Die Latschen des Messias und das Kreidestück aus Heidelberg

Warum uns Besitztümer von Heiligen oder Unheiligen magisch anziehen

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler und Stefanie von WietersheimRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie von Wietersheim

Rätsel des Lebens. Warum, um Gottes Willen, kauft jemand abgeranzte Gesundheitslatschen eines verstorbenen Computer Nerds für 220.000 Dollar? So geschehen im Winter 2022, als die verschwitzten grau-braunen Birkenstock-Sandalen des Apple-Gründers Steve Jobs von Julien`s Auctions in New York an einen unbekannten Bieter versteigert wurden.

Aber natürlich. Steve Jobs Birkenstocks waren nicht nur Schuhe. Sondern magische Objekte. Emotional hoch aufgeladene Lebensbegleiter eines charismatischen Menschen, die zuvor bereits kuratorisch sakralisiert in Ausstellungen gezeigt worden waren. Die Fama ging, Steve Jobs habe die Latschen des Modells „Arizona“ sommers wie winters in seiner Tüftlergarage bereits zur Gründungszeit von Apple getragen. Lange bevor er mit seiner späteren Uniform aus schwarzem Rolli und Sneakers den globalen Business-Look veränderte. Wie die Sandalen aus dem Schuhschrank den Weg ins Auktionshaus fanden, wissen wir nicht. Auf alle Fälle sind die Guru-Schuhe vorläufiger Höhepunkt in der Karriere der sogenannten Jesuslatschen, die die langhaarigen Achtundsechziger zu ihren Lieblingsschuhen machten: Kein Kinderladenleiter, kein Reformhausverkäufer, kein Biologielehrer, der in den 70er und 80er Jahren keine Birkenstocks trug.

Aber im Museum? In der Auktion? Mit ihrem ästhetisch anspruchslosen „Lass-hängen“-Look sind sie die Gegenstücke zu aufwendig gearbeiteten Kleidern Prominenter, die immer neue Rekordsummen erzielen. So wie das für 4,5 Millionen Euro versteigerte Perlenkleid von Marilyn Monroe, in dem die Diva einst „Happy birthday, Mr. President“ für John F. Kennedy sang. Das Kleid wie die Birkenstocks sind der Beweis: Bei Objekten, die die Haut von Berühmtheiten berührten und von deren Schweiß und Tränen durchtränkt waren, kann sich das Publikum nicht mehr halten – egal, ob sie von Marilyn Monroe oder Steve Jobs getragen wurden.

Erst vor kurzem wurde berichtet, dass ein Forscherteam des Max-Planck-Instituts für Evolutionäre Anthropologie acht verschiedene Haarproben von Ludwig van Beethoven untersucht und so sein Genom entschlüsselt hat. Es ergab sich, dass sein Stammbaum etwas unkonventioneller war als gedacht – und dass einige angeblich authentische Haarproben nicht von ihm, sondern von Frauen stammten. Diese Geschichte machte vor allem deutlich, wie begierig schon die Zeitgenossen des Musikers auf dessen Haare gewesen waren. Zu seinen Lebzeiten sammelten die Fans die Locken des Meisters – eine Sitte seiner Epoche, in der Haare als Liebesgaben und Erinnerungsstücke zu Schmuck verarbeitet oder in Medaillons aufbewahrt wurden. Angeblich fand man den toten Beethoven so gut wie kahl auf dem Totenbett, denn seine Haare waren nach dessen Ableben schnell abgeschnitten und als begehrte Andenken verteilt worden. Totemismus auf dem Totenbett.

Nicht nur Körperteile und Bekleidungsstücke werden gesucht, das Gleiche gilt ebenso für Möbel oder Schmuck: Objekte aus Fürstenhäusern oder anderer prominenter Provenienz erzielten in den vergangenen Jahren bei Versteigerungen Rekordpreise, und die Kurve geht weiter steil nach oben. Je glamouröser der Stammbaum, umso reicher der Mensch an Leistung oder Skandal – und umso teurer die Stücke. Selbst Gebrauchsgegenstände wechseln in diesen Tagen für ein kleines Vermögen den Besitzer wie bei der Versteigerung des Nachlasses der Stiefmutter von Princess Diana, Raine Countess Spencer bei Christie`s. Warum nur? Weil sie moderne Reliquien sind, die die Zähne, Haare und Knochen von Heiligen abgelöst haben.

Moderner Totemismus – von Jesus zu Steve Jobs

Unter Totemismus versteht man üblicherweise jene Glaubensvorstellungen, bei denen Menschen eine mythisch-verwandtschaftliche Verbindung zu bestimmten Naturerscheinungen (Tiere, Pflanzen, Berge, Quellen, Seen, Flüssen etc.) empfinden. Diese gefühlte Verbindung dient der persönlichen oder kollektiven Identitätsfindung: „Ich bin eine Löwin.“ „Ich bin eine französische Papageientulpe in Pink.“ „Ich bin der Walchensee.“

Manche Menschen empfinden eine verwandtschaftliche Verbindung zu Verstorbenen, die sie als Vorbilder, als Leitfiguren, als Idole betrachten. Um sich die übernatürliche Kraft eines solchen Totems anzueignen, hilft es, Objekte zu besitzen, die in körperlicher Verbindung zu dem verehrten Toten gestanden haben. So wie durch die Birkenstocks mit sichtbarem Schweißbett im Fußbett des Steve Jobs, der bei seinen Tech-Groupies bis heute als eine Art säkularer Messias verehrt wird – und dessen persönliches Charisma Teil des Erfolgs der Firma Apple ist. Bei den 220.000 Dollar für zwei ausgelatschte Schuhe ging es weder um Schuhe noch um Geld. Es ging um magisches Denken, eine quasi religiöse Ebene. Es ging um säkulare Reliquien – wenn auch Reliquien Zweiter Klasse.

Von der Nabelschnur zum Schweißtuch: Die Klassengesellschaft der Reliquien

Die katholische Kirche, aus der die Reliquienverehrung in der christlichen Kultur stammt, definiert Reliquien von Heiligen sehr genau und teilt sie in verschiedene Qualitätsklassen ein. Zur Ersten Klasse gehören Teile des Körpers. Bei Christus, von dem man von einer Himmelfahrt ausgeht, sind das jene Teile, die auf der Erde vor der leiblichen Aufnahme in den Himmel blieben: Nabelschnur, Vorhaut, Milchzähne, Haare und das bei der Passion vergossene Blut.

Zur Zweiten Klasse der Christusreliquien gehören unter anderem das Heilige Kreuz, der Heilige Nagel, mit dem Jesus ans Kreuz geschlagen wurde, die Heilige Lanze, mit dem der römische Soldat Jesus Körper aufschlitzte – und die Dornenkrone. Reste der Krone – ein kahler Kranz – werden heute in der Kathedrale Notre-Dame de Paris aufbewahrt, die Dornen wurden im Lauf der Zeit als Einzelreliquien verteilt.

Der Dritten Klasse gehören Berührungsreliquien an. Das sind Objekte wie Stoffe, die Reliquien erster Klasse berührt haben, also magisch durchdrungen, getränkt sind. Legendär ist das Turiner Grabtuch, weil der Leichnam Jesu der Legende nach in dieses gehüllt und in das Felsengrab gelegt wurde.

Ab dem 2. Jahrhundert nach Christus begann ein immer stärker werdender Reliquienkult: Übernatürliche Kräfte wurde ihnen zugeschrieben, sie weckten die Hoffnung auf Heilung und Stärkung der geistigen und physischen Resilienz. Entsprechende Pilgerstätten wurden durch die finanziellen Gaben der Wallfahrer oft zu prachtvollen Orten, deren Wirtschaftskraft ein weiteres Wunder bescherte.

Bei allen Reliquien ist die Provenienz bis heute hoch umstritten. Und durch moderne Untersuchungsmethoden kann mittlerweile nachgewiesen werden, dass angebliche mittelalterliche Objekte erst aus den Jahrhunderten danach stammen. Der Handel mit derart magischen Objekten versprach und verspricht hohe Gewinnspannen. Heute kann man bei Spezialhändlern im Internet vorgeblich echte Reliquien erwerben, wie Knochenteile des Heiligen Franz von Assisi, die mit Echtheitszertifikaten angeboten werden – „Relic ex ossibus“ oder Stücke aus dem Schädel des heiligen Valentin oder „ex carne“, aus dem Fleisch des heiligen Paulus. Die Zuschaustellung von Reliquien und feierliche Wallfahrten zu tangiblen Überresten charismatischer Personen gehörten lange Zeit zur intensiv gelebten Frömmigkeit in der katholischen Kirche.

Vor allem die katholischen Kathedralen sind oft Hüter von Reliquien – und wurden teilweise genau für diese Zwecke gebaut oder umgebaut. So wird seit dem 16. Jahrhundert im Trierer Dom der sogenannte „Heilige Rock“, ein vorgeblicher Teil des Leibrocks des Jesu – nach der Kreuzigung laut Johannes-Evangelium unter den Soldaten verteilt – verwahrt und zu hohen Tagen ausgestellt. Im Freiburger Münster wird der Schädel von Bischof Lambert aufbewahrt, der im 7. Jahrhundert als Bischof von Maastricht bei der Christianisierung mitwirkte. Der Heilige Martin liegt in Tours begraben. Die Gebeine des Heiligen Thomas von Aquin aus dem 13. Jahrhundert werden im Jakobinerkonvent in Toulouse aufbewahrt. Relativ neu ist ein Starobjekt im Mainzer Domschatz: der Pontifikalschuh von Bischof Colmar aus dem 19. Jahrhundert, der sich nach der Französischen Revolution um den Wiederaufbau des Domes verdient gemacht hatte.

Steve Jobs Sandalen mit den silberfarbenen Schnallen sind nach diesem Verständnis Reliquien Zweiter Klasse zu einem erstklassigen Preis, auch wenn sie noch in keiner säkularen Kathedrale – einem Apple-Museum? – ihren Platz gefunden haben. Wer weiß, wo sie derzeit angebetet werden? Vielleicht werden sie sogar getragen, mit heiligem Schauer?

Totemismus auch bei Soziologen

Brauchen nur katholische Christen sichtbare Zeichen ihres Glaubens? Was machen Protestanten? Hilft ihnen bei ihrem gelegentlichen Spott über solch katholische Gebräuche der leicht verächtliche Ton der Jesuiten über Volksfrömmigkeit? Verkennen sie eventuell die zutiefst menschlichen Bedürfnisse der Begreifbarkeit des Sakralen?

Selbst vernunftbegabte, rationale Menschen wie Soziologen scheinen nicht gänzlich immun gegen die Anziehungskraft der Reliquienverehrung zu sein. Als sich der 47-jährige Professor für Soziologie an der University of Cincinnati, Earle Edward Eubank, im Sommer des Jahres 1934 auf eine mehrmonatige Pilgerfahrt zu europäischen Fachkollegen begab, wollte er bei seinen Besuchen nicht nur lange Interviews über deren wissenschaftliche Zielsetzung führen. Er wollte sie auch fotografieren. Und wenn sich die Möglichkeit ergab, schätzte er sich glücklich, wenn er wenigstens eine Visitenkarte geschenkt bekam. Ein handsigniertes Buch aus der Feder des Besuchten war noch besser.

Mit Alfred Weber, dem Bruder Max Webers, führte Eubank bei seinem Besuch in Heidelberg ein mehrstündiges Gespräch über die deutschsprachigen Soziologen jener Zeit (Georg Simmel, Alfred Vierkandt, Ferdinand Tönnies, Franz Oppenheimer, Werner Sombart, Leopold von Wiese, Othmar Spann, Albert Schäffle, Ludwig Gumplowicz, Gustav Ratzenhofer). Was aber tun im Falle des zutiefst verehrten Max Weber, der 13 Jahre vor der soziologischen Pilgerfahrt des US-Amerikaners verstorben war?

Da Alfred Weber eine weitere Verabredung hatte, verabschiedeten sich die beiden Professoren für eine kleine Pause. Der Amerikaner schlenderte durch die Altstadt der deutschen Universitätsstadt am Neckar und gelangte zum Hauptgebäude der Ruperto Carola:

I found an old janitor who showed me the room in which Max Weber had stood before classes for so many years. It was very cramped and inadequate as compared with our modern classrooms but as I stood on the curious high and narrow platform where he had presided for so many years, I got a little bit of the feeling as if I were really a member of his class. At one side was a battered old box containing a few pieces of chalk and eraser within reach of his hand to use while he lectured, and I broke away one of the fragments of crayon almost with the feeling that it was one which he had himself used.

Nachdem die Arbeiten an den beiden Publikationen, die über diese soziologischen Abenteuer berichten, abgeschlossen waren, schickte eine der Töchter Eubanks dem soziologischen Verfasser dieser Zeilen ein kleines Päckchen. Die Visitenkarte Alfred Webers („with kindly regards“) lag darin, das Kreidestückchen fehlte. Vielleicht war es verloren gegangen. Wahrscheinlich hatte niemand verstanden, dass es sich um ein Reliquiar handelte.

Aus dem Bereich der Max Weber-Verehrung ließen sich zahlreiche ähnliche Anekdoten anführen. Im ehemaligen Max Weber-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München fanden die Seminare des Weber-Herausgebers Johannes Winckelmann unter den Augen des Verstorbenen statt: Es handelte sich um eine Kopfbüste Webers, geschaffen von dem Bildhauer Arnold Rickert, Sohn des Philosophen Heinrich Rickert, mit dem Weber seit Freiburger und Heidelberger Zeiten befreundet gewesen war. Wie Winckelmann an diese Büste gekommen war, wussten wir Studenten nicht. Es hatte immer etwas Sakrales, unter dieser Weber-Büste ein Referat über einen Abschnitt des Werkes des so Verewigten zu halten.

Der Privatgelehrte Winckelmann sammelte vieles, was auch nur im Entferntesten mit seinem Hausheiligen in Verbindung gestanden hatte oder gestanden haben könnte. So kaufte er beispielsweise von seinem eigenen Geld Ausgaben jener Bücher, die Weber zu seiner Zeit las bzw. zitierte. Zudem verwahrte er viele Schätze aus dem persönlichen Besitz von Marianne Weber, der Witwe Max Webers, darunter das vermutlich bedeutendste Reliquiar, die Totenmaske Max Webers.

Diese Art von Weber-Totemismus fand ihre Fortsetzungen: Warum ließ sich Edward Shils, jener Distinguished Service Professor an der University of Chicago, eine Kopie jener ikonischen Kopfplastik Max Webers anfertigen, die er dann in seinem häuslichen Arbeitszimmer aufstellte? Warum begrüßt diese Plastik noch heute die Gäste der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in der Münchner Residenz auf dem Weg in den Vortragssaal?

Sind das die Birkenstock-Sandalen jener Soziologen, die in Max Weber ihren Säulenheiligen sehen? Und was sammeln Soziologinnen? Freuen sie sich über ein Hermès-Tuch von Jutta Allmendinger? Oder über einen der Chandelier-Ohrringe von Eva Illouz? Wir wissen es nicht. Das Rätseln geht weiter.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zur monatlich erscheinenden Kolumne „Rätsel des Lebens“ von Dirk Kaesler und Stefanie von Wietersheim.