Im Schatten der Kriegseuphorie

Raphaela Edelbauer schickt in ihrem ambitionierten historischen Roman „Die Inkommensurablen“ einen Tiroler Pferdeknecht am 30. Juli 1914 durch Wien

Von Miriam SeidlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Seidler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Klappentexte von Raphaela Edelbauers neuem Roman Die Inkommensurablen versprechen viel: Der österreichische Schriftsteller Clemens Setz bezeichnet die Kollegin als „erzählerisches Universalgenie“. Der Journalist und Kunsthistoriker Florian Illies, der es 2012 mit dem Sachbuch 1913: Der Sommer des Jahrhunderts auf die Spiegelbestsellerliste geschafft hat, lobt den Roman, in dem der „August 1914 in eine Traumnovelle“ verwandelt werde, in höchsten Tönen. Mit ihrem  zweiten Roman Dave, der eine so kluge wie faszinierende Science-Fiction-Variation auf die Themen Erinnerung und Künstliche Intelligenz ist, hat die Österreicherin 2021 den  Österreichischen Buchpreis gewonnen. Und so stellt sich nun die Frage: Wird der Roman mit dem so sperrigen wie rätselhaften Titel Die Inkommensurablen den Erwartungen gerecht? 

Bereits der Romanbeginn zeigt die Ambitionen der österreichischen Autorin: 

Es war sechs Uhr zweiunddreißig am 30. Juli 1914, als der siebzehnjährige Bauernknecht Hans Ranftler nach kaum halbstündigem Schlaf von einem Beamten der k. u. k. Eisenbahnen, der den Besen in der Hand trug, unsanft aus dem Schlaf befördert wurde.

Bereits dieser erste Satz will viel. Er lässt seine Leser*innen atmosphärisch nicht nur in die letzten Vorkriegstage des Jahres 1914 eintauchen, sondern ahmt sprachlich zugleich die Literatur der Wiener Moderne nach: Der nüchtern beschreibende Stil des allwissenden Erzählers liefert zentrale Information zu Ort, Zeit und handelnder Figur, die Bewegung des Aufwachenden verspricht sich direkt auf die Narration zu übertragen. Mit dem Schlaf als zentralem Thema, das durch die Wiederholung des Substantivs unübersehbar gesetzt wird, wird zudem eines der zentralen Themen der Literatur um 1900 aufgerufen – es fehlt nur noch die Erinnerung an einen Traum, um das Setting zu komplettieren. Doch auch wenn Leserinnen und Leser nun direkt an Sigmund Freud oder Arthur Schnitzler denken, so stellt sich doch die Frage, ob die Autoren der Wiener Moderne die Wiederholung des Substantivs nicht doch vermieden und zumindest etwas subtiler in ihr Thema eingeführt hätten? 

Solchen Fragen nachzuhängen, bleibt den Leser*innen erst einmal keine Zeit. Sie werden mit dem jungen Pferdeknecht in das Treiben in der Hauptstadt der k. u. k. Monarchie geworfen. Wien vibriert. Der Kriegsbeginn liegt in der Luft, hat doch Russland bereits die Generalmobilmachung erklärt. Die Menschen, denen der Protagonist Hans im Bahnhof begegnet, gehen ungefragt davon aus, dass sich der junge Mann zum Militärdienst melden möchte. So wird er überall freundlich aufgenommen. Doch Hans möchte nicht in der großen Gemeinschaft aufgehen. Er hat ein anderes Ziel. Der Waise möchte ergründen, warum er die Gedanken anderer Menschen wahrnehmen kann, bevor diese sie aussprechen beziehungsweise sich dieser Gedanken selbst bewusst werden. Dazu will er die Psychoanalytikerin Helene Cheresch aufsuchen, deren Annonce er in einer Zeitung entdeckt hat. Heimlich hat er den Hof in Tirol verlassen und sich mit wenigen Kronen in der Tasche auf den Weg in die Hauptstadt gemacht. Der Aufbruch in die Ungewissheit korrespondiert mit dem der Nation. Und angelehnt an den Mythos der „Ideen von 1914“, geht auch im Leben des Pferdeknechts dem Aufbruch eine lange Zeit der Stagnation voraus. Sein Vater, ein Holzverkäufer, ist vor sieben Jahren gestorben. Da Hans unehelich geboren wurde und seine Mutter nicht kennt, wird er nach dem plötzlichen Tod des Vaters als Knecht auf einen Hof geschickt. Die Schulbildung hat abrupt ein Ende. Lediglich ein junger Vikar hat Mitleid mit dem aufgeweckten Jungen und leiht ihm jede Woche ein Buch, das sie dann am folgenden Sonntag gemeinsam diskutierten – bis der Vikar eines Tages verschwindet. Man vermutet, dass der unkonventionelle Kirchenmann strafversetzt wurde, aber Informationen zu seinem Verbleib liefert der Text keine. Dem Vikar ist es zu verdanken, dass Hans für seine Herkunft extrem belesen ist. Er hat aber wenig praktische Lebenserfahrung, die ihm auf seinem Weg durch Wien behilflich sein könnte. 

Und so ist es ein Glück für den jungen Mann, dass er bei der Psychoanalytikerin, die Hans einen Termin am nächsten Tag anbietet, die Mathematikstudentin Klara und den adligen Offizier Adam Graf Jesensky kennenlernt. Letzterer ist bei Helene Cheresch in Behandlung, während Klara ihre Geliebte ist. Die beiden nehmen sich des Pferdeknechts an und ziehen mit ihm durch die Stadt. Das Gemeinschaftsgefühl, das in der Kriegsliteratur beschrieben wird, scheint hier bereits vorweggenommen. Worin es begründet ist, wird aber nicht klar. Warum sollte sich ein junger Adliger eines dahergelaufenen Pferdeknechts annehmen? Was ist an Hans so besonders, dass Klara ihre Unterlagen für das bevorstehende Rigorosum zur Seite legt, um sich mit dem Fremden zu unterhalten? So wunderbar die Hilfe für Hans ist und so viel wir durch diese beiden Figuren über die Stadt erfahren, so ratlos macht bereits diese erste Setzung. 

Dabei muss man neidlos eingestehen, dass Raphaela Edelbauer für ihren historischen Roman gut recherchiert hat. Die vielen kleinen Details – sei es das Badezimmer im Hause Jesensky, die Arbeitersiedlung aus der Klara stammt oder das Umfeld der Suffragetten – sind detailliert und überzeugend dargestellt. Schilderungen, wie nebenbei hingeworfen, zeigen Edelbauers Lust am Erzählen: 

Es war mehr ein Loch denn ein Lokal, in das sie über ein Treppchen herabgestiegen waren. Schwere, brackig riechende Polstermöbel aus Leder standen unter feuchten Mauern, gerade als würde man beabsichtigen, dass das Interieur zu schimmeln anfing. Ja, feucht war es wie am Ende einer ins Gemäuer führenden riesigen Regenrinne. Überall blätterte – und mehr schlecht als recht verdeckt vom altrosa Samt an den Wänden – der Verputz. Darüber lag ein Geruch als hätte sich ein ganzes Jahrhundert hier erbrochen. 

Edelbauer schickt ihre Leser*innen mit dem Tiroler Pferdeknecht Hans Ranftler durch Wien. So entwickelt sie nicht nur glaubwürdig das Gefühl, in einen Strudel von Ereignissen zu geraten, sondern stellt die Hauptstadt der k. u. k. Monarchie wie ein Kaleidoskop dar. Von der euphorisierten Menge in den Straßen der Stadt über ein Abendessen mit dem militärischen Krisenstab der Donaumonarchie im Hause Jesensky bis hin zu fragwürdigen Etablissements, in denen die neue Musikrichtung des Jazz (die allerdings erst nach dem Ersten Weltkrieg ihren Weg nach Europa gefunden hat) ebenso wie die Prostitution zuhause sind – ständig gerät Hans in neue Situationen, die ihn neue Facetten der Stadt erleben lassen. Überforderung und Überwältigung wechseln sich ab. Dabei sind es nicht nur die Schnelligkeit des Lebens und die Größe der Häuser, die ihn beeindrucken, sondern auch die von seinem bisherigen Alltag völlig verschiedenen Lebensweisen, die er in der Großstadt kennenlernt, die ihn emotional ebenso anregen wie herausfordern: 

In keiner möglichen Welt, hatte Hans geglaubt, konnte ein junger Mann mit einer jungen Frau in einer solchen Arglosigkeit befreundet sein, dass er keine Scheu hatte, es auf der Straße zuzugeben. Miteinander Zeit zu verbringen: Was für ein Konzept! Der Ausdruck wühlte in ihm, doch nicht in Abscheu, sondern weil er die Vorstellung so schön fand, dass ihm seine Gedanken fortgaloppierten.

Das neue Konzept von Freundschaft, das Hans hier kennenlernt, ist weniger gewagt als die lesbische Liebe, die immer wieder Thema ist. So beobachtet Hans während des Konzertes sexuelle Handlungen zwischen Klara und einer ihrer Freundinnen. Doch dieser expliziten Sexszene hätte es nicht bedurft und sie scheint auch historisch wenig glaubwürdig. Die Schilderung der inneren Kämpfe, die ihre sexuelle Orientierung bei Helene Cheresch auslöst, ist wesentlich eindrücklicher, denn sie veranschaulicht die soziale Stigmatisierung, die mit einer Abweichung von der Norm verbunden ist, glaubwürdiger.

Die vielen neuen Eindrücke sind kaum in Worte zu fassen, weshalb eine kommentierende Erzählerstimme ab und an für etwas Orientierung im Ereignisfluss sorgt. Der allwissende Erzähler liefert darüber hinaus in Rückblenden die biographischen Hintergründe zu den Figuren und zu den historischen Ereignissen. Aber Raphaela Edelbauer geht es nicht um den Stadt-Land-Gegensatz oder die unterschiedliche Sozialisation ihrer Protagonist*innen. Ihr Thema ist das Unbewusste und der Traum, denn gemeinsam ist den Protagonist*innen, dass sie über besondere Eigenschaften verfügen: 

„Es geht um ein Dorf, in dem die Schlafenden zu Bewusstsein gelangen. Jeder in seinem Häuschen, in seiner kleinen Kaschemme. Trotz der vielen hundert Berichte ist es deswegen kein Leichtes, ein Gesamtbild zu erstellen, auf das man sich wissenschaftlich valide verlassen kann. Die Hoffnung ruht – und damit wären wir gerade bei der Sache –, schwörst du auch wirklich, nichts, gar nichts darüber zu sagen?“ 

„Ich habe doch schon geschworen“, sagte Hans begierig. 

„Während alle anderen bloß ihren eigenen Part träumen, kann Klara eine ganz wesentliche Sache –“

„Zwischen den Perspektiven wechseln“, sagte Hans. Es war Adams Gedanke gewesen, den er gerade ausgesprochen hatte, das war ihm vollkommen bewusst. 

„Woher weißt du das?“ Adam schien getroffen.

„Es war aus dem Zusammenhang wahrscheinlich“, sage Hans rasch. „Erzähl weiter.“ Adam brauchte einen Moment, schien durch seine Erklärung aber besänftigt. 

Während Klara eine besondere Rolle in den Traumstudien von Helene Cheresch spielt, weiß Hans im Vorhinein, was sein Gesprächspartner gleich sagen wird. Ganz ähnlich kann Adam Erinnerungen seines Gegenübers erkennen und durchlebt selbst eine historische Kriegsszene aus der Perspektive eines verwundeten Soldaten immer wieder. Die Irrwege von Unbewusstem und Erinnerung sind es, die die Figuren gemeinsam haben. Das Ziel von Helene Cheresch scheint dabei nichts weniger zu sein, als die neu entdeckte Traumanalyse wissenschaftlich zu widerlegen. Dieser zentrale Handlungsstrang taucht zwar immer wieder aus den Irrungen und Wirrungen der Handlung auf, wird aber nicht konsequent verfolgt. So kommt den Leser*innen im Lauf der Lektüre der rote Faden etwas abhanden. Das betrifft nicht nur diesen Handlungsstrang. Raphaela Edelbauer erweist sich zwar als sprachlich versierte Erzählerin, die ihre Leser*innen immer wieder mit Sprachspielen, historischen Formulierungen und gewagten (oder vielleicht doch übers Ziel hinausschießenden) Metaphern erfreut, wenn die Gedanken fortgaloppieren oder ein Geruch so abstoßend ist, dass er das Erbrochene vieler Jahrzehnte zu vereinen scheint. Doch es gelingt ihr nicht, die vielen Facetten des Romans – die kritische Reflexion der Traumdeutung, die kollektive Euphorie im Sommer 1914, die titelgebenden mathematischen Überlegungen und das Aufeinandertreffen ihrer Protagonist*innen – in ein stimmiges Gesamtbild zu integrieren. 

Inkommensurable bezeichnen in der Mathematik Zahlenwerte, die kein gemeinsames Maß haben. Der Name kommt vom Lateinischen incommensurabilis, was unmessbar bedeutet. Der Name ist Programm. Raphaela Edelbauer hat einen gut recherchierten historischen Roman geschrieben. Die einzelnen Themen und Handlungselemente sind allerdings bei der Lektüre nicht unter einen Hut zu bringen. So bleibt am Ende der Eindruck eines ambitionierten Romanprojektes einer talentierten Autorin, das die Rezensentin verwirrt zurück lässt. 

Titelbild

Raphaela Edelbauer: Die Inkommensurablen. Roman.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2023.
352 Seiten , 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783608986471

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch