Vor der Flimmerkiste der siebziger Jahre
Andreas H. Drescher präsentiert in „Mein alter Schwarzfernseher“ grotesk fabulierende und sprachlich feinstgeschliffene Erzählungen über das Fernsehen und seine oft absurden Hintergründe
Von Rainer Rönsch
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAndreas H. Drescher, geboren 1962, hat sich einen Namen als Romancier, Hörbuchautor und Lyriker gemacht. Bekannt ist auch sein aktives Interesse an der literarischen Nutzung der Künstlichen Intelligenz.
Beim titelgebenden „Schwarzfernseher“ seines Erzählungsbandes handelt es sich laut Hörfunkinterview um sprachlichen Freiraum zwischen Schwarzweißfernseher und Schwarzseher (Andreas H. Drescher über Mein alter Schwarzfernseher – WDR 3 Kultur am Mittag – WDR 3 – Podcasts und Audios – Mediathek – WDR). Nicht gemeint ist, wer sich um die Fernsehgebühren drückt. Drescher kündigt sein Buch als ironische, groteske und fabulierende Erinnerung an Fernsehabende aus seiner Kindheit in den siebziger Jahren an.
Da fragt sich der Rezensent, der seinerzeit unerreicht vom „Westfernsehen“ nahe Dresden lebte, ob er den Erzählungen gerecht werden kann. Obwohl er manchen Rückstand dank Internet, Mediatheken und anderen Hilfsmitteln aufgeholt hat, würde es ihm schwerfallen, alle Bezüge auf konkrete Sendungen zu erkennen.
Als das Buch eintrifft, treten diese Bedenken schon beim Anblick des wunderlich schönen Einbands in den Hintergrund, der von der Malerin Heike Puderbach gestaltet wurde, von der auch die ungewöhnlichen Illustrationen stammen. Diese erweisen sich als so faszinierend eigenständig, dass sich der Bezug zum Text zuweilen schwer erschließt. Der Band im Querformat bereitet mit großzügigem Layout, vorzüglich lesbarem Druck und den Illustrationen einen haptischen Genuss, wie ihn kein E-Book bieten kann. Da hat der Autor als sein eigener Verleger den Boden für exquisite Lesefreude bereitet. Und die stellt sich ein, ohne dass einzelne Sendungen erkannt werden müssten.
Der Inhalt gliedert sich in die Rubriken Märchenstunde (17 Texte), Boulevardmagazin (14), Tagesschemen (21), Die Große Schmonzette (14) und Nachtprogramm (6). Aus einem vierseitigen Glossar von „Augustinus“ bis „Zigarre“ erfährt man zum Beispiel, dass letztere ein Ausdruck für schweren Tadel sein kann.
Alle 72 Erzählungen werden durch schier grenzenlosen Einfallsreichtum und souverän-spielerische Sprachbeherrschung geprägt. In der Märchenstunde stimmt gleich der erste Text, Weiche Themen, darauf ein, dass in diesem Buch das Unwahrscheinlichste real erscheint. Das offenbar aus dem Uhrkasten gekommene Zicklein bricht sich „eine Ausfahrt durch Leitplanken und Birkenschonung“, lässt von Laubenkolonien nur „Streberschredder“ übrig, verwandelt Schlachthof und Käserei in Schutt und lässt ein Haus fluten. Doch obwohl die Kuckucke ihre Uhren verlassen haben, geht alles gut aus: Die ertrunkenen sieben Söhne des Uhrmachers werden wiedergeboren und absolvieren bis zum Morgengrauen ihre Bäckerlehre.
Diese literarische Groteske hat – wie viele andere – eine zweite Dimension. Die von der Flut verschonten Nachbarn haben „die Fernsehsessel vors Fenster gerückt und nehmen ihr Abendbrot ruhig vor den hilflosen Zuckungen der Uhrmacherfamilie ein.“ Aus Fernsehkritik wird Kritik an uns Zuschauern, die wir, laut Drescher, den Ukrainern beim Ertrinken zusehen. Und wer hat nicht schon mal, wenn ein Bergwerksunglück oder eine Zugentgleisung als Spitzennachricht kam, über das sensationslüsterne Fernsehen geschimpft und dennoch schnittchenkauend weiter zugeschaut?
Immer wieder faszinieren scharfsinnige Beobachtungen, die vom Flimmerkasten weg in größere Dimensionen führen. Das Märchen vom Spargelstecher zeigt die Städte mit Prinzen verstopft wie zur Beerdigung der Queen. Daraus wird bissige Kritik an der blasierten Oberschicht, die vor gedeckten Tischen darbt, weil sie nicht weiß, „wie der Spargel ohne Mundschenke vom Teller zu den Lippen gelangt“. Gelegentlich bedarf es nur einer gelinden Übertreibung wie in Reise nach Jerusalem, wo „der Fuhrpark der Bundeswehr zur Deckung der Flugschulden des Verteidigunsministers versteigert worden ist“.
Die Buchstabensuppe scheint endgültig aus zu sein, als die Bilder über die Texte gesiegt haben, doch Hoffnung bleibt, denn die Großmutter erzählt ihren Enkeln ein Märchen.
In einigen Texten ist der Ich-Erzähler präsent. So in Traurige Talente, dem Auftakt zum Boulevardmagazin, wo er mit jeder Kieselberührung eine Stadtgründung lostritt. Im Hörfunk sagte Drescher dazu, irgendwer müsse ja die extreme Zersiedlung in seinem heimatlichen Saarland ausgelöst haben.
Märchen werden reizvoll verfremdet. In Der Späte Zwist holt der Autor das Motiv der Frau Holle in die Gegenwart der Animationsprogramme, ohne dass es jemand schafft, „einen Backofen erneut zum Sprechen zu bewegen.“ In Drosselbart wird der hässlichste Entstellte mit Unterbiss zum König ausgerufen.
Immer wieder mischt sich des Autors Lust an fabulierenden Wachträumen mit der am Überdehnen der Sprache, wenn etwa der große Vergesser sich selbst vergisst oder die französische Marine „Geleitschutz beim Übersetzen der Straße von Messina in Helgoländer Platt“ gibt.
Eisenhans als Eisengretel, Der mantische Figaro, Vierzig Wochenstunden Schierling, Casanova beim Völkerball – mit diesen rätselhaften Erzählungstiteln sei die Vorfreude auf ein köstliches Buch verstärkt, das nicht zum Verschlingen, sondern zum Genießen einlädt.
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