Frühling! … Sommer, Herbst und Winter

In ihrem Jahreszeitenprojekt schreibt Ali Smith ganz nah an unserer Gegenwart (aber nicht nur das)

Von Sandra VlastaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandra Vlasta

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Spring the great connective“ heißt es am Ende von Ali Smiths Roman Spring (2019). Dies hebt die Jahreszeit als eine besondere hervor, die alle vier miteinander verbindet, die sowohl den Anfang als auch das Ende des wiederkehrenden Reigens darstellt. Entsprechend wird der Frühling in künstlerischen Darstellungen der Jahreszeiten oft als erste Jahreszeit gewählt. Anders jedoch bei Ali Smith: Spring ist weder der erste noch der letzte der Bände aus Ali Smiths Jahreszeitenzyklus, der zwischen 2016 und 2020 erschienen ist. Vielmehr beginnt er mit dem Herbst (Autumn, 2016; dt. Herbst, 2019), gefolgt von Winter (2017; dt. Winter, 2020), Spring (2019; dt. Frühling, 2021) und Summer (2020, dt. Sommer, 2021).

Schon diese Anordnung zeichnet Smiths Projekt aus, das aber außerdem vor allem durch einen besonderen Entstehungsprozess hervorsticht: Wie Smith in einer Reihe von Interviews und Artikeln erzählt, hatte sie das Manuskript ihres Romans How to be both (2014) so spät eingereicht, dass ihr Verleger kaum Zeit hatte, es durchzusehen. Trotzdem wurde das Buch innerhalb von nur sechs Wochen nach Einreichung gedruckt. Smith war überrascht: „Sechs Wochen! Das brachte mich zum Nachdenken über die Zeit, die normalerweise zwischen der Abgabe und der Veröffentlichung vergeht – normalerweise mindestens neun Monate, oft eher eineinhalb Jahre.“

Dies brachte Smith auf die Idee eines von ihr als zeitsensibel bezeichneten Projekts, und zwar eine Reihe von Romanen, die jeweils erst sehr knapp vor ihrer Drucklegung geschrieben wurden. Sie hatte schon seit einiger Zeit ein Buchprojekt über die Jahreszeiten im Kopf und beschloss nun gemeinsam mit ihrem Verleger, dieses als vier Romane anzulegen, die „nicht nur von ihrer eigenen Zeit handeln, sondern von dem Ort, an dem sich Zeit und Roman treffen.

Für jeden der vier Bände war ein sehr kurzer Schreibprozess von lediglich vier Monaten vorgesehen, der es ermöglicht, wie Ali Smith ausführt, auf aktuelle politische und gesellschaftliche Ereignisse Bezug zu nehmen. Sie wollte damit der „novel“, also dem Roman, seine ursprüngliche Bedeutung zurückgeben und – wie auch im 19. Jahrhundert zum Beispiel Charles Dickens in Form des Fortsetzungs- oder Feuilletonromans – unter anderem über Neuigkeiten und aktuelle Geschehnisse schreiben.

Die vier Bände sind auf verschiedene Weise miteinander verbunden: durch die Jahreszeiten, auf die in ihren Titeln angespielt wird und die sich durch die Bücher ziehen, durch die Tatsache, dass ihre jeweiligen Handlungen größtenteils in der Gegenwart angesiedelt sind, und durch ihre paratextuellen Elemente, insbesondere durch ihre buchtechnisch aufwändige Gestaltung, die sich nicht nur durch die ähnliche typographische Einbandgestaltung auszeichnen, sondern auch durch die Cover der leinengebundenen Einbände, die mit Bildern von David Hockney gestaltet sind. Diese Malereien – die jeweils denselben baumbestandenen Weg in verschiedenen Jahreszeiten zeigen – wurden auf Anfrage von Smith und dem Verlag von Hockney selbst ausgewählt.

Leider hat der deutschsprachige Verlag für die Romane, die wie alle Werke der schottischen Autorin von Silvia Morawetz übersetzt wurden, nicht auf die Originalcover zurückgegriffen, sondern sich für abstrakte Himmels(?)bilder in verschiedenen (den Jahreszeiten entsprechenden?) Farben entschieden. Der in Smiths Werken stets wichtige Bezug zur bildenden Kunst (einer der vielen Aspekte, um die es in den Romanen geht), wird somit abgeschwächt, auch durch den fehlenden Abdruck der in den Texten thematisierten Werke, wie Tacita Deans Why cloud (2016) oder Barbara Hepworths Winter Solstice (1971), die in den Originalen auf den letzten Seiten bzw. am Nachsatz der Romane Spring bzw. Winter reproduziert sind. Auch der Flattersatz, also das Ausfransen der Zeilen am rechten Seitenrand, ein weiteres Kennzeichen von Smiths Texten, wurde vom deutschen Verlag nicht übernommen. Der Text präsentiert sich den Leserinnen und Lesern daher (leider!) anders als das Original.

Die vier Bücher können als eigenständige Romane gelesen werden: Sie haben unterschiedliche Protagonisten, obwohl Figuren aus einem Band manchmal als Nebenfiguren in einem anderen auftauchen – wie zum Beispiel die junge Frau Elisabeth aus Autumn, die in Spring die Tochter des Protagonisten Richard ist. Auch sind die vier Bände durch unterschiedliche Schauplätze und unterschiedliche Handlungen gekennzeichnet – obwohl es oft schwierig ist, in Ali Smiths Werk überhaupt eine geradlinige Handlung zu entschlüsseln. Eher konzentriert sich ihre Prosa auf Themen, Figuren und die Art und Weise, wie wir miteinander und übereinander sprechen. Dementsprechend schreibt der Literaturkritiker Alex Preston über die vier Bände, dass sie „als komplexe, zusammenhängende Collage von Reflexionen über die Art und Weise, wie wir heute leben, zusammenwirken“.

Doch die vier Bände gehen auch über die Gegenwart hinaus, denn sie enthalten Handlungsstränge, die in die Vergangenheit weisen. In Spring ist es das (allerdings fiktive) Zusammentreffen von Katherine Mansfield und Rainer Maria Rilke in der Schweiz, in Summer spielt ein Handlungsstrang im Internierungslager Hutchinson auf der Isle of Man während des Zweiten Weltkriegs, wo Smith die Erfahrungen des inhaftierten Künstlers Kurt Schwitters und seines Freunds, dem späteren Autor und Künstler Fred Uhlmann, nachzeichnet. In ähnlicher Weise gibt es Abschnitte zu Künstlerinnen wie Pauline Boty (1938-1966; in Autumn) und Lorenza Mazzetti (1927-2020; in Summer), die wiederum in der Vergangenheit angesiedelt sind.

Ali Smiths Prosa zeichnet sich durch viele weitere Besonderheiten aus. In Hinblick auf ihren Stil haben KritikerInnen darauf hingewiesen, dass Ali Smith unglaublich viele verschiedene Themen und Gedanken in ihrer Prosa zusammenbringt, die dabei aber nie belehrend klingt, sondern sich meist recht entspannt und verständlich liest, auch mit vielen (Sprach-)Witzen arbeitet. Justine Jordan zum Beispiel nennt Smith zugänglich experimentell und unterstreicht ihre unbändige Begeisterung für Sprache.

Smiths Zugang zu Literatur und Kunst, der so vieles umfasst und berücksichtigt, zeigt Zusammenhänge auf, die zuerst weit hergeholt erscheinen und plötzlich sehr plausibel, ja notwendig für unsere Auseinandersetzung mit der Welt werden. So zum Beispiel mit Blick auf das monumentale Werk Tacita Deans, The Montafon Letter (2017): ein riesiger Berg, mit Kreide auf Tafel gezeichnet, von dem eine Lawine abgeht, die aber vor den Betrachtenden still steht. Richard, einer der Protagonisten in Spring, sieht das Kunstwerk und bringt voller Ehrfurcht nur ein gemurmeltes „fuck me“ über seine Lippen. Deans Werk wird in seiner Monumentalität, die wegen der gewählten Materialien gleichzeitig äußerst vergänglich ist, zum Sinnbild für Richards Situation nach dem Tod seiner wichtigsten Bezugsperson, seiner jahrzehntelangen Freundin und Kollegin Paddy. Zudem ruft das Werk ihm die schmerzliche Leere an der Stelle seiner mittlerweile erwachsenen Tochter, zu der er keine Beziehung hat, in Erinnerung. Gleichzeitig wird Deans Werk in Smiths Roman aber zu einem Kommentar der gesellschaftlichen Situation in einem Großbritannien, das versucht mit der Entscheidung für den Brexit zurechtzukommen, und in einer Welt, die die größten Herausforderungen – Klimawandel, Migration – nicht zu meistern scheint. Durch Smiths Ekphrasis stehen wir als LeserInnen mit Richard vor dieser Lawine, die auf uns zukommt.

Die wunderbaren Zusammenhänge, die sich bei Smith oft zwischen Fiktion und Realität, zwischen Kunst und Leben ergeben, werden in Spring auf nahezu magische Weise in der Figur des zwölfjährigen Mädchens Florence deutlich. Sie ist in Anlehnung an Marina aus Shakespeares Pericles entstanden und sorgt als nahezu engelsgleiche Figur in einem britischen Abschiebungszentrum dafür, dass die Toilettenanlagen plötzlich gereinigt und die Insassen insgesamt menschenwürdiger behandelt werden. Sie ist es auch, die den lebensmüden Richard auf einer Zugreise bis nach Inverness in Schottland begleitet und – ganz verbindende Frühlingsfigur – die verschiedenen Charaktere im Roman einander annähert. Florence ist damit eine typische Smith-Figur, deren Herkunft und Motivation unklar bleiben, der es aber gelingt, aufgrund ihrer Außenseiterposition Emotionen und Erzählungen in den anderen Protagonisten auszulösen. Florence ist aber nicht nur eine geheimnisvolle, fast märchenhafte Figur, sondern auch ein Mädchen mit sozialen Idealen und Zielen. Sie erinnert damit stark an Greta Thunberg und viele andere Kinder und Jugendliche, die sich seit 2019 mit berechtigter und notwendiger Vehemenz für den Klimaschutz einsetzen. Als der Roman entstanden ist, hatte diese Bewegung aber noch kaum begonnen – einer der vielen hellsichtigen Aspekte von Ali Smiths Schreiben.

Es sollte noch hinzugefügt werden, dass der Titel von Ali Smiths Spring in die Irre führen kann. Denn die Handlung ist gar nicht im Frühling angesiedelt, sondern im Herbst. Erst der letzte Band des Zyklus, Summer, spielt im Frühling und es ist jener der COVID-19 Pandemie. Summer war damit einer der ersten Romane, der, nicht zuletzt aufgrund seiner Produktionsbedingungen als Teil eines sehr zeitnahen Literaturprojekts, einen der schwierigsten Frühlinge der letzten Jahre beschreibt – abgesehen vom Frühling 2022, in dem die Katastrophe des Krieges über Europa hereinbrach.

Titelbild

Ali Smith: Frühling. Roman.
Aus dem Englischen von Silvia Morawetz.
Luchterhand Literaturverlag, München 2021.
320 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783630875804

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Ali Smith: Sommer. Roman.
Aus dem Englischen von Silvia Morawetz.
Luchterhand Literaturverlag, München 2021.
378 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783630875811

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Ali Smith: Herbst. Roman.
Aus dem Englischen von Silvia Morawetz.
Luchterhand Literaturverlag, München 2019.
265 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783630875781

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Ali Smith: Winter. Roman.
Aus dem Englischen von Silvia Morawetz.
Luchterhand Literaturverlag, München 2020.
300 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783630875798

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