Nicht weg und nicht da
Aufrichtig und berührend erzählt Andreas Schäfer in „Die Schuhe meines Vaters“ von der Last der Entscheidung und dem Schmerz eines langen Abschieds
Von Elena Hoch
Eines Tages ist das Gesicht verschwunden. Der Ich-Erzähler von Andreas Schäfers Text sitzt gerade im Publikum eines Konzertes, als ihm plötzlich bewusst wird, dass er das Gesicht seines Vaters nicht mehr vor seinem inneren Augen sehen kann. Wie sehr er sich auch bemüht, es kommen nur „versprengte Details, Bruchstücke, Erinnerungsfetzen“. Panik überfällt ihn und er läuft hinaus in den Regen. Die feuchte Jacke noch am Körper setzt er sich zu Hause an den Tisch, „um etwas festzuhalten, zu retten, nein, ans Licht zu bringen.“ Er beginnt zu schreiben.
Robert Schäfer hat Krebs, als er 2018 seine letzte Reise unternimmt. Er besucht seinen Sohn Andreas in Berlin und tut das, was er immer tut, wenn er in der Hauptstadt ist: Er geht in die Oper und ins Theater, unternimmt Tagestouren durch den Grunewald oder um den Potsdamersee, besucht Bekannte. Über seine Krankheit spricht er nur wenig. Er spüre sie nicht und es ginge ihm gut. Erst am Tag vor seiner Rückreise nach Frankfurt sprechen sie über den zurückgekehrten Krebs und die anstehende Biopsie. Einem spontanen Impuls folgend fragt Andreas seinen Vater, ob er Lust hätte, ihm etwas aus seinem Leben zu erzählen. Ein Gefühl von Abschied liegt in der Luft.
Einige Zeit später, Vater und Sohn haben sich nicht noch einmal gesehen, bekommt Andreas einen Anruf aus dem Krankenhaus. Sein Vater hat im Vorfeld der geplanten Biopsie eine Hirnblutung erlitten und wird nur noch durch Maschinen am Leben gehalten. Andreas versteht: „Mein Vater wird sterben.“ Und er soll entscheiden, wann.
Wie kann man aber den Vater gehen lassen, wenn man den Zeitpunkt selbst bestimmen muss? Diese Frage durchzieht das Buch, das den Schmerz eines Mannes nachzeichnet, der seinen Vater nicht verlieren will. Der weiß, dass sie nicht immer einer Meinung waren und auch nicht immer gut miteinander auskamen. Der versucht, den Menschen zu verstehen, mit dem er Zeit seines Lebens verbunden war, ohne je die Distanz zu überbrücken, die er zwischen ihnen gespürt hat.
Andreas fährt nach Frankfurt in die Wohnung seines Vaters, klappert Orte ab, die ihnen wichtig waren, versucht, ihn dort zu finden und zu verstehen. Seine Mutter begleitet ihn oft. Sie und Robert sind zwar schon seit über 30 Jahren getrennt, offiziell scheiden lassen haben sie sich aber nie. Während Andreas die Situation, so surreal und grausam sie ihm auch erscheint, schnell akzeptiert, leugnet seine Mutter den baldigen Tod ihres Mannes. Sie trauern auf fast schon gegenteilige Weise.
Andreas durchblättert Reisetagebücher und Fotoalben – doch je näher er dem Vater zu kommen scheint, desto weiter scheint er sich wieder von ihm zu entfernen. Obwohl die detailreichen Beschreibungen – regelrechte Analysen –, die er im Verlauf des Buches von seinem Vater anfertigt, das Gegenteil vermuten lassen und womöglich sogar belegen, stellt er schließlich resigniert fest: „Ich weiß nichts von ihm und das wird immer so bleiben.“ „Der Vater ist nicht zu fassen“, schreibt die Frankfurter Rundschau über die vergebliche Suche des Sohnes. Am Ende stünde die Erkenntnis, dass das intensive Graben im Gedächtnis die Distanz zwischen Vater und Sohn womöglich noch vergrößert hat. (https://www.fr.de/kultur/literatur/andreas-schaefer-die-schuhe-meines-vaters-ich-weiss-nichts-von-ihm-91708834.html)
Trotzdem hat Andreas Schäfer das Gefühl, dass er durch das Schreiben über seinen Vater die Urverbindung zu ihm wiederherstellen konnte, die er zuvor verschütt geglaubt hatte. Er habe nicht vor gehabt, dieses Buch zu schreiben, sagt er wie so viele Autor:innen großartiger Bücher es tun. Während die schrecklichen Ereignisse stattfanden, sei er wie im Tunnel gewesen. Erst drei Jahre später, als sie die Wohnung seines Vaters auflösten, habe er ein Buch angefangen. Es habe aus drei Teilen bestanden: dem Sterben des Vaters, den Facetten seiner Persönlichkeit und dem Abschied. Die Erinnerungen an die Tage nach der Schocknachricht seien spannend zu beschreiben gewesen, berichtet er im Interview mit deutschlandfunk.de. Er habe sich wie ein Zeuge seiner selbst gefühlt und dessen, was damals in ihm vorgegangen war. (https://www.deutschlandfunkkultur.de/andreas-schaefer-die-schuhe-meines-vaters-100.html)
Die Schuhe meines Vaters ist ein Erinnerungsbuch an Robert Schäfer. Vielleicht ein Versuch der Anerkennung, vielleicht ein Versuch der Annäherung, vielleicht beides und doch nichts davon. Sicher ist jedoch, dass Andreas Schäfer ein ebenso fesselndes wie berührendes Buch geschrieben hat, das das Herz mit jeder Seite schwerer werden lässt. Das Gesicht seines Vaters konnte er vor seinem inneren Augen nicht festhalten, seine Person und seine Beziehung zu ihm aber in Wort und Schrift verewigen.
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