literaturkalender entnahm. Ihnen schickte er seine Gedichte, damit sie ihm den Weg in die Redaktionen der Zeitschriften und Verlagen bahnen würden. Neben dieser Unterstützung war Haringer auch auf Obdach oder Unterschlupf angewiesen. Nirgends war sein Aufenthalt jedoch von längerer Dauer. Wegen eines Vergehens gegen das Zollgesetz (Teppichschmuggel) wurde er 1926 steckbrieflich gesucht. Der Ärger mit den Behörden und die Strafverfolgung zogen sich über Jahre hin.

Haringer wurde von Erich Mühsam, Hermann Hesse oder Franz Werfel gefördert, die ihn nach seinen oft herzerweichenden Bettelbriefen auch immer wieder mit finanziellen Mitteln unterstützten. Sein wichtigster Fürsprecher war jedoch Alfred Döblin, der sich dafür einsetzte, dass 1925 im Gustav Kiepenheuer Verlag der Band Dichtungen erschien, wodurch Haringers Name in der literarischen Öffentlichkeit weithin bekannt wurde. Durch die Empfehlung von Franz Werfel und Alma Mahler-Werfel erschienen zwei Gedichtbände (Heimweh (1928) und Abschied (1930)) in dem renommierten Wiener Verlag Paul Zsolnay.

Zählebig hielt sich das Gerücht (selbst in seriösen Publikationen), dass Haringer 1926 den Kleistpreis erhalten haben soll. Der ging aber an den österreichischen Schriftsteller Alexander Lernet-Holenia und den deutschen Autor Alfred Neumann. (In Wirklichkeit stand Haringer wohl zweimal auf der Kandidatenliste.) Der angebliche Gerhart-Hauptmann-Preis war ebenfalls eine reine Erfindung.

Im November 1931 kaufte Haringer, der mit der Schauspielerin Hertha Grigat zusammenlebte, ein kleines Häuschen bei Salzburg. Aus der Verbindung gingen zwei Kinder hervor. Nach einem Zerwürfnis trennten sich die Partner bereits nach zwei Jahren und Haringer verkaufte das Haus wieder.

Von den Nationalsozialisten wurde Haringer als „übler Vertreter des jüdischen Kulturbolschewismus“ gebrandmarkt und ihm am 22. Juli 1936 die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen. Im März 1938, kurz vor dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Österreich, gelang ihm die Flucht nach Prag, dann über Straßburg in die Schweiz. Die folgenden Kriegsjahre wurden für Haringer eine traumatische Odyssee: Er lebte abwechselnd in Paris und illegal in der Schweiz, versteckte sich dann bei Freunden, wurde aber immer wieder von der Polizei aufgegriffen und außerdem in verschiedenen Flüchtlingslagern interniert. Eine Hilfsorganisation ermöglichte es ihm schließlich, sich ab 1943 in Bern niederzulassen. Nach Kriegsende siedelte Haringer nach Köniz bei Bern über, wo man ihm zwei Zimmer im Dachgeschoss eines Bauernhauses zur Verfügung stellte. Hier entstand sein letzter Gedichtband Das Fenster, der 1946 im Züricher Pegasus-Verlag erschien. Jakob Haringer starb am 3. April 1948 bei einem Besuch in Zürich. Sein Nachlass befindet sich heute im Schweizerischen Literaturarchiv in Bern und im Salzburger Literaturarchiv.

Nach seinem Tod schwand das Interesse an Haringer und seinem lyrischen Werk sehr schnell. Erst auf Anregung durch den Aufsatz „Hinweis auf einen Vergessenen“ von Peter Härtling in der Zeitschrift Der Monat erschien 1962 im Züricher Classen Verlag mit Lieder eines Lumpen – Aus dem Gebetbuch des Jakob Haringer eine schmale Auswahl seiner Gedichte. Viele, viele Jahre später folgten der Hanser Verlag mit Das Schnarchen Gottes und andere Gedichte (1979, Hg. Jürgen Serke), der Aufbau-Verlag mit In die Dämmerung gesungen – Ausgewählte Gedichte (1982, Hg. Wulf Kirsten) und der Residenz Verlag mit Aber des Herzens verbrannte Mühle tröstet ein Vers. Ausgewählte Lyrik, Prosa und Briefe (1988, Hg. Hildemar Holl). Die Auswahl In die Dämmerung gesungen zeichnete sich dabei vor allem durch die Aufnahme zahlreicher Gedichte aus Haringers letztem Lyrikband Das Fenster aus. Der Journalist und Schriftsteller Jürgen Serke beleuchtete außerdem 1977 in seinem Lesebuch Die verbrannten Dichter – Lebensgeschichten und Dokumente (Beltz Verlag) neben anderen verfolgten, vergessenen und verdrängten Autorinnen und Autoren auch Leben und Werk (mit zahlreichen Gedichtbeispielen) von Jakob Haringer (Ein Schandmaul betet zu Gott).

Danach wieder jahrelanges Schweigen. Schließlich erschien 2018 im Berliner Verlag Die Buchmacherei mit Du bist für keinen Stern, kein Glück geborn! eine etwas umfangreichere Anthologie (Auswahl Dieter Braeg), die auf über 300 Seiten Leben, Prosa und Lyrik vorstellte. Es war die erste Biografie über den vergessenen Schriftsteller, der sich selbst einmal als „eigenes Versuchskarnickel“ und „ekelhaftestes Laboratorium“ bezeichnete.

Den 125. Geburtstag von Jakob Haringer würdigt der Märkische Verlag mit einem neuen Heft (373) seiner beliebten Lyrikreihe Poesiealbum. Die Auswahl der immerhin fünfzig Gedichte besorgte der Schriftsteller und Lektor Klaus Siblewski, der dabei auf die genannten Ausgaben aus den Jahren 1962, 1982 und 1988 zurückgriff. Die Gedichte überraschen durch ihre Spontanität und Einfachheit, mit der sie häufig die Heimatlosigkeit und Einsamkeit des Autors ausdrücken:

Ich bin viel zu unpraktisch für die Welt und die Fraun und das Leben.
Ich habe kein Talent für das Glücklichsein und die Fraun.
Ich bin kein Diplomat, und so ging mir immer alles daneben –
Aber ist’s nicht viel schöner, alles bloß von der Weite anzuschaun?
[…]
Wenn auch das Glück und die schönen Dinge mich wie ein dummes Kind auslachten –
Ich will viel lieber still zu den Büchern und zu meinem Grammophon heimgehn.
Und ich will tausendmal lieber verlassen und ganz allein sein.

Neben den Gedichten, in denen Biografisches oder die eigenen Empfindungen verarbeitet werden, wirft Haringer auch einen kritischen Blick auf die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche der Weimarer Republik – bis hin zur Verachtung der bürgerlichen Ordnung, mitunter mit wilden Beschimpfungen gegen Gott und die Welt:

Ehrliche Fäuste liebt Gott oft mehr
Als betende Hände, die lügen so sehr,
Die lügen Demut und kindliches Tun,
Und sind voll Ehrgeiz und wollen Ruhm.

Haringers Lyrik steht weitgehend jenseits des Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit. Sie zeichnet sich durch eine bildhafte Metaphorik und gleichzeitig durch einen gewissen Volksliedcharakter aus. Der Komponist Arnold Schönberg (1874-1951), den er ebenfalls um Unterstützung gebeten hatte, vertonte mehrere Gedichte von ihm. Mit Vorliebe bediente sich Haringer der Langzeile. Die Texte, die zum Prosagedicht tendierten, gaben ihm die Möglichkeit, sein Lebensgefühl auszudrücken und die häufig ausufernde Sprachfülle zu bewältigen. Bereits 1947, ein Jahr vor Haringers Tod, ahnte der Lyriker und Kritiker René Schwachhofer (1904-1970) wohl dessen künftige Geringschätzung voraus: „Haringer hat einige der schönsten deutschen Gedichte geschrieben; sie könnten im Volksmund umgehen. Einst wird man fragen: Wer war ihr Verfasser?“ Ganz so weit ist es glücklicherweise nicht gekommen. Mit dem neuen Poesiealbum-Heft hat man nun die Möglichkeit eines ersten Kennenlernens.

Titelbild

Jakob Haringer: Poesiealbum 373. Auswahl von Klaus Siblewski. Grafik von HAP Grieshaber.
GTIN: 9783943708738.
Märkischer Verlag, Wilhelmshorst 2022.
32 Seiten, 5,00 EUR.

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