Gequälte Kreaturen in Autos?

Entwurf eines Offenen Briefs an Dr. Volker Wissing, Bundesminister für Digitales und Verkehr (über Katja Diehls Buch „Autokorrektur“)

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sehr geehrter Herr Dr. Wissing,

nachdem ich, ein besorgter Bürger, jahrzehntelang CSU-Prachtkerle in der Funktion als Verkehrsminister erleben durfte, bin ich froh, dass dieses Amt nun von einem FDP-Mann bekleidet wird. Denn so kann es nicht weitergehen. Sie sind ein vielbeschäftigter Mann, die Verkehrspolitik ein vertracktes Ding. Sie haben anderes zu tun als jedes Buch zu lesen, das die „Verkehrswende“ ausruft. Aber vielleicht kann ja zumindest ein Referent (m/w/d) in Ihrem Ministerium mal einen Blick auf diese Besprechung des Buches der „Mobilitätsexpertin“ Katja Diehl, Autokorrektur, werfen. Lesezeit, sagen wir mal: sieben Minuten.

Lassen Sie mich mit Persönlichem beginnen. Ich hoffe, ich trete da keinem Porsche-Fahrer in Ihrer Partei zu nahe (wie gesagt: besorgter Bürger, auch um sich selbst). Ich habe Autofahren schon als Kind gehasst. Mir wurde immer schlecht. Manche Leute können sich lange Autofahrten durch Lesen verkürzen. Ich nicht. Mir wird schlecht, ich kann nur aus dem Fenster gucken, Landschaft und Autos und Autobahnen und Auffahrten (weshalb ich auch ein wenig verwundert bin, dass Sie doch den Autobahnbau forcieren wollen. Das hatten wir schon. Das löst kein Problem. Dazu später noch mal kurz).

Katja Diehl geht es nicht um tausenderlei Details (die können Sie in Ihrer Behörde abfragen), sondern um eine Aufforderung zur Verhaltensänderung: „Dieses Buch will Kick-off einer Gesellschaft sein, die gemeinsam eine attraktive, lebenswerte und klimafreundliche Mobilitätszukunft für alle baut, die wir HEUTE anfangen.“ Das klingt doch gut, oder? Das ist zwar etwas vollmundig und arger PR-Sprech, aber geschenkt. Auch das nächste (auch schon geschenkt) ist toll und (zu) energisch. Diehls Ziel: „Jede:r sollte das Recht haben ein Leben ohne eigenes Auto führen zu können.“ Das ist jetzt aber ein bisschen verpeilt, denn wo wird das denn verboten? Dennoch ist einer der Grundgedanken gut. So habe ich es noch nicht gesehen, also schon wieder was gelernt. Diehl fragt zu Recht, was Mobilität und Verkehr mit Sexismus zu tun haben sollten. Nun, sie kann gut zeigen, dass sich das Autosystem analog der patriarchalen Gesellschaft entwickelte. In Autos sitzen (ich kann das jeden Morgen an der B75 beobachten): weiße, wahrscheinlich zumeist heterosexuelle, eher wohlhabende Männer.

Wie verlief der Siegeszug der Stinkkisten? Um 1900 gab es in den USA nur wenige Autos, die Durchsetzung der Automobilität in Deutschland war gar nicht so einfach, Autofahrer wurden um 1900 nicht gar so gern gesehen, aber schon zu jener Zeit mussten Fuhrwerksbetreiber die Straße von Dung freihalten (damit Autos da nicht ausglitschten). Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Auto das Symbol für Erfolg, Wohlstand, Fortschritt und also musste ein Straßennetz her, Tankstellen, Raststätten undundund, es sollte die autogerechte Stadt (so ein Buch des Architekten H.B. Reichow aus dem Jahr 1959) entstehen. Und so sehen unsere Städte dann halt aus.

Wie ist die Situation jetzt? Im Jahr 2021 gab es in der Bundesrepublik Deutschland 49 Millionen Autos bei 83 Millionen Einwohnern, ein PKW wird am Tag weniger als 45 Minuten bewegt, in einem PKW sitzen im Schnitt 1,2 Personen: eine wahrlich effiziente Technologie 70 kg Mensch von etwa 700 kg Blech et al. bewegen zu lassen. In Deutschland gibt es inzwischen etwa 230000 km überörtliche Straßen, „13200 Kilometer sind Autobahnen.“ Die Bahnstrecken belaufen sich auf 38600 km, 21000 davon sind elektrifiziert. Im Jahr 2020 wurden pro Kopf BundesbürgerIn 88 Euro ins Schienennetz investiert (Österreich 249 Euro, Schweiz 440 Euro, Luxemburg 567 Euro – nur mal so zum Vergleich).

Eines der Grundprobleme besteht natürlich darin, und dafür können Sie ja nichts, lieber Dr. Wissing, dass Wohn- und Arbeitsplatz zumeist getrennt sind, was, nebenbei bemerkt u.a. Folge der Dichotomisierung der Geschlechtscharaktere seit Ende des 18. Jahrhunderts ist, die dazu führte, dass Frauen zu Hause bleiben sollten, während der Mann draußen werkelte (ich komplexitätsreduziere hier nur ein bisschen) – und dann auch gerne mit einem SUV fährt. Da erfahren wir durch Katja Diehl, dass SUVs gemäß einer Studie aus Michigan bei Geschwindigkeiten von mehr als 19 Meilen/h 7% mehr schwere Verletzungen bei FußgängerInnen verursachen als normale PKWs. Bei Geschwindigkeiten von 40 Meilen oder mehr „starben hundert Prozent“ der pedestrians; Normalauto: 54%: immerhin also nur eineR von zwei!

Und noch eine kleine Zahl, wo wir schon bei Unfällen sind. Natürlich benutzt die Autoindustrie Crashtestdummies, um Autos sicherer zu machen. Müsste man die gendern? Oh ja. Der Innenraum von Autos, so Diehl, ist so gestaltet, dass Frauen bei einem Unfall „zu 47% eine schwerere Verletzung“ erleiden als Männer. Autofahren hat auch etwas mit der Ungleichheit der Gesellschaft zu tun und mit etwas, was sich eigentlich schnell abschaffen ließe: das Dienstwagenprivileg. Das „CO2 aus Neuwagen stammt zu 76% aus Firmenwagen“. Im Jahr 2020 waren 63% der Neuzulassungen Firmenwagen. Diese fahren doppelt so viele Kilometer im Vergleich zu privaten PKWs. Immerhin werden sie also wenigstens bewegt und versperren nicht für lau öffentlichen Grund. In der Regel profitieren von Dienstwagen eher Bessergestellte.

Sicher hat Diehl auch damit recht, dass diese autofixierte Mobilität u. a. deshalb so fest zementiert ist, weil es in der Autoindustrie wenig weibliche Führungskräfte gibt. Vielleicht könnte da eine ‚weiblichere‘ Perspektive korrigierend wirken: Es fehlt der Blick auf Kinderwagen, auf RollstuhlfahrerInnen, auf Behinderungen und Einschränkungen im Verkehr.

Und wenn dann m/w/d Eltern werden, dann wird ein Auto angeschafft, denn wie sollen die Tonnen von Windeln und Essen ans Kind gebracht werden? Kenne ich leider auch. In einem autozentrierten System ist das zu selbstverständlich. Wo aber bleiben da jene, die andere Bedürfnisse haben? Und wieder mal was Persönliches, lieber Dr. Wissing. Ließe es sich vielleicht einrichten, dass die Grünphase für FussgängerInnen an der Kreuzung Rüterstr./Wendemuthstr. in Hamburg-Wandsbek etwas verlängert wird? Da wohnen durchaus ältere Damen mit Rollatoren – selbst für mich, der ich grad noch gut zu Wege bin, ist das eine Herausforderung!

Interessant fand ich, dass Diehl Interviews mit Menschen führte, die nicht Auto fahren wollen, aber aus verschiedenen Gründen müssen oder sich im Auto sicherer fühlen.

Einige Beispiele: Da ist Matthias (der einen türkischen Nachnamen trägt und wohl auch ‚türkisch‘ aussieht, was immer das ist: jedenfalls:) Matthias geht zu Fuß, er hat keinen Führerschein, will auch keinen, aber aufgrund seines Aussehens wird er nicht selten gefilzt, was im Auto kaum passieren würde. Was ist mit Frauen, die in der Spätschicht arbeiten, dann nachts in etwas merkwürdigen S-Bahnen fahren müssen – viele von ihnen fahren verständlicherweise lieber Auto. Da ist Joelina, eine Transperson, für sie ist ihr Auto der „Safespace“: „Ich entziehe mich der Öffentlichkeit und der Transfeindlichkeit, indem ich es bei jeder Kleinigkeit nutze“, Joelina wünscht sich Öffis, in denen genug Personal ist, damit sie sich sicher fühlen kann. Da ist Katrin Langensiepen, Grüne EU-Parlamentarierin, Rollstuhlfahrerin. Im ländlichen Raum sei Mobilität für RollstuhlfahrerInnen eingeschränkt: „‚Hier ist nichts barrierefrei. Somit wirst du als Mensch mit Behinderung ins Auto gedrängt.’“

Viele Menschen (auch die, denen im Auto nur schlecht wird) wünschen sich also alle „dasselbe: Bezahlbare, sichere, inklusive, komfortable Alternativen zum Auto“.

Sicher, würde man nur Diehls Buch lesen, dann sieht es fast so aus, als gäbe es nur Autohasser. Das ist doch etwas arg selektiv. Lieber Dr. Wissing, so ist es nicht! Wenn ich an der obenerwähnten Ampel stehe, an der B75, dann sehe ich kaum gequälte Kreaturen in Blechkisten, manche popeln in der Nase und wenn sie gequält wirken, dann nicht wegen des doofen Autofahrens, sondern wegen der anderen doofen AutofahrerInnen, dieʼs nicht gebacken kriegen.

Dennoch, natürlich ist es so, dass es vorteilhaft sein muss, „das Auto stehen zu lassen“ (respektive: gar keins zu haben). Aber ist es im Moment de facto von Vorteil? „Seit der Jahrtausendwende sind die Kosten für Anschaffung und Unterhalt eines Kfz um etwa knapp 36 % gestiegen, die ÖPNV-Preise hingegen um knapp 80%.“ Da darf man/frau dann schon etwas träumen: „Die Vision meiner Autokorrektur ist eine kinderfreundliche, barrierearme und entschleunigte Stadt.“

Das, lieber Dr. Wissing, wissen wir RealpolitikerInnen, ist natürlich etwas arg rousseauistisch und klingt ein bisschen zu sehr nach GRÜNEN-Träumen (die aber beim Anwohnerparken in ihren gentrifizierten Vierteln auch ganz schön fuchsig werden können, wenn da Parkplätze wegfallen sollen – aber wem, lieber Dr. Wissing, erzähle ich das!)

Vielleicht würde die ‚Verkehrswende‘ – welch großes Wort, auch wieder etwas PR-Sprech, schon mit Kleinigkeiten anfangen können (längere Grünphasen für Rollator-Ladies?). Nicht unbedingt mit dem Ausbau von Radwegen (sicher auch), denn auch hier, das sagt a little white rather elderly pedestrian: die Verkehrswende hatte ich mir nicht so vorgestellt, dass ich heute bei zwei (Radweg plus Straße) statt bisher einer Spur gucke, ob ich nicht totgefahren werde. Ja, auch hier gibt es doch, machen wir uns nichts vor, lieber Dr. Wissing, eine ganze Reihe von Porsche-Fahrern unter den Radfahrern. Diehl: „Die am meisten vernachlässigte Infrastruktur, die Basis einer gesunden Mobilität ist, sind gut ausgebaute Gehwege.“ Stimmt. Aber noch mal Kritik – jetzt setzen alle auf E-Mobilität, Diehl auch, Ausbau von Ladestationen. Wiederum wird auf Individualverkehr gesetzt, E-Autos sind nicht effizient. Verbrenner: 70 kg Mensch bewegt mit etwa 700 kg. E-Auto: 70 kg mit etwa 1500 kg E-Auto. Was soll dieser Unfug.

So, lieber Dr. Wissing, nun habe ich mich aber arg verschwatzt. Lassen Sie gerne diesen Offenen Brief in der Ampel kreisen. Reichen Sie ihn auch gerne an die CDU/CSU-Fraktion weiter (bei der LINKEN habe ich etwas Zweifel, ob die´s hecken würden; an die AfD müssen Sie das nicht weitergeben. Ich weiß nicht, ob das bei Leuten, die Putin nicht von Hitler und Fakten nicht von Geraune unterscheiden können, irgendwas bringt).

Zum Schluss noch ein flammender Appell meinerseits. Ich lehne mich da an Joachim Müller-Jungs Kommentar „Mantaselig“ in der FAZ vom 25. Februar 2023 an. Die alte Weisheit: Wer Straßen sät, wird Verkehr ernten, das haben die Waliser, so Müller-Jung, begriffen. Ich zitiere: „‘Mehr Straßen und mehr Fahrspuren führten zu immer mehr Verkehr – wie überall auf der Welt.‘“ Die Waliser lassen es wohl jetzt. Und also, lassen Sie bitte, lieber Dr. Wissing, diesen Unfug mit fünfspurigen Fernstraßen. Tear down this Verkehrswegeplanung! Lieber Dr. Wissing, Porsche hin, Manta her, hissen Sie keinen Fuchsschwanz auf dem Dach des Bundesverkehrsministeriums!

So, das warʼs, herzliche Grüße.

Und jetzt kommt noch was für den Verlag. Lieber Verlag, das da hinten drauf auf dem Buch ist kein guter Paratext. Da steht: „Mein Name ist Katja und ich wende den Verkehr. Das ist hochpolitisch […].“ Das ist sicher richtig, aber dieser Text ist vor allem doof. Was soll das, so angequatscht zu werden, fragt: Hallo, ich bin der Kai, und ich habe jetzt die Seiten dieses wichtigen Buches gewendet. Danke, ich hab´s auch so kapiert. Denn nicht nur Autos sind doof, sondern auch schlechter PR-Sprech.

Titelbild

Katja Diehl: Autokorrektur. Mobilität für eine lebenswerte Welt.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2022.
262 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783103971422

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