Zwischen Bildungsauftrag und Unterhaltungsangebot

Die Kulturjournalistin Nora Karches spricht mit literaturkritik.de über Literaturvermittlung im Hörfunk

Von Mario WiesmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Wiesmann

Nora Karches rezensiert Bücher für den Deutschlandfunk, Deutschlandfunk Kultur und den SWR und arbeitet als freie Moderatorin und Redakteurin für die Literatursendung Büchermarkt im Deutschlandfunk.

 

literaturkritik.de: In der Publizistik spricht man von Nachrichtenwertfaktoren, die beeinflussen, ob eine Nachricht publiziert wird oder nicht. Je überraschender, je relevanter usw. eine Meldung, umso attraktiver ist sie fürs Publikum. Wie sieht es da mit Blick auf die Literatur aus? Was macht ein Buch oder ein Ereignis im Literaturbetrieb berichtenswert?

Karches: In meinen Augen greifen im Kulturjournalismus bzw. der Literaturkritik ähnliche Mechanismen. In der Redaktion erlebe ich immer wieder, dass oft allein die Tatsache, dass ein:e Autor:in international anerkannt ist, ausschlaggebend ist. Wenn ein Autor an einem Pornofilm mitwirkt, würde ich sagen, das ist für uns in den Literaturredaktionen grundsätzlich erstmal nicht relevant. Wenn dieser Autor allerdings Michel Houellebecq ist, in dessen Werk es ja immer wieder um Pornografie geht, und dann kommt es noch zum Streit mit dem Regisseur des Films, dann hat das Nachrichtenwert.

Abgesehen davon gibt es immer wieder auch gesamtgesellschaftliche Themen und Trends, die sozusagen in das Geschehen im Literaturbetrieb hineinragen. Ein Beispiel: In diesem Frühjahr erscheinen einige Bücher in Neuauflagen, die von Klima-Dystopien erzählen. Etwa „Die purpurne Wolke“ von Matthew Phipps Shiel aus dem Jahr 1901. Oder „Sturz in die Sonne“ von Charles Ferdinand Ramuz, das Buch ist erstmals 1922 erschienen. Das wird dann heute unter dem Schlagwort Cli-Fi, also Climate Fiction, in den Feuilletons aufgegriffen.

Woran liegt es, dass im Literaturjournalismus umgekehrt Genres wie Fantasy oder Thriller kaum besprochen werden?

Ich denke, das hat vor allem zwei Gründe: Zum einen richtet sich das Augenmerk der Literaturkritik in erster Linie auf Stimmen und Schreibweisen, die sich in irgendeiner Weise durch einen new style auszeichnen, die sich absetzen vom Mainstream. Und Fantasy und Thriller funktionieren eben in der Regel schon so, dass gewisse Genre-Konventionen erfüllt werden müssen. Der Rahmen für literarische Innovation ist da eng gesteckt. Zum anderen sieht es die „klassische“ Literaturkritik der Feuilletons seit jeher als ihre Aufgabe, durch Rezensionen Aufmerksamkeit für Bücher zu generieren, die ansonsten nicht den Weg zu den Leser:innen finden. Titel aus Indie-Verlagen mit einer kleinen Auflage. Mir fällt da etwa der kleine Sonderzahl-Verlag ein, die haben ihren Sitz in Wien und verlegen vor allem Essays. Klar ist das keine Massenware, die bei ReLAY in der Bahnhofsbuchhandlung ausliegt.

Wobei die Titel der Indie-Verlage es ja auch seltener in die großen Feuilletons schaffen …

Ja, das stimmt natürlich. Andererseits muss man sich auch immer wieder vor Augen führen, wie viele Verlage wir im deutschsprachigen Raum haben, die Indie sind und big player. Da ist zum Beispiel der Berliner Verlag Matthes & Seitz – ein Verlag, der auch international Strahlkraft hat und dessen Bücher ihren festen Platz in den großen Feuilletons haben.

Werfen wir mal einen Blick in die Gegenwart: Ist Literaturvermittlung über das Radio überhaupt noch zeitgemäß?

Unbedingt!

Inwiefern?

Klar ist es heute nicht mehr so, dass um 16:10 Uhr, wenn der „Büchermarkt“, die Literatursendung im DLF, beginnt, sich die Menschen zu Hause vor den Empfangsgeräten versammeln. Die Ausspielungswege sind heute andere. Das lineare Programm verliert an Bedeutung, dafür wird das zeitautonome Hören über die Audiothek immer wichtiger. Und es wird auch nicht die gesamte Sendung nachgehört, sondern eher der Einzelbeitrag. Aber dass Radio, dass Literaturkritik im Radio nicht mehr wahrgenommen wird, das Gefühl habe ich eher nicht. Aber vielleicht ist das auch die Blase, in der ich mich bewege.

Was sicher nicht bedeutet, dass die Literaturvermittlung im Hörfunk heute nicht auch mit neuen Herausforderungen konfrontiert wäre …

Klar, die Herausforderungen gibt es. Mir fällt seit Jahren auf, dass es eine Verengung des Diskurses gibt, in dem Sinne, dass in den Landesrundfunkanstalten, den Radiosendern wie SWR oder BR, die nicht bundesweit senden, immer mehr Wert auf Bücher mit einem regionalen Bezug gelegt wird. Selbst bei überregionalen Radiosendern wie Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur, für die ich häufig arbeite, sehe ich die Tendenz, dass einer literaturkritischen Auseinandersetzung mit Büchern immer weniger Platz eingeräumt wird. Das liegt unter anderem an der großen Nachfrage nach Buchempfehlungen, Reihen wie „Die besten Romane für den Sommer“. Und das ist ja klar, dass man sich darunter eher leicht bekömmliche Bücher vorstellt. Bücher wie „Roman eines Schicksallosen“ von Imre Kertész, einer der wichtigsten Titel der Shoah-Literatur, fallen darunter nicht unbedingt.

Deutschlandfunk Nova gibt es inzwischen auch auf TikTok. #bookstagram und #BookTok sind längst keine Randerscheinungen mehr. Findet Kulturjournalismus in ein paar Jahren vor allem in den sozialen Medien statt?

Ich hoffe, bzw. gehe davon aus, dass es auch in Zukunft beides geben wird – Feuilleton und #BookTok. Schon allein, weil das Problem der Monetarisierung, das ja alle Formate und Akteur:innen auf Instagram und TikTok haben, sich nicht so einfach lösen lässt. Die Plattform bezahlt ja nichts. Und dann ist es auch so, dass über Social Media weiterhin nicht alle Zielgruppen der Verlage erreicht werden können. Da muss man nur zu einer Lesung mit 12 Euro Eintritt ins Literaturhaus gehen, und schon ist man umgeben von Menschen mit grauen Haaren. Und dann stehen die nach der Lesung noch alle am Büchertisch Schlange. Über TikTok erreicht man die nicht.