Krieg, Kunst und ein Sommer auf Cape Cod

„Schmales Land“ von Christine Dwyer Hickey erzählt von einem traumatisierten Jungen und einem alternden Maler

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Spätsommer im Jahr 1950 auf Cape Cod. Hier treffen sehr besondere und äußerst unterschiedliche Menschen aufeinander, weswegen der beeindruckende Roman Schmales Land der irischen Autorin Christine Dwyer Hickey eine Vielzahl an Konflikten und sehr viele dynamische Entwicklungen aufzeigt. Um es gleich vorweg zu sagen: zwar ist eine der wichtigen handelnden Personen der amerikanische Maler Edward Hopper, dessen ikonische Bilder weltweit bekannt sind und bewundert werden (ein Ausschnitt seines Gemäldes „Sea Watchers“ von 1952 ziert den Schutzumschlag des Buches), doch ist Schmales Land kein Hopper-Roman (bezeichnend dafür mag unter anderem sein, dass sein berühmtestes Bild, „Nighthawks“, auf über 400 Seiten kein einziges Mal erwähnt wird). Das Ehepaar Hopper hat am sogenannten Äußeren Kap ein Haus mit Zugang zu Strand und Meer. Hier verbringen sie den Sommer. Die Ehe der Hoppers ist schwierig, von häufigen Streitereien geprägt. Er ist ein Eigenbrötler, immer auf der Suche nach Motiven, nach dem richtigen Licht („Er prüft eine Ladenfront, einen Schuppen, eine Veranda, kalkuliert, was an Licht absorbiert, beziehungsweise reflektiert wird. Er überquert die Straße, um zu schauen, wie die Schatten fallen.“). Sie, ebenfalls Künstlerin, hadert mit ihrer Situation, Gattin des berühmten Malers zu sein und selbst nur wenig Anerkennung zu bekommen. Außerdem drängt sie ihn, der viel Zeit benötigt, um in Stimmiung zu kommen, eine neue Arbeit, ein neues Bild zu beginnen. All das erzeugt immer wieder starke Spannungen im Hause Hopper, aber auch Versöhnungen, ein Auf-und-ab.

Und dann ist da Michael, ein zehnjähriger Junge aus Deutschland, der einmal als einer von „Trumans Waisen“ bezeichnet wird – tatsächlich verfügte der damalige US-Präsident, dass vertriebene Waisen leichter in die USA einreisen und fortan bei Pflegeeltern leben konnten. So auch Michael, der nach dem Aufenthalt in einem Heim das Glück hatte, durch Vermittlung der Philanthropin Mrs Kaplan in dem New Yorker Ehepaar Novak neue Eltern zu finden. Der Roman beginnt mit einer sehr emotionalen und mit vielen Gedanken und Erinnerungen durchsetzten Szene am Bahnhof Grand Central, wo Mrs Novak – von Michael noch immer von Michael Frau Aunt genannt, obwohl sie ihn mehrfach darauf hingewiesen hat, englisch zu sprechen – ihr Pflegekind in den Zug setzen will, weil mit der bereits genannten Mrs Kaplan vereinbart wurde, ihn über den Sommer nach Cape Cod zu bringen, wo er eine schöne und unbeschwerte Zeit verbringen soll.

Der sehr ambitionierte und mit zwei wichtigen Preisen ausgezeichnete Roman zeigt, ohne zu explizit zu werden, die schweren Traumata, die Michael (und viele weitere Personen des Buches) durch den Zweiten Weltkrieg erlitten und nicht verarbeitet hat. Zudem demonstriert er anhand des Baus des UN-Hauptquartiers einerseits („… die Männer darin würden die Verantwortung für die Welt übernehmen, damit die Länder nicht einfach hergehen und sich gegenseitig nach Lust und Laune zerstören könnten.“) und dem bereits tobenden Koreakrieg andererseits die immerwährende Doppelmoral von Politik. In Mrs Kaplans Haus erwarten Michael außer der Gastgeberin noch deren verwitwete Schwiegertochter, ihre kranke Tochter und ihr Enkel Richie, der den Verlust seines Vaters – analog zu Michael – nicht verarbeitet hat. Die beiden etwa gleichaltrigen Jungen sollen sich anfreunden, am Strand spielen, den Sommer genießen. Doch Michael kann sich nicht recht einfinden in diesen frauendominierten Haushalt, kommt auch mit Richie nicht gut klar und streunt häufig allein herum. Bei einer dieser ziellosen Runden stößt er auf Mrs Hopper, die alleine im Auto sitzend auf ihren Mann wartet, der wieder einmal auf Motiv- und Inspirationssuche ist. So beginnt ein sehr besonderes Verhältnis, das weite Teile des Buches tragen wird.

Christine Dwyer Hickey versteht es virtuos, die unterschiedlichen Handlungsstränge und Motive ihres Romans in der Balance zu halten und sowohl den Hopperstrang als auch die Michael-Geschichte und deren Überschneidungen gleichberechtigt zu erzählen. Michael macht sich, gemeinsam mit Richie und dessen Hund Buster, am Strand entlang auf, um die Hoppers zu besuchen. Mit Mrs Hopper (oder „Mrs Aitch“ wie sie von den Nachbarn genannt wird, die den berühmten Nachnamen vermeiden und nur den Anfangsbuchstaben verwenden) schleicht er in Edward Hoppers Atelier, zeigt Interesse und Neugier.

Durch den Jungen entspannt sich die nachbarschaftliche Situation, die eingangs als schwierig charakterisiert wird. Man kommt sich näher, auch das Eigenbrötlertum des Malers und seine vermeintliche Abneigung gegen jegliche provinzielle gesellschaftliche Aktivitäten verliert sich zusehends. Verblüfft nimmt man zur Kenntnis, dass der gesundheitlich angeschlagene Künstler freudig und mit großer Tatkraft anpacken kann. Seine Hilfe ist gefragt, denn Mrs Kaplan plant zum Labor Day Anfang September ein großes Fest, zu dem auch die Hoppers eingeladen sind und tatsächlich kommen wollen.

Schmales Land überzeugt durch eine Vielzahl an Qualitäten. Da sind die bereits erwähnten Hinweise auf Politik und Krieg. Da ist aber vor allem auch das Leid der Kinder, deren Hilflosigkeit angesichts persönlicher Verluste und erlittener Qualen, von der Autorin in Form von Erinnerungen, Träumen, aber auch Rückzug, Lügengeschichten und herbei phantasierter Situationen, eindrucksvoll dargestellt. Da ist die Beschreibung der sommerlichen Landschaft, der Kleinstädte, der Strände, des Meeres, der Interieurs und Autos – all das atmet auch die Stimmungen der Gemälde Edward Hoppers, so dass der Text durchaus als Annäherung an dessen Werk gelesen werden kann und möglicherweise ein wenig als Verbeugung vor demselben.

Auch wenn das Buch kein Künstlerroman ist, so ist es doch ein Buch über Kunst, über die Auseinandersetzung mit Kunst, über das Reden und Nachdenken über Kunst – hier ist Christine Dwyer Hickey ganz nah an Mr und Mrs Hopper, schleicht sich in ihre Gespräche, in ihre Gesten und Rituale. Immer wieder thematisiert sie in diesen Auseinandersetzungen und Rangeleien das Geschlechterverhältnis, das Sich-nicht-abfinden-können der Frau als Gattin des berühmten Malers, die Rolle als Muse und Hausfrau, als Antreiberin und eifersüchtige Furie, als gekränkte und von Zweifeln geplagte Künstlerin, die nur seinetwegen wahrgenommen wird. Man muss diesen herausragenden Roman sehr genau lesen, denn in den vielen  lebendigen Dialogen, dem Klatsch auf Teegesellschaften und Partys, den Streitereien und inneren Monologen sind viele Unterströmungen eingebaut, viele Andeutungen in Halbsätzen versteckt. Der Roman ist trotz der spätsommerlichen Trägheit an diesem beliebten Urlaubs- und Ausflugsort geprägt von einer latenten Spannung. Dramatik und Überraschungen bleiben bis zum Schluss hoch und lassen die Lesenden nach der Lektüre staunend und beglückt zurück.

Titelbild

Christine Dwyer Hickey: Schmales Land. Roman.
Unionsverlag, Zürich 2023.
416 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783293005945

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