Der Mann und die falsche Hierarchisierung der Künste

Gunilla Palmstierna-Weiss erzählt in „Eine europäische Frau“ nicht nur ihr Leben, sondern mehr als ein halbes Jahrhundert Kulturgeschichte

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Mann von Gunilla Palmstierna-Weiss, Peter Weiss (1916–1982), erhielt 1982 den Georg-Büchner-Preis. Bevor er an den Folgen eines zweiten Herzinfarkts verstarb, machte er sich noch Notizen für die Dankesrede – die er nicht mehr halten konnte. Stattdessen hielt Gunilla Palmstierna-Weiss ihre Rede, abgedruckt in ihren Memoiren, die 2013 in Schweden und in überarbeiteter Fassung auf Deutsch 2022 erschienen sind (kurz vor ihrem Tod im Alter von 94 Jahren). Ein bewegendes Stück Literatur, das Palmstierna-Weiss da geschrieben hat, weil es ihr auch hier, wie oft in diesem Buch, gelingt, einerseits direkt und klar persönliche Beziehungen darzustellen, die sie zugleich (dies besonders im Zusammenhang mit Peter Weiss), in ihren politischen und kulturellen Kontext einordnet. Dabei bleibt sie stets (ich  hoffe, das klingt nicht zu verschmockt), zurückhaltend und dezent, ohne etwas zu verschweigen. Zwei Beispiele hierfür:

Nur einmal erwähnt Palmstierna-Weiss, dass sie an Lungenkrebs erkrankt war. Als sie deswegen „zur Bestrahlung musste“, wurde sie von einer ihrer Lebensfreundinnen, Anna-Lena Wibom, morgens abgeholt und ins Krankenhaus gebracht, „wo ich eine fünfstündige Behandlung absolvieren musste. Zwischen all den Tropf-Tüten und Kabeln servierte“ Anna-Lena Wibom „ein deftiges Mittagessen für mich und die übrigen Patienten. In diesem Science-Fiction-Milieu führte sie ein irrationelles, lustbetontes Moment ein“. Ist das nicht prima? Genau beobachtet, en passant eine lebensbedrohliche Erkrankung beschreibend und zugleich den Anteil einer wichtigen Freundschaft an ihrem Leben ebenso nebenbei einführend. Wie überhaupt dies Buch auch ein Buch über große Freundschaften ist (das Personenverzeichnis umfasst fast 15 Seiten, und da stehen nicht nur Marx oder Zola drin).

Das zweite Beispiel: Als Palmstiernas Bruder Hans sechs Jahre alt ist, sie vier, also etwa 1932 verschwinden urplötzlich die Eltern: „Auch wenn es wenig Umgang mit den Eltern gab, spürten wir doch, dass sie da waren, was sich jedoch brutal veränderte. Aus einem für uns Kinder seltsamen und unerfindlichen Grund“ waren sie plötzlich weg, „nachdem sie eines Abends zu uns ins Zimmer gekommen waren, uns geweckt und umarmt hatten. Nur das Kindermädchen blieb“. Nüchtern und doch klar wird die schreiende Not ersichtlich und das weitere sicher für einen sechs- und eine vierjährige schwer verdaubare Schicksal: „Plötzlich wurde die Wohnung von fremden Menschen bevölkert.“ Das Schlafzimmer der Eltern „wurde von einem uns unbekannten Paar in Beschlag genommen. Auch in weiteren Räumen durften wir uns nicht aufhalten. Türen, die früher offen standen, waren nun verschlossen“, Hans und Gunilla durften nur noch ins Kinderzimmer, die Küche und das Badezimmer des Personals: „Alles geschah ohne jede Erklärung, weil sie uns schonen wollten, aus purer Fantasielosigkeit oder weil Kinder als Gesprächspartner nicht zählten bzw. man davon ausging, dass Kinder nichts verstünden.“

Überhaupt herrscht bei allen Erwachsenen zumeist heilloses Chaos, liest man Palmstierna-Weiss‘ weitausgreifende Familiengeschichte, die sie 1838 mit Peder Herzog, ihrem Urgroßvater mütterlicherseits beginnen lässt. Da werden Frauen ausgespannt, Kinder gemacht, um die man sich nicht kümmert, die purzeln aus dem Bauch und niemand juckt´s. Vor allem die Männer kümmern sich oft einen Dreck um ihre Nachkommenschaft und die Frauen können oft gucken, wo sie bleiben, auch finanziell.

Palmstierna-Weiss wurde 1928 in Lausanne geboren, ihre (frühe) Biographie ist bestimmt, wenn auch nicht determiniert, denn sie hat ihren Bruder Hans, durch die schwierige, labile Mutter, so dass sie zum einen vielfachen Ortswechseln ausgesetzt ist, andererseits immer auch wieder mit seltsamen Männern, mit denen ihre Mutter zusammenlebt, zu tun hat. Ihr Vater ist wenig greifbar, die Ehe wird geschieden, und alle Erwachsenen gehen ihrer Wege, ihre Mutter ist dann mit einem Psychoanalytiker in Rotterdam liiert, dort leben sie, der wiederum scheint, so beschreibt es Palmstierna-Weiss doch eher eine Borderline-Persönlichkeit gewesen zu sein.

Palmstierna-Weiss ließ sich zur Keramikerin ausbilden, wurde Bildhauerin und später vor allem Bühnen- und Kostümbildnerin. Es ist wichtig und richtig, dass Palmstierna in einem langen Abschnitt („Gedanken zu Bild und Raum“) nicht nur ihre Produktionen beschreibt, sondern die klassische Hierarchisierung der Künste damit korrigiert. Keramik und oft auch Bühnenbild werden ja doch eher als „Kunsthandwerk“ eingeordnet, hier wirkt nicht das männliche Originalgenie – als würden Menschen mit Kunst nicht am ehesten in ihrem Alltagsleben in Kontakt kommen oder als wäre das Bühnenbild für eine Theaterinszenierung nur eine aus Holzlatten zusammengebastelte Kulisse.

Hier gibt es eine mehrfach instruktive Geschichte, die Palmstierna-Weiss 1965 mit dem Regisseur Fritz Kortner am Schillertheater in Berlin bei der Vorbereitung einer Inszenierung von Macbeth erlebt. Der, so Palmstierna-Weiss, sei „bei seiner Rückkehr nach der langen Flucht aus Nazideutschland ein mürrischer, rachsüchtiger alter Mann“ gewesen. Dass er darüber hinaus eine junge Frau kleinmachen will: gilt sowieso. Obwohl Palmstierna-Weiss sehr gut deutsch sprach, gab es ein sprachliches Missverständnis. Sie zeigte ihm ihre Skizzen, er maulte, das sei Kunstgewerbe, worauf sie nicht reagiert – was ihn ärgert bis er es erklärt: mindere Ware. Doch in Schweden gab es diese Hierarchisierung nicht – ist es nicht schön, dass ein sprachliches Missverständnis hier die falsche Hierarchisierung und auch Machotum ins Leere laufen ließ? (Die Geschichte zwischen Kortner und Palmstierna-Weiss ging noch weiter nach seiner Machtdemonstration – wie, das wird hier nicht verraten).

Das Bühnenbild sieht man oft nicht. Und andere Arbeit, die eingeht in die Arbeit großer Männer (wie zum Beispiel Peter Weiss, der, dazu später, durchaus auch seine Macho-Allüren hatte, auch wenn Palmstierna-Weiss und Weiss sich intellektuell und künstlerisch stets auf Augenhöhe begegneten und eine Arbeitsgemeinschaft bildeten) zumeist auch nicht.

Weiss konnte kein Französisch, doch für sein Stück Marat/Sade waren Kenntnisse nötig. Die Recherchen führte Palmstierna 1963 durch, sie fuhr nach Paris in die Bibliothèque  Nationale, „Material zu suchen“, sie „las und las, aber vor allem ging ich das Bildmaterial durch. Fast alles, was ich suchte, gab es dort und noch mehr. Meine ganze Mühe wurde durch das reiche Bildmaterial, das ich mitnahm, belohnt“. Sie fand fast 400 Bilder, zurück in Stockholm begann die künstlerische Umsetzung der Recherche: „Wie sollte man dieses umfangreiche Material in ein lebendiges, funktionales Bühnenbild verwandeln, das dem Rhythmus der Wörter und der verschiedenen Szenen gerecht wird? Für den visuellen Teil des Stücks war ich allein verantwortlich. Peter schrieb wie besessen“.

Peter Weiss war durchaus klar, dass seine Theaterstücke nur mit einer Umsetzung funktionierten. Aber so ganz ein neuer Mann war er nun auch nicht. Man hört an einigen Stellen heraus, dass Palmstierna eher mütterliche Care-Arbeit an ihm verrichtet. Außerdem hat er Affären, die mit Maria Augstein 1972 will er nicht aufgeben. Er will eine Ménage à trois, Palmstierna nicht, sie redet mit Maria Augstein, ‚überantwortet‘ Peter an sie. Sie habe nun die Verantwortung, „sich um ihn zu kümmern. Das empfand er als Verrat“. Jedenfalls packt sie morgens früh um vier ihre Sachen: „Als Peter begriff, dass ich ihn verlassen würde, vielleicht für immer, schrie er: „Und wer kümmert sich um mich, wenn ich noch einen Herzinfarkt bekomme?“ „Maria“, erwiderte ich. Peter fuhr fort: „Du bist doch eine emanzipierte Frau, könntest du dir nicht vorstellen, in einer Ménage à trois zu leben?“ Palmstierna: Gerade weil sie eine emanzipierte Frau sei, also unabhängig, vor allem auch finanziell unabhängig, „‘habe ich die Wahl. Ich wähle die Rückkehr in die Freiheit, die mir gefühlsmäßig teuer zu stehen kommen wird‘“, aber bleiben könne sie nicht.

Es folgten Monate des Nachdenkens, der Frage, was hält einen zusammen? Ihre Bindung und Beziehung war ein starkes „Bauwerk“, schließlich schreibt sie ihm einen Abschiedsbrief nach Berlin, Weiss kam nach Stockholm, es folgten sicher quälende Monate: „Das Leben ging weiter unter Schweigen, bis wir uns einen Nachts, wie wir dachten, zum Abschied für immer zusammenfanden. Zu meinem Erstaunen wurde ich schwanger“, im Alter von vierundvierzig, die Tochter Nadja wurde geboren. Mit ihr ging die Familiengeschichte weiter. Und da Nadja Weiss wiederum eine Tochter hat, Thyra, geht es weiter. Palmstierna macht hier deutlich, dass sich die Geschichte öffnet, dass sie weitergeht und sich zugleich auch eine Kreisbewegung da sein könnte. Zum Schluss ihres Buches findet sich eine Zeichnung ihrer Enkelin Thyra: „Auffallend“ sei, „dass viele ihrer Bilder an Peters surrealistische Werke erinnern, obwohl Thyra ganz wenig von Peters Kunst gesehen und ihn aus natürlichen Gründen nie getroffen hat. Vielleicht wird das Zeichnen ihre Zukunft sein.“

Neben den desolaten Geschlechterverhältnissen, den desolaten Familienverhältnissen, bei denen die Kinder eigentlich erwachsener sind als die Eltern, neben der berührend-komplexen Beziehungsgeschichte zwischen Gunilla Palmstierna-Weiss und Peter Weiss, den faszinierenden Einblicken in die Theatergeschichte will ich zum Schluss nur noch kurz einen letzten Eindruck erwähnen. Die Zeit der politischen Kunst wie sie für Palmstierna-Weiss, Weiss und viele andere nach dem Zweiten Weltkrieg selbstverständlich war, ist vorbei. Ist das schade? Unumgänglich.

Titelbild

Gunilla Palmstierna-Weiss: Eine Europäische Frau. Erinnerungen.
Verbrecher Verlag, Berlin 2022.
600 Seiten , 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783957325174

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