Über den Verlust von Sprache und Heimat und den Gewinn einer neuen Identität

Paul Bokowski erzählt über die „Schlesenburg“ am Rande der Wohlstandgesellschaft

Von Monika WoltingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Wolting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach der Welle der Migrationsthemen der Autor*innen türkischer Abstammung, die seit den 90er Jahren ununterbrochen anhält, kristallisiert sich immer stärker eine neue thematische Richtung heraus, die von Autor*innen angestoßen wird, deren Eltern in den 80er Jahren aus Osteuropa in die Bundesrepublik eingewandert sind. Ein wichtiger Vertreter dieser Generation ist Paul Bokowski. Bisher ist er als Autor, Vorleser und Geschichtenerzähler der Deutschen Lesebühnenszene bekannt gewesen. Er gehört zu den Gründungsmitgliedern der Berliner Lesebühne „Fuchs & Söhne“ sowie der Göttinger Lesebühne „Dioptrien Deluxe“. Nach drei Humorbüchern: Hauptsache nichts mit Menschen (2012), Alleine ist man weniger zusammen (2015) und Bitte nehmen Sie meine Hand da weg (2019) erschien 2022 sein erster Roman Schlesenburg.

Schlesenburg heißt eine Sozialsiedlung, die für Flüchtende und Migrant*innen aus Polen in den 80er Jahren am Rande der Stadt gebaut wurde. Der Umzug in die Sozialsiedlung stellt bereits den ersten sozialen Aufstieg dar, den ersten Moment des Ankommens in Deutschland, denn die Bewohner*innen wohnten bis dahin in einem Auffanglager mit Mehrbettzimmern. Die Geschichte wird aus der Perspektive eines ca. vierzigjährigen Ich-Erzählers geschildert, der sich an seine Kindheit erinnert. Er ruft die Vergangenheit wach, um zu verstehen, warum er kein Polnisch kann, warum er keine Kontakte zu seiner in Polen gebliebenen Familie unterhält, warum er deutscher als die Deutschen werden musste, warum die Mutter so oft unvermittelt geweint und gelacht hat oder warum er häufig von undefinierten Gefühlen heimgesucht wird. Es ist eine gedankliche Reise in die Kindheit, aber auch zu sich selbst, um den migrantischen Moment der Lebensläufe der Eltern zu verstehen und ihn als Teil der eigenen Lebensgeschichte zu begreifen.

Bokowskis eigentlicher Protagonist ist jedoch die Siedlung Schlesenburg. Er baut in seinem Roman einen Raum der Migration auf und setzt ihn in den Kontext früherer und späterer Migrationen. Auf diesem Gelände spielten sich die ersten Monate und Jahre des Lebens der Vertriebenen aus dem deutschen Osten der Nachkriegszeiten ab. Die Vertriebenen und Geflüchteten aus Mähren, Böhmen, Schlesien, Pommern, Ostpreußen fanden dort ihr Zuhause, nachdem die Unterbringung in privaten Haushalten gescheitert war. Unweit dieser Heime wurde Mitte der 80er Jahre die Sozialsiedlung für die polnischen Migrant*innen gebaut. Mitte der 90er Jahre kamen weitere Migranten hinzu, diesmal aus Russland: die Russlanddeutschen, die die sich langsam leerenden Wohnblocks besiedelten.

In Schlesenburg wohnten zwar nur Polen, aber sie sprachen hauptsächlich Deutsch. Der Protagonist geht dem Problem auf den Grund und findet mehrere Ursachen für die ihnen „vermittelte” sprachliche Wurzellosigkeit. Erstens kamen die Eltern aus Schlesien und meinten, sie würden selbst kein Hochpolnisch sprechen, so wollten sie ihrem Kind keinen Dialekt des Polnischen beibringen. Zweitens wurde ihnen in den Integrationsabendkursen vermittelt, sie sollten auf eine bilinguale Erziehung verzichten, da dies zu Entwicklungsstörungen des Kindes führen würde. Drittens entstand bei den Kindern eine Abneigung gegenüber der polnischen Sprache, denn diese diente in der Siedlung fast ausschließlich dem Ausdruck negativer Emotionen. Auf Polnisch wurde gestritten, geweint, über Vergangenes und Geheimes gesprochen oder mit den Familienangehörigen in der verlassenen Heimat kommuniziert. Die Sprache nahm keinen Bezug auf das gegenwärtige Geschehen und auf das Leben der in Deutschland geborenen oder aufwachsenden Kinder. In diesem Kontext ist hervorzuheben, dass die polnischen Sätze, Wörter, Kapitelüberschriften ausnahmefrei im korrekten Polnisch abgefasst sind. Eine solche Perfektion ist selten in deutschsprachigen Büchern, in denen Polnisch zur Sprache kommt.

Bokowski beschreibt in seinem Roman eine Migrationsform, wie sie gegenwärtig kaum mehr möglich ist. Es ist die Flucht von einem politisch-wirtschaftlichen System in ein anderes. Die Folge einer solchen Bewegung bestand in einem vollständigen Schnitt, den die Flüchtenden vollziehen mussten. Zu dieser Zeit war die Welt nicht global vernetzt, sodass sie mit ihren Familien zumindest virtuellen in Kontakt hätten bleiben können. In diesem Fall musste die Trennung von heute auf morgen vollzogen werden. Es bedeutete für die Menschen eine Trennung von ihren Familien, Freund*innen, Berufen, von ihren Heimatorten, von ihrer Sprache und Kultur. Dieser Abschied vom bisherigen Leben, von dem bisher Bekannten, schafft eine einmalige Situation im Leben der Menschen und prägt ihr späteres Dasein. Sie stehen in der Notwendigkeit, ihre Lebensläufe neu zu kreieren und ihre Lebenswege neu aufzustellen. Bokowski überführt mit seinem Roman das individuelle und kollektive Gedächtnis dieser Generation in das kulturelle Gedächtnis der Bundesrepublik Deutschland. Mit einer Übersetzung des Bandes ins Polnische würde der Roman auch in Polen das kulturelle Gedächtnis ergänzen.

Auch wenn es sich bei dem Roman um ernste Literatur handelt, so ist er nicht frei von Humor. Bokowski ist ein Meister komischer Dialoge und satirischer Situationsdarstellungen. Diese Fähigkeit resultiert aus einer sehr genauen Beobachtungsgabe menschlichen Verhaltens. Der Autor baut tragikomische Figuren auf, deren Handlungen, vor allem die, die sie verbergen möchten, vom Protagonisten zur Schau gestellt werden. Als unbeobachteter, weil kindlicher Beobachter kommt er den Figuren auf die Schliche, sieht sehr oft das, was nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist und beschreibt es mit allen Peinlichkeiten.

Der Roman zeigt ein bedeutendes Kapitel der bundesrepublikanischen Geschichte: die Anfänge der Integration einer großen Bevölkerungsgruppe, die in Deutschland schnell ankommen und ihre Kinder „deutsch“ erziehen wollte. Dem Roman sind daher viele Leser*innen zu wünschen.

Titelbild

Paul Bokowski: Schlesenburg. Roman.
btb Verlag, München 2022.
316 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783442759408

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