Ihre Figuren, in einem Augenblick zu fester Form erstarrt, atmen eine ungeheure Bewegung aus

Silke Kettelhake führt uns in „Renée Sintenis. Berlin, Bohème und Ringelnatz“ durch die Biographie der außergewöhnlichen Berliner Bildhauerin

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ihrer beinahe lebensgroßen mythologischen Figur „Daphne“ (1930, Bronze) tritt man in dem Augenblick gegenüber, in dem sie sich vor ihrem Verfolger Apoll in einen Baum zu verwandeln beginnt. Diese Daphne wird zum Symbol. Die hochgeworfenen Arme, die schon Äste werden wollen, unterstreichen die Fragilität der Gestalt in dem aufstrebenden Linienschwung einer züngelnden Flamme. Bei höchster Bewegtheit ist hier dennoch ein Moment äußerster Ruhe erreicht. Diese Übergangsphase zwischen Bewegung und Ruhe ist charakteristisch auch für Sintenisʼ Sportler- und Tierfiguren. So etwa bei „Nurmi“ (1926, Bronze), dem finnischen Laufwunder an Ausdauer und Schnelligkeit: der Höhepunkt der einen Bewegung ist schon abgeschlossen, aber der Ansatzpunkt der anderen Bewegung wurde noch nicht begonnen. Genau dieser Ruhepunkt zwischen zwei Geschehnissen wird hier durch künstlerische Gestaltung anschaulich und erlebbar. Darin liegt im Grunde die Lösung dieses scheinbaren Widerspruchs, dass Sintenisʼ Plastiken dramatisch bewegt in den Raum greifen und zugleich vollendet ruhig und geschlossen wirken.

Am bekanntesten ist die emanzipierte Berliner Bildhauerin aber mit ihren kleinfigurigen Tierplastiken geworden. Einfühlungsvermögen und genaue Naturbeobachtung befähigten sie, in realistischer Auffassung und lockerer, impressionistisch modellierender Weise nicht nur Menschen, sondern auch Tiere in momentaner Bewegung darzustellen. Sie hat einen ganzen Zoo heimischer und fremder Geschöpfe entstehen lassen: das schlafende Reh, das springende Pferd, der spielende Hund, die liegenden Gazellen, der stehende Steinbock, der kniende Elefant – sie machte Skizzen, aber nie einen Entwurf. Sie sah die Tiere vor ihren Augen wie ein Erinnerungsbild, bog das Drahtgestell zurecht, knetete und formte mit den Fingern und mit dem Modelliereisen. Dabei galt ihre besondere Zuneigung den Tierkindern, hoppelnden, ungelenken Fohlen oder zerbrechlich zarten, scheuen Rehen, die sie mit sicherem Blick für das Lebensvolle, oft auch für das Drollige und Täppische, als Kleinbronzen geschaffen hatte. Nur die lebensgroßen Tiere, so auch den Berlinale-Bär, der seit mehr als 60 Jahren auf den Internationalen Filmfestspielen verliehen wird, hatte sie gleich den Sportlerfiguren und Bildnisbüsten in Ton geformt. Alle kleinen Tierbronzen aber in einem schwarzen Wachs, der zur Sparsamkeit wie zur Genauigkeit zwang und jede einmal gegebene Form in schonungsloser Klarheit bewahrte.

Die Journalistin und Roman-Biographin Silke Kettelhake hat die Lebensgeschichte der Renée Sintenis mit fingierten Handlungsteilen bereichert, die die Entwicklungsprozesse der Künstlerin, ihre Begegnungen mit anderen Personen einprägsam gestalten. Aus „gutbürgerlichem Hause“ kommend – der Vater war Anwalt – studierte Sintenis zunächst an der Berliner Kunstgewerbeschule, zog wegen Differenzen mit dem Vater aus dem Elternhaus aus, erhielt als Meisterschülerin des Bildhauers und Medailleurs Wilhelm Haverkamp ein eigenes Akademieatelier und konnte sich hier verstärkt der geliebten Tierwelt zuwenden. Es war Rainer Maria Rilke, der sich stark für sie einsetzte. 1917 heiratete sie den 13 Jahre älteren Typografen, Medailleur, Grafiker und Maler Emil Rudolf Weiß, der auch Dichter war; beide ergänzten sich in ihrer gemeinsamen Arbeit. Das Jahrzehnt nach 1920 wurde das erfolgreichste im Schaffen der Sintenis. Mit dem Wechsel zur Galerie Flechtheim begannen männliche Sportlerfiguren die weiblichen Akte abzulösen.

Silke Kettelhake beschreibt Renée Sintenis als auffallende Erscheinung der Berliner Bohème, die ein Netz von Künstlerfreundschaften knüpfte. Sie war 34 und auf dem Zenit ihres Ruhmes, als sie den 39-jährigen Dichter und Maler Joachim Ringelnatz, den „Anarchisten aller Künste“, kennenlernte, der sich als Kabarettist durchs Leben schlug und auf die Unterstützung von Gönnern angewiesen war. Mit ihm verband sie eine jahrelange Freundschaft, bis er zum „Shooting Star“ im Kunstbetrieb der Moderne aufstieg. Ende der 1920er Jahre verloren beide sich wieder aus den Augen, die Beziehung zu der dänischen Schauspielerin Asta Nielsen, dem Star des deutschen Stummfilms, löste bei Ringelnatz die zu Sintenis ab. 1934 starb Ringelnatz, Sintenis gestaltete seinen Grabstein.  

1933 wurde Renée Sintenis zum Austritt aus der Akademie der Künste gezwungen. In der Nazi-Zeit war sie als Halbjüdin Diskriminierungen ausgesetzt, gewann aber Karl Buchholz als neuen Galeristen, der ihr über die schlimme Zeit hinweghalf. Im Nachkriegs-Berlin galt sie zwar als Künstlerin der ersten Stunde, aber ihr „fehlte der helle Name, die Aufbruchsstimmung“, schreibt Silke Kettelhake. Der Kulturpessimismus der Bildhauerin hat sich aber in keiner Weise auf ihre erneut einsetzende Popularität und damit verbundene Auszeichnungen ausgewirkt. 1965 starb sie zurückgezogen im Alter von 77 Jahren.

Dem künstlerischen Werk Sintenisʼ widmet die Biographin nur sporadisch Aufmerksamkeit. Zwar werden einzelne Arbeiten herausgegriffen, aber über die Werkentwicklung der Bildhauerin wird nicht umfassend informiert. Ähnlich wird Ringelnatz nur insoweit betrachtet, wie er in den 1920er Jahren mit Sintenis bekannt war. Das Vorher und Nachher seiner Entwicklung bleiben ausgespart, denn schon mit den beiden Bänden von 1920, den Turngedichten und Kuttel Daddeldu oder das schlüpfrige Leid, war Ringelnatz der künstlerische Durchbruch gelungen.

Renée Sintenis hat über Jahrzehnte ihr „Selbstbildnis“ gestaltet, von 1916 bis 1944, das durch die bewegte Oberfläche und die tiefschattigen Augenhöhlen im Antlitz eine faszinierende Anziehungskraft ausstrahlt. Es sind Abwandlungen einer stetigen Form. Einmal ist es ein Kopf mit einem nach außen gehenden, wenngleich abwesend und nahezu träumerisch vor sich hinstarrenden Blick. Andere Selbstporträts wiederum sind Masken. Das von 1944 spiegelt erschütternd die Leidenszeit der letzten Kriegsjahre wider. Aber auch ihre Bildnisbüsten, so des Dichterfreundes Joachim Ringelnatz (1923, Bronze), des französischen Schriftstellers André Gide (1928) oder des Maler-Ehegatten Emil Rudolf Weiß (1929), geben einen Wechsel in der Auffassung, einen Wandel im Ausdruck wieder, in der Art, wie der Schädel gerundet, die Oberfläche behandelt ist.

Nicht zu vergessen sind die zweidimensionalen Arbeiten Sintenisʼ. Ihre Zeichnungen, ihre Radierungen sind keine Vorstudien mit körperhaften Licht- und Schattenflecken, die auf das plastische Volumen hindeuten. Keine Oberflächenbehandlung, kein zeichnerisches Herausmodellieren der Körperlichen, sondern eine bewusste Beschränkung auf die reine Kontur, ein Verzicht auf alles, was nicht flächig und nicht linear im strengen Sinne ist.

Ob in ihren Plastiken, ihren Zeichnungen, ihren Grafiken – die Figuren sind in einem Augenblick ihres Lebens zu fester Form erstarrt, aber sie atmen eine ungeheure Bewegtheit aus. Die Roman-Biographie von Silke Kettelhake ist ein großer Gewinn. Die Verfasserin erzählt zwanglos, ohne kopflastig zu wirken. Man liest ihr Buch mit Spannung, sie bringt viel Zeitsymptomatisches ein, ja, im Doppelblick auf Leben und Zeit entwickelt sich überhaupt die Struktur ihres Buches.  

Titelbild

Silke Kettelhake: Renée Sintenis. Berlin, Bohème und Ringelnatz.
ebersbach & simon, Berlin 2023.
144 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783869152769

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