Der Selbsterwählte

Hanjo Kestings freundliche Werk- und Lebensfahrt mit Thomas Mann

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was halten Sie von Thomas Mann? Das ist offensichtlich eine Kanonfrage. Marcel Reich-Ranicki platzierte sie zum 100. Geburtstag des Dichters. Mochten viele sich am braven Bürger im Künstler stören, die Sprachbarriere als Klassenschranke tadeln, über die Effektästhetik und die Repräsentationspose die Nase rümpfen, so blieb doch der Rang des Werkes weithin unangefochten. Genau das ist das Kanonische an Thomas Mann. Kritik am Künstler ist statthaft, selbst in der Familie. Dass er bei alledem in seiner Kunst ein Zauberer ist, sichert ihm die Sympathie des Publikums.

Hanjo Kesting, langjähriger Literaturredakteur beim NDR, stellte ebenfalls seinerzeit die Kanonfrage. In zehn Spiegel-Thesen durchkämmte er 1975 die Parameter des Erfolgs und summierte: ein Autor mit immensem Marktwert und unbegrenzter Publikumssympathie, aber doch recht unerheblicher Zukunftswirkung. „Dies alles beweist auch, daß die Widerstände, die von seinem Werk ausgehen, gering geworden sind. Von weitem und nicht nur feierlich betrachtet, beginnt seine Gestalt rapide zu schrumpfen.“

Das ist jetzt alles anders. Kestings Kritik der auktorialen Inthronisierung ist dem Respekt vor Manns öffentlichem Engagement gewichen und der Bewunderung von dessen ironischer Kunst, vom Zerfall des Bürgertums „wider besseres Wissen“ zu erzählen. Es ist eine empathische Verehrung, die in den zwölf Essays von Kestings Buch die Feder führt. Kesting nimmt Thomas Manns Selbstzweifel und die Pein seiner literarischen Maskeraden ernst. Dafür steht das im Titel aufgeworfene Zitat aus Manns Tagebüchern (20.09.1953): „Alte, peinliche Lebenserinnerungen, zwanghaft, wie oft. War nicht das ganze Leben peinlich? Es gab wohl selten ein solches Ineinander von Qual und Glanz.“  

Kanonisch ist, wenn man „Qual und Glanz“ in eins setzen kann, ohne die Widersprüche in diesem Selbstdeutungsduett aufzulösen. Über welchem „Abgrund von Qual, Not und Schmerz“ Thomas Manns Prosawerke glänzen, das demonstriert Kesting, manchmal ein bisschen zu pathetisch, an den Buddenbrooks, am Zauberberg, an Joseph und seine Brüder, an Lotte in Weimar, an Der Erwählte und an der späten Erzählung Die Betrogene, die Adorno als „skandalöse Parabel“ bezeichnete. In einem zweiten Rundgang inspiziert Kesting den dämonischen „Seelenzauber“ der Musik in Manns Werken, nimmt das Brüderpaar Thomas und Heinrich als ziemlich beste Freunde unter die Lupe, holt Klaus Mann aus dem „Schatten des ‚Zauberers‘“ und zeigt uns in einem brillanten Essay, warum Thomas Mann, der in seiner Studentenbude noch den Petroleumofen selbst zu reinigen pflegte, es nach der reichen Einheirat, als „Großschriftsteller“ (Musil) und als Nobelpreisträger später genoss, in und über Hotels zu schreiben und den „Pegasus vor den Wagen des Reiseführers“ zu spannen.

Es gibt also doch ein Genie außerhalb der Geschäftsstunden, summiert Kesting in den beiden Schlussessays, die durch die frühen Tagebücher (1918-1921) und durch die Tagebücher seit 1933 navigieren und dabei die Betrachtungen eines Unpolitischen, die Kesting waghalsig Manns „Stahlgewitter“ nennt, streifen. Eines scheint dabei unangetastet, die These nämlich, dass Thomas Mann ein Bogenschluss der Literaturgeschichte ist: Ende und Anfang, Nachfahre des bürgerlichen Realismus und Wegbereiter der literarischen Moderne, mit einem „fürstlichen Talent zum Repräsentieren“, wie Mann im Februar 1904 an den Bruder Heinrich schrieb.

Titelbild

Hanjo Kesting: Thomas Mann. Glanz und Qual.
Wallstein Verlag, Göttingen 2023.
400 Seiten , 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783835354135

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