Deprikammer? Mitnichten
Der ehemalige Frontmann von ‚Pulp‘, Jarvis Cocker, mistet in „Good Pop. Bad Pop“ aus und findet wichtige Dinge seines Lebens
Von Kai Sammet
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIrgendwann war es soweit: Jarvis Cocker, 1963 geborener britischer Musiker und ehedem Frontmann der Indie-Band Pulp knöpfte sich einen voll gemüllten Dachboden (genauer Abseite oder Kriechboden) vor: „Man könnte diesen Dachboden als Manifestation des menschlichen Hangs zum nahezu unbewussten Anhäufen von Dingen verstehen.“ Jetzt gibt es verschiedene persönliche Stile: alles weg und dann schreddern. Doch Cocker beschloss „nicht einfach alles zu entsorgen, sondern mir jeden einzelnen Gegenstand anzuschauen“ und erst dann zu entscheiden: BLEIBT/WEG, weil er wusste, dass „irgendwo dadrin etwas Wichtiges steckt. So eine Art Lebensgeschichte, irgendeine Offenbarung – aber wir werden danach graben müssen“. Kurz und gut: „Ohne das jetzt überdramatisieren zu wollen, glaube ich, dass der Dachboden & die Gegenstände darin den Inhalt meines Hirns ziemlich genau widerspiegeln.“
Wir müssen Cocker nicht bei jedem Gegenstand folgen. Das wäre eine Anhäufung von Geschichten und außerdem würde ich vieles verraten, was besser selbst gelesen werden sollte – denn lustig ist das schon, nicht nur weil Cocker ein guter Pop-Literat ist, sondern weil er wirklich Spannendes über seine Abseiten-Gegenstände und deren Verbindung(en) zu seinem Leben erzählen kann. Dass er dabei en passant eine Art Bildungsroman (Bildung seiner selbst zu einem Brit-Pop-Musiker, der eigentlich musikalisch nicht viel konnte) schreibt, macht die Sache noch charmanter. Abermals charmanter ist, dass hier die Bildungsgeschichte einer ganzen Generation vertrödelter Jungs (wahrscheinlich auch Mädchen, ich bin aber ein Junge), geboren etwa zwischen 1960 und 1965, erzählt wird, deren Leben heute noch (wenigstens, wenn man sie in Ruhe in ihre Köpfe hineinhören lässt) im Wesentlichen bestimmt wird vom Hören von Good Pop. Was für Cocker die Schule der John-Peel-Sessions war, das war für mich als ich nach Hamburg kam, BFBS (British Forces Broadcasting Services), die sich da empfangen ließen und da gab es dann u. a. Nightshift mit Alan Bangs; nicht der, der er dann im Rockpalast war, sondern der, der er daneben oder davor war: Musik nicht als Hallenspektakel, Pop-Musik als existenzielles Phänomen. Und schließlich erzählt Cocker die Geschichte von Alltagsgegenständen, auch das ist klasse. Das zeigt, welche Rolle Gegenstände, industriell verfertigte, dann für sich selbst angeeignet, hatten. Und noch was kommt mir in den Sinn: Warum räumt Cocker überhaupt auf? Das bleibt etwas im Dunkel, macht aber nichts. Es gibt jedenfalls Aufräumer und Wegräumer und es gibt Schlamper, die nichts aufräumen. Was ist Ordnung? Da fällt mir ein, dass ich einmal eine Weile in einer WG wohnte, in der sich eine Abstellkammer befand, in die alles hineingestopft wurde. Die wurde „Depri-Kammer“ genannt, weil es da, aber offensichtlich nur für Ordner-Aufräumer, zum Heulen aussah. Cockers Abseite ist keine Depri-Kammer.
Einige Beispiele müssen genügen, um der männlichen Ariadne Jarvis ins Labyrinth von Zeugs zu folgen und sich dabei in die mitgelieferten Fotos zu vertiefen. Also: „Das“, so Cocker, ein Bild erläuternd, sei
Wrigley´s Extra Kaugummi, als es noch in Streifen verkauft wurde. Es hatte sich noch nicht zu der aktuellen „Drageeform“ entwickelt. Dies ist ein zwanzig Jahre altes Kaugummi. Unbenutzt. Ungekaut. Jahrelang habe ich ständig ein Päckchen Kaugummi in der rechten Jackentasche mit mir herumgetragen. Das war ein wesentlicher Bestandteil meines Elternseins. Es muss Peppermint sein. Spearmint ist zu süß. Fruchtgeschmack ist abartig. Aber dieses Päckchen stammt aus der Zeit, bevor ich Vater wurde. Dies ist das Kaugummi eines Junggesellen.
Jetzt wissen wirʼs. Dass man Popstar nicht etwa wird, indem man Musik macht, anständig Klavier oder Gitarre übt, sondern erstmal – in einem vielfach herangezogenen Studienheft, auch schöne Fotos – den Kleiderstil definiert, die Hemden zeichnet, die Socken und so fortverstand sich von selbst. Da dürfen auch Akkordfolgen drin stehen, aber nicht zu komplex – und man wird sehen und lesen, dass die Entwicklung von Pulp von einer katastrophalen Sheffielder Krachtruppe zu einer gediegenen Indie-Band durchaus gewunden war. Viele angefasste, berührte Gegenstände müssen betrachtet, bequatscht und dem Leser und der Leserin in Bild und Wort vorgestellt werden.
Ach, und noch ein Gegenstand, Cockers Vorname Jarvis, wobei er hier einen Ausflug in die Musikgeschichte seit Punk machen kann: Noch ein Grund neben der Schlichtheit der beherrschten Akkorde, warum Cocker
so erleichtert aufatmete, als Punk ausbrach: Endlich konnte ich mich entspannen & musste nicht mehr so verklemmt mit meinem komischen Namen umgehen. Punkmusiker gaben sich absichtlich komische Namen! […] Ich war ihnen sogar einen Schritt voraus, denn ich brauchte meinen gar nicht zu wechseln.
Nach der Schule hat Cocker herzlich wenig Lust zu studieren, er lebt von Stütze, hört Musik, jobbt rum, schreibt Songs (or so). Das alles passt durchaus zum nordenglischen Sheffield der 1980er Jahre: Thatcher, Rezession. Verlorene Seelen.
Vielfach hangelt sich Cocker an alten Musikkassetten entlang, eine Genealogie der Einflüsse. Da gibt es nicht nur die legendären John-Peel-Sessions. Dass Cockers Gehirn vielleicht auch labyrinthische, nicht wirklich nachvollziehbare Windungen hat, zeigt die Entdeckung einer merkwürdigen Kassette: „Wir sind schon wieder auf Gold gestoßen – White Gold!“ Das zugehörige Bild zeigt eine Musikkassette – babykackegrün – und zwar, man glaubtʼs kaum: Barry Whiteʼs Greatest Hits. Philly Sound? Ehrlich jetzt? Cocker sieht das anders: Ein Freund hatte sich den Kleintransporter der Mutter geliehen, eine alte Möhre, Radio Fehlanzeige, das einzige, was musikalisch funktionierte war der Cassettenrekorder und drin steckte Barry White: „Danke, Universum!“
Nun, wenn mich Barry White etwas nervös werden lässt, so wurde ich schnell versöhnt. Jetzt kommtʼs: Auf dem Dachboden findet sich auch eine Scott Walker Cassette. Ja, auch Cocker hatte Walker zuerst unter windige „Mainstream-Ikone aus den 60ern“ eingeordnet (was schon damals nicht stimmte. Ich erinnere an die Walker Brothers: The sun ain´t gonna shine anymore: BLEIBT). Weit gefehlt. Was dann kam und sich immer weiter entwickelte, war eben Scott Walker. Das klang für Cocker, er war erkältet, arg psychedelisch (was es nicht ist). Hatte er zu viel am Hustensaft genippt?
Aber das hatte ich nicht. Scott Walker sang über verirrte Luftballons, einsame Transvestiten, Flugzeugabstürze, über Menschen, die vom Fernseher verschluckt werden, & solche, die Angst haben, der dicke Mann in der Wohnung darüber könnte durch die Decke fallen – & alles war untermalt mit einer schwelgerischen, breitbildhaften, orchestralen Musik, wie ich sie noch nie in meinem Leben gehört hatte.
Das soll als Appetizer für die Lektüre (und sicher auch die ein oder andere Musik-Entdeckung) genügen. Anspieltipps für Scott Walker: Duchess aus dem Album Scott 4. Weiterentwicklung: Farmer in the city auf dem Album Tilt.
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