Ach Mist, nur ein Kompromiss. Oder zum Glück?
Die Philosophin Véronique Zanetti durchwandert ein ebenso komplexes wie ungeliebtes Gefilde
Von Kai Sammet
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseOft kam beim Sprachenlernen zum Üben von Frage und Negation ein doofer Dialog vor: Aimes-tu les montagnes?
Non, je nʼaime pas les montagnes. Jʼaime la mer.
Das wird eine Sackgasse, wenn ein frisch verliebtes Paar in den Urlaub will. Was tun? Weil alles frisch ist, trotzdem in die bekloppten Steinmassen fahren? Oder sich am Meer langweilen? Vielleicht hältʼs die Liebe aus, jedenfalls muss ein Kompromiss her. Wie sähe der aus? Was könnten seine Grundmuster sein? Gibt es „Spielarten“, „multiple Facetten“ des Kompromisses? Das zu erkunden, darum geht es Véronique Zanetti, Professorin für Politische Philosophie in Bielefeld: Ob es einem passt oder nicht, dauernd geht man Kompromisse ein, sie sind „geradezu unumgänglich“. Warum sind sie „trotzdem so unbeliebt“? Weil sie nur second best sind? Aber wo wäre das Beste erhältlich? Nirgends natürlich. Das haben wir grade erlebt: Zanetti führt die Aushandlungen während der Covid-Pandemie an. Da waren Kompromisse „zwischen gegenläufigen Erfordernissen“ unvermeidlich. Freiheitseinschränkungen vs. Schutz der Gesundheit (nicht nur) vulnerabler Gruppen.
Für einen Kompromiss muss es minimale Regeln geben, na klar. Eine ist essentiell: „Fairness der Verhandlungsführung“. Das scheint trivial, ist es aber nicht. Denn (1) muss man sich vorgängig a bisserl vertrauen, dass man nicht bescheißt und nicht beschissen wird. Das ähnelt dem Böckenförde-Diktum. Wie der freiheitliche Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann, so lebt ein Kompromiss von Voraussetzungen, die er auch nicht garantieren kann. (2) Überdies lebt ein Kompromiss vom Paradox, dass diese Grundvoraussetzung keinem Kompromiss unterworfen sein darf. Ein Kompromiss mit Menschen, die keinen Kompromiss machen (können), weil sie von absoluten Werten ausgehen, ist nicht möglich. Man sieht hier das Problem, dem sich u.a. der Weimarer Staatsrechtler Hans Kelsen gegenübersah. Eine Demokratie sei die „politische Koexistenzordnung einer pluralen Gesellschaft“, also einer Gesellschaft, in der unterschiedliche Gruppen unterschiedliche Werte vertreten. Eine Demokratie muss also gewissermaßen wertrelativistisch sein. Die Konsequenz einer solchen „relativistischen Wertetheorie“, so Zanetti, sei, die „Demokratie nicht denen aufzuzwingen, die eine andere Regierungsform vorziehen“, der politische Kampf müsse im „Geiste der Toleranz ausgetragen werden“. Ja, schon, aber wie geht Toleranz gegenüber Intoleranten, die Kompromisse überhaupt Mist finden und die demokratische Staatsform nicht nur ablehnen, sondern abschaffen wollen? Zero tolerance.
Gibt es weitere Bedingungen für einen Kompromiss außer Kein-Kompromiss-mit-Kompromisslosen und Nicht-Bescheißen? Ja, oft. Auch wenn das bei der Praxis des Kompromisses nicht immer so läuft: (1) Aushandlung: Regeln des Findens eines Kompromisses werden oft pragmatisch im Prozess erstellt. (2) Es gilt: Keine Gewaltanwendung (wiederum eine Voraussetzung, die sich nicht selbst voraussetzen kann). (3) Es muss beidseits eine minimale Akzeptanz der Ansprüche der anderen Seite geben: der/die Andere muss als VerhandlungspartnerIn anerkannt werden. (4) Beide (oder auch: mehr als zwei) Parteien müssen aus freien Stücken verhandeln: ein Messer an der Gurgel erlaubt keinen Kompromiss. (5) Es müssen sich rationale Subjekte oder jedenfalls Subjekte gegenüber stehen, die man in ihrer Handlungsweise als rational – oft einfach: zweckrational – einschätzt. (6) Einem Kompromiss voraus geht eine Abwägung – meist auf jeder Seite allein: was will ich, was kann ich verhandeln, was ist nicht verhandelbar. Als Randbemerkung: Manchmal, man denke an Tarifverhandlungen, kann ein Kompromiss in einem (relativ einfachen) bargaining bestehen, da ist messbar, worum es geht, oft aber halt nicht.
Was wäre ein guter Kompromiss? Er müsste moralisch gut sein – das geht kaum, da sich oft unvereinbare Moralvorstellungen gegenüberstehen. Nehmen wir den Kompromiss bezüglich der Abtreibung. Ein/e radikale/r ‚Lebenschützer/in‘ kann unter der Prämisse, dass menschliches Leben schon mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle beginnt, Abtreibung nur als Mord sehen. Der § 218 StGB ‚kompromisst‘ sich da u.a. so heraus, dass Abtreibung verboten ist, aber unter bestimmten Bedingungen straffrei bleibt. Ist das nicht faul? Nicht, wenn man Rechtsfrieden – und – Sicherheit als höherwertiges Gut ansieht. Der § 218 wäre also instrumentell gut? Nun, er funktioniert.
Wichtig für die Güte eines Kompromisses ist auch, dass man etwas Vorzeigbares (für die eigene Partei) hat.
Muss ein Kompromiss „gerecht“ sein? Oft ist er das nicht, weil eine Partei auf viel mehr verzichtet als die andere. Doch ein Kompromiss entsteht in einer je speziellen historischen Situation. Die Apartheid in Südafrika wurde nicht aus purer Menschlichkeit aufgegeben. Es gab ein Patt: die weiße Minderheit konnte die schwarzen Südafrikaner nicht mehr in Schach halten, die mächtigen Sicherheitsorgane waren in Händen der Weißen. Der pragmatische Ausweg: man gründete die TRCs (Truth and Reconciliation Commissions). Ein Täter, zum Beispiel ein Folterer, erhielt Straffreiheit, wenn er sein(e) Verbrechen während der Apartheid gestand. Das Opfer ‚verzieh‘ ihm. Offensichtlich verzichtete das Opfer auf deutlich mehr, vielleicht zu viel, so dass Gerechtigkeit auf der Strecke blieb. Der frühere Bundespräsident Joachim Gauck notierte, er habe erlebt, „‘wie eine schwarze alte Dame vor der TRC stand und weinte. Zwanzig Jahre war es her, dass man ihren Sohn tötete. Sie kam aus bitterer Armut und ging zurück in bitterste Armut. Der Leutnant, der ihren Sohn erschoss (inzwischen Oberst), ging zurück in seine Villa, nachdem er ein bisschen Wahrheit gegeben hatte.‘“ Blieb hier nicht die Gerechtigkeit auf der Strecke? War das ein fauler Kompromiss?
Wann aber wäre ein Kompromiss wirklich faul? Der israelische Philosoph Avishai Margalit notierte dazu: (1) Man kann nicht mit Menschen verhandeln, die das absolut Böse verkörpern. (2) Wenn ein Kompromiss ein Unrechtsregime an die Macht bringt oder stabilisiert. Gleichwohl könnte ein Kompromiss klug sein (oft weiß man das erst im Nachhinein), obwohl man sich dabei die Hände schmutzig macht: das könnte der Fall sein, wenn eine Ärztin in einem Kriegsgebiet Kondome an Soldaten verteilt – ist das nicht eine Aufforderung zur (für die Soldaten folgenlosen) Vergewaltigung? Oder ist es schlicht klug? Moralisch kompromittierend? Verwerflich?
Anders sieht ein moralisches Dilemma aus. Ein Beispiel schildert William Styron in seinem Roman Sophies Choice. Die Jüdin Sophie wird in Auschwitz vor die Wahl gestellt, entweder sie wählt eines ihrer beiden Kinder zur Vernichtung aus, dann würde das andere überleben oder beide werden getötet. Welches soll sie wählen? Sophie trägt selbstverständlich „keine Schuld an der Situation“, sie fälle, so Zanetti, „kein falsches Urteil wenn sie eins der Kinder“ vorziehe, man müsse gar einen Schritt weiter gehen. Dilemmata seien „keine Fälle von moralisch beurteilbaren Entscheidungen“, da die „Symmetrie der Pflichten den moralischen Akteuren eine begründete Handlungsalternative verwehrt und ihnen bloß die Wahl lässt, überhaupt etwas zu entscheiden“.
Und weiter durchs Land der Kompromissbegrifflichkeiten. Zanetti meint, Verhältnismäßigkeitsabwägungen (die zum Beispiel das Bundesverfassungsgericht oft vornimmt) stellten eine Spielart des Kompromisses dar. Stimmt. Betrachten wir ein Prinzip der Genfer Konvention. Demnach dürfen Zivilisten in einem (zum Beispiel: Verteidigungs-) Krieg nicht getötet werden. „Da dieses Prinzip“, so Zanetti, „nicht vor dem unabsichtlichen Töten von Zivilisten“ schütze, müsse es durch das „Verhältnismäßigkeitsprinzip erweitert werden“, dieses solle „herauszufinden helfen, ob die erhofften Vorteile bezüglich des angestrebten Ziels die Nachteile seitens des verletzten Rechts überwiegen“. Ohne eine solche Abwägung der Verhältnismäßigkeit seien weder Selbstverteidigung (wie im Fall der Ukraine) noch humanitäre Interventionen rechtfertigbar.
Eine weitere Frage lautet: kann man mit sich selbst Kompromisse schließen? (Zur Seite gesprochen: Ich fürchte ja, man weiß es bloß nicht immer, weil man sich gern selbst täuscht). Zanetti meint ja. Und zwar dann, wenn (1) eine Handlung drängend anstehe, (2) müssten sich in mir widersprüchliche Werte finden, (3) ich kann zwischen beiden nicht wirklich in mir vermitteln, mithin tue ich etwas, was ich doch auch nicht für richtig erachte. Führt das dann (für mich) zu meiner Kompromittierung oder zu einem Verlust an moralischer „Integrität“? Mir scheint, diese Frage lässt sich kaum (?), gar nicht (?) beantworten.
In den nachfolgenden Abschnitten steigt Zanetti in den Maschinenraum innerphilosophischer Debatten hinab. Das ist vielleicht nicht so interessant, aber einige Notizen will ich machen. In welcher „Art von Moraltheorie“ hätten „Kompromisse überhaupt ihren Platz?“ In konsequentialistischen Ethiken, wie dem klassischen Handlungsutilitarismus, stellt sich die Frage nach dem Kompromiss nicht: Eine Handlung ist dann moralisch gut, wenn ihre Folgen gut sind. In deontologischen Ethiken hingegen – wie zum Beispiel der Kantischen mit dem kategorischen Imperativ – stellt sich die Frage wiederum nicht: es sind keine Kompromisse möglich, denn man darf ja (so die erste Formulierung des kategorischen Imperativs) nur nach jener Prämisse handeln, von der man zugleich wollen kann, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.
Auf weitere moraltheoretische Kandidaten, die Zanetti bespricht, gehe ich nur selektiv ein. Meines Erachtens sind das, wie erwähnt, innerphilosophische Debatten nach analytisch-philosophischem Braureinheitsgebot. Besteht nicht grade auch der philosophische Charme mancher Kompromisse in ihrer Schlamperigkeit?
Da ist (1) zuerst die Konventions- und Vertragstheorie der Ethik. Diese geht davon aus, dass es keine irgendwie gearteten Grundprinzipien gibt, Moralen sind Aushandlungsprozesse, stillschweigende Übereinkünfte. Eine Konvention wird eingeführt, sie wird durch Handeln und Gewohnheit bekräftigt, das schleift sich ein, Moral folgt Macht oder Trägheit. Ein Beispiel: Menschen sehen die absichtliche Verletzung eines anderen Menschen für gravierender an als eine unterlassene Hilfeleistung. Wie könnte sowas entstanden sein? Es gibt einen Handel zwischen Reichen und Armen, sie stellen sich wechselseitig aufeinander ein. Beide profitieren vom Verbot körperlicher Gewalt; Hilfeleistung brauchen Reiche nicht, Arme schon. Das ist natürlich unterkomplex und gut beobachtet. Dass sich Moral oft in Konventionen versuppt: ja klar. Aber gäbe es eine solche normative Kraft des Faktischen, dann wäre keine Kritik an Moral denkbar.
Da ist (2) die Diskurs-Ethik Habermas-Apelscher Prägung. Zanetti hat Recht, wenn sie bemerkt, es sei unrealistisch, dass sich die am Diskurs Beteiligten auf einen Konsens einigten. Das ist doch oft eher ein Kompromiss. Anders, und genauer: es wird ein Konsens darüber erzielt, dass man diesen oder jenen Kompromiss schließt.
Da ist (3) eine rein pluralistische Ethik, deren Grundidee erstmal charmant klingt – aber halt wieder zu schlicht ist. Ja klar, die „Güter und Werte, nach denen wir streben“ sind „ihrem Wesen nach vielfältig und außerdem heterogen“. Also muss man verhandeln. Aber worüber genau? Die „Wahl oder Realisierung“ des einen Gutes kann ja die „Wahl oder Realisierung des anderen“ ausschließen. Wie aber vergleichen wir die Güte der Wahl des einen oder des anderen? Wir benötigen einen positiven Vergleichswert. Was wäre zwischen der Quadratwurzel von 16 und einer Tasse Tee ein relevanter Vergleichswert? Sind Werte also inkommensurabel? Wo finden wir das zwischen/bei Werten Kommensurable? Im Rückgang auf einen ‚höheren‘ Wert? Aber wie bewerten wir den? Das Spiel fängt von vorne an.
Die letzte Theorie, der (4) ethische Partikularismus sagt, dass wir zwar oft moralische Überlegungen anstellen ohne aber moralischen Prinzipien zu folgen. Vieles ist viel zu vertrackt, Situationen sind zu knifflig, als dass wir uns da von Prinzipien leiten lassen könnten/würden. Wie ist das dann mit der Moral? Sie sei eine Funktion der Urteilskraft, des Abwägens von und in Situationen. Das stimmt zwar, aber diese Form des Situationismus ist zu verkürzt. Auch in je unterschiedlich gelagerten Situationen lassen wir uns oft von moralischen Intuitionen, die wiederum ‚irgendwie‘ auf Prinzipien beruhen, leiten. Sicher hat diese Theorie durchaus attraktive Züge, sie ist nah an der dirtiness der Wirklichkeit. Und sicher könnte diese Theorie vielleicht am ehesten dem Gewurschtel von Kompromissen gerecht werden.
Und was lernen wir aus all dem? Bereiten wir uns, mit dem schönen Buch von Zanetti im Hinterkopf, auf den nächsten, zähneknirschend abgeschlossenen Kompromiss vor.
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