Von rabiaten Republikanerinnen und Demokraten

Die Bände der „Edition Paulskirche“ gewähren nachhaltige Einblicke in demokratische Programme und Texte der Deutschen Revolution

Von Ulrich KlappsteinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Klappstein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von großem medialen Aufwand begleitet – so einem Festakt am 28. Februar 2023 in der Frankfurter Paulskirche – startete im 175. Jubiläumsjahr des Beginns der Deutschen Revolution von 1848 eine neue Buchreihe. Die Edition Paulskirche versammelt Schriften von deutschen Freiheitskämpfer:innen im 19. Jahrhundert. Herausgegeben wird die gesamte Buchreihe von Jörg Bong, Ina Hartwig, Helge Malchow, Nils Minkmar, Walid Nakschbandi und Marina Weisband, jeweils in Kooperation mit der Stadt Frankfurt am Main. Sie ist auf 16 Bände angelegt, die im Halbjahresrhythmus bis zum Herbst 2024 erscheinen sollen. Zeitgleich mit der Auftaktveranstaltung sind nun die ersten Bände zu Emma Herwegh, Theodor Fontane, Robert Blum, Friedrich Hecker sowie ein einführender Band von Jörg Bong erschienen. Die Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt hat diese Neuerscheinungen als Lizenzausgabe des Verlags Kiepenheuer & Witsch in einer 900-seitigen Ausgabe zusammengebunden.

Es handelt sich bei der Edition Paulskirche um eine sogenannte „Publikumsedition“, also keine wissenschaftliche Publikation im strengen Sinne, sondern die veröffentlichten Texte wurden orthografisch und grammatisch an die heutigen Lesegewohnheiten angepasst. Auch die editorischen Anmerkungen wurden auf ein Mindestmaß beschränkt, hauptsächlich die Namen von Personen betrifft, die eher beiläufig erwähnt werden. Die sonstigen Fußnoten enthalten jedoch Begriffserklärungen, Nachweise der Primärliteratur und Hinweise auf die herangezogene, aktuelle Sekundärliteratur. Ein Quellenanhang fehlt jedoch, auch ein hilfreiches Sachregister der Namen und Orte der Revolutionsereignisse sucht man vergebens. Das Kompilat (der Einzelveröffentlichungen) zwingt also die Benutzer:innen dazu, die Bände jeweils für sich durchzuarbeiten und die Quellenhinweise dort nachzuschlagen. Hinzu kommt ein weiteres Problem: Die Einzelbände haben einen Umfang von ca. 180 Seiten – das Kompilat der wbg-Edition weist jedoch insgesamt 903 Seiten auf. Zitierungen, die sich auf die jeweiligen Bände beziehen, sind so nicht möglich. Das bedeutet, dass zwar die frühen deutschen Demokratinnen und Demokraten mit ihren Schriften, Biografien und politischen Forderungen „lesefreundlich“ versammelt und gewürdigt werden – was verdienstvoll ist, da die Texte zum großen Teil aus nicht mehr allgemein zugänglichen Quellen und Briefeditionen stammen –, dass aber der editorisch korrekte Umgang mit ihnen nicht möglich ist, was die Benutzung für wissenschaftliche Arbeiten nicht unwesentlich einschränkt. Die Recherche in einschlägigen Bibliotheken und Archiven wird sich also in vielen Fällen nicht umgehen lassen, etwa dort, wo diese Texte, zum Beispiel in Internetarchiven, ebenfalls nicht zugänglich gemacht worden sind. Zudem liegen die (umfangreicheren Texte) und auch die Auswahlen aus den Briefen nur in einer von den  jeweiligen Bandherausgeber:innen gekürzten Fassung vor.

Am ehesten zu verschmerzen ist dieser Umstand noch in dem Einführungsband von Jörg Bong. Seine „kurze Geschichte der 1848er Revolution“ bietet auf ca. 70 Seiten eine kenntnisreiche Zusammenfassung des Forschungsstandes (auf der Grundlage seines durchaus packend geschriebenen Bestsellers Die Flamme der Freiheit (Kiepenheuer & Witsch 2022), einem Geschichtsbuch, das sich wie ein Roman liest). Bong versammelt im Anschluss 25 zentrale Dokumente und Manifeste des Revolutionsjahres 1848; eine durchaus treffliche Auswahl, denn sonst liegt eine „preiswerte“ ähnlich gelagerte Zusammenstellung nur noch von Walter Grab in einer Reclam-Ausgabe vor. Eine immer noch sehr brauchbare Sammlung von „Augenzeugenberichten“ und weiteren Dokumenten von Hans Jessen war schon 1968 im Düsseldorfer Rauch-Verlag erschienen (und 1973 als Nachdruck bei dtv), ist aber mittlerweile vergriffen.

Dieses von Bong vorgestellte Prinzip – Einführung und Quellenauswahl – verfolgen auch die weiteren vier Bände, die hier nur kurz vorgestellt werden können. Sie werden jeweils kenntnisreich von den Herausgeber:innen eingeleitet – hervorzuheben ist z. B. das leidenschaftliche Plädoyer Elke Heidenreichs mit dem Titel Eine rabiate Republikanerin über Emma Herwegh, aber auch die  anderen Vorworte vermitteln verlässliche, knappe Einführungen in das Leben und Wirken der vorgestellten Persönlichkeiten: Iwan-Michelangelo D’Aprile schreibt über Theodor Fontane, Gabriele Gillen über Robert Blum, zum Schluss Antonia Grunenberg über Friedrich Hecker. Diesen Vorworten folgen dann die Textauswahlen der Quellen, Tagebücher oder Briefe. Nachgestellt ist den Einzelbänden – als Zugabe – jeweils eine biografische „Notiz“, vier wurden vom Hamburger Publizisten und Lektor Rüdiger Dammann verfasst, nur der Robert Blum-Band wird von der Autorin Gabriele Gillen selbst abgeschlossen. Unklar bleibt, warum sich der Erstverlag Kiepenheuer & Witsch für dieses Verfahren entschieden hat, dem auch die wbg-Edition folgt. Ausschlaggebend dürften sicherlich kostenkalkulatorische Gründe gewesen sein, zumal einer Buchgesellschaft, die ihren Mitgliedern dieses Kompilat überhaupt passend zum Jubiläumsjahr anbieten wollte. Wünschenswert wäre zweifelsohne eine redaktionelle Zusammenfassung von Einführung und Biogramm der Einzelbände gewesen, um Redundanzen zu vermeiden. Solche Bedenken gelten – mit den schon vorgetragenen Einschränkungen – natürlich nicht für die vorgestellten Quellen: Hier werden den Leser:innen Einblicke in vielfach verschüttete und vergessene Dokumente gewährt, welche die Individualitäten und Anteile der vorgestellten Persönlichkeiten am revolutionären Geschehen in treffend zubereiteten Auswahltexten hervortreten lassen:

- Emma Herweghs Bericht über das „Abenteuer“ der Demokratischen Legion, das sie zusammen mit ihrem Mann, dem Dichter Georg Herwegh, bestritten hat sowie ihre Korrespondenz mit anderen Revolutionären und „48ern“ – Dokumente, die das Bild einer Frau zeigen, die ihr gesamtes Leben dem Kampf für die Demokratie gewidmet hatte;

- die weniger bekannten Zeugnisse des jungen „politischen“ Theodor Fontane, dessen frühe Texte hier versammelt werden und der sich im Revolutionsjahr 1848 als ein glühender Vertreter der durch die Februar-Revolution in Paris auch in Deutschland enorm an Auftrieb gewinnenden demokratischen Kräfte erweist;

- die Schriften und Briefe von Robert Blum, als einem der bedeutendsten Vertreter der deutschen Revolution, der am 9. November 1848 in Wien für seine Ideale hingerichtet wurde und dessen Forderungen nach politischer Mitbestimmung, nach sozialer Sicherheit, nach einem freien Zugang zur Bildung, einem Rechtsstaat und einer parlamentarischen Verfassung bis heute von großer Aktualität sind;

- schließlich die versammelten Texte des „Tatmenschen“ Friedrich Hecker, der nicht nur in seinem Heimatland Baden, sondern in allen deutschen Ländern zu den bekanntesten und angesehensten frühen Demokraten gezählt werden muss, der schöne Reden und jede Art des Kompromisses verabscheute, stattdessen energisches Handeln forderte.

Die vorgestellten Demokraten und Demokratinnen, jeder und jede prominente Figuren der siebzehn revolutionären Monate des Jahres 1848, haben die Weichen für die Frauenbewegung, das Medienwesen und sogar für die Europa-Idee im 20. Jahrhundert gestellt. Sie sind Beispiele für ein Engagement, das bis in die heutige soziale, politische und parlamentarische Gegenwart reicht, ihre Texte lassen sie aber auch als eigenständige Vertreterinnen und Vertreter ihrer Zeit hervortreten. Den Leser:innen von heute werden Gegengeschichten zu den heute um sich greifenden Bestrebungen von autokratischen Eliten erzählt und biografische Einblicke in Opferdiskurse im Kampf für demokratische Freiheiten gegeben. Darin liegt der Wert der hier begonnenen Edition Paulskirche, der ein breiter Erfolg zu wünschen ist und zu dem auch diese Sammelpublikation sicherlich beitragen wird.

Allerdings muss angefügt werden, dass die aus der Edition zu ziehenden Lehren, die alle auf das Jahr 1848 zurückgehen, auch heutzutage keine Selbstverständlichkeit sind und die großen Ideale der Demokratie sich im Alltag bewähren müssen. Es bleibt zu wünschen, dass der durch diese Schriftenreihe angestoßene Diskurs eine große Breitenwirkung entfalten kann. Hierzu werden auch die folgenden geplanten Bände beitragen, mit weiteren Texten früher Demokratinnen und Demokraten sowie mit einer Sammlung wichtiger Reden aus der ersten deutschen Nationalversammlung, dem Paulskirchen-Parlament. Im Herbst 2023 werden Bände über Amalia Struve, Louise Aston, Josef Ficker und Arnold Ruge erscheinen, für das Frühjahr 2024 sind die Editionen über Mathilde Anneke, Louise Otto-Peters, Georg Herwegh angekündigt; die Reihe soll im Herbst 2024 mit drei Bänden abgeschlossen werden, einer davon wird dem in den USA sehr erfolgreichen Exilanten Carl Schurz gewidmet sein.

Titelbild

Theodor Fontane / Friedrich Hecker / Emma Herwegh / Robert Blum: 1848. Frühe demokratische Programme und Texte zur Revolution von Theodor Fontane, Emma Herwegh, Friedrich Hecker, Robert Blum.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2023.
904 Seiten , 70,00 EUR.
ISBN-13: 9783806245714

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