Obdachlos, doch sprachmächtig in Lissabon

Ein „Seebeben“ erahnt der alte Boa Morte in Djaimilia Pereira de Almeidas bewegendem Roman

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Hauptperson des neuen Romans von Djaimilia Pereira de Almeida heißt Boa Morte da Silva. Wer Portugiesisch spricht oder sich in anderen romanischen Sprachen auskennt, der weiß, Boa Morte“ bedeutet „Guter Tod“. Der aber wird dem alten Mann wohl nicht vergönnt sein, zu schwer drücken ihn Schuld und Reue. Der Titel Seebeben lässt an einen maritimen Roman denken, doch Schauplatz der Handlung, wenn auch nicht der lastenden Erinnerungen von Boa Morte, ist die portugiesische Hauptstadt Lissabon.

Dort verdient sich Boa Morte als Autoeinweiser auf Parkplätzen ein bisschen Geld, das knapp zum Überleben reicht. Er stammt aus Angola und ist als junger Schwarzer nach Bissau gegangen, um den Portugiesen als Söldner gegen die eigenen Landsleute zu dienen. Dabei gab er sich der Illusion hin, das Land, für das er tötete und das eigene Leben riskierte, werde zur Heimat für ihn werden und ihn als Portugiesen akzeptieren. Als seine Frau ihn vor diesem Trugschluss gewarnt hat, wurde er gewalttätig und hätte sie um ein Haar umgebracht.

Boa Morte weiß nicht, was aus seiner Frau und aus seiner Tochter Aurora geworden ist. Aurora lebt wahrscheinlich in Bissau und wird erst nach ausführlichen Ortsbeschreibungen und Erinnerungen als Adressatin dessen benannt, was der Erzähler niederschreibt. Zwischen den nichtnummerierten Kapiteln und manchmal mittendrin wechselt die Perspektive zwischen auktorialem und Ich-Erzähler. Jemand findet, an Boa Morte sei ein Dichter verlorengegangen. Da fragt man sich, wie ein ehemaliger Verwaltungsangestellter und Söldner so sprachmächtige Formulierungen findet wie „Dein Vater geht schwanger mit dem Tod.“

Boa Morte ist einsam. Seine wichtigsten Gefährten sind die schizophrene junge Frau Fatinha, keine Liebschaft, sondern seine „Tochter der Straße“, und der Hund Jardel. Fatinha haust zerlumpt an einer Haltestelle, die sie für ihren Palast hält, auf jemanden oder etwas wartend. Sie hortet gefundene Geldbörsen, das Leben aufsammelnd, das andere fortwarfen.

Boa Morte ist krank, körperlich wie seelisch. Ein Nabelbruch manifestiert sich als hässliche Beule und Albträume vom Krieg lassen ihn empfinden, er „habe einen Platz im Fegefeuer erwischt“. Selbstvorwürfe macht er sich nicht nur wegen seiner blutig geschlagenen Frau und wegen des Tötens im Krieg, sondern auch, weil er nie da war, wenn ihn jemand am meisten gebraucht hätte.

Glücksmomente sind rar. Manchmal darf er ohne Fahrkarte in einem Zug bleiben, wo sein Unglück schlummert, während er schläft. Und seinen verschwundenen Jardel wiederzufinden, macht ihn „glücklicher als ein Lottogewinn“.

Seine Niederschriften sind lebenswichtig für den einsamen alten Mann. Für Aurora notiert er: „Du lebst in dem Maße, wie ich dir schreibe, so wie ich lebe, weil ich dir schreibe.“ Und sogar: „Ich dringe in dem Maße in dein Herz ein, wie du meine Erzählung liest.“ Doch auch dieser Rettungsanker geht ihm verloren. Seine traurige späte Einsicht „Schreiben ist für mich keine Lösung“ fußt auf der Erkenntnis, dass ungelebtes Leben nicht durch Schreiben ersetzt werden kann.

Seine Niederschriften und ein Armband, beide für Aurora bestimmt, schenkt er Fatinha. Die Blätter aber werden vom Wind fortgeweht. Begraben werden will Boa Morte neben seinem Hund, der nun auch namentlich seine Familie ist: Jardel da Silva.

Und das Seebeben? Das sieht Boa Morte mitten im Roman voraus. „Lissabon erwartet das Seebeben, in dem ich bereits ertrunken bin.“ Eines Tages wird das Wasser alles mit sich fortreißen und die Brunnen und Denkmäler ertränken.

Am Ende verschwindet Boa Morte in der Menschenmenge in der Metro-Station. Im Gedächtnis der Leserschaft aber wird er verweilen. Meisterlich schildert Djaimilia Pereira de Almeida, in Angola geboren und in Portugal aufgewachsen und zur herausragenden Schriftstellerin geworden, das verpfuschte Leben dieses Mannes. Ihre dichterische Sprache ist kraftvoll, jedoch nie überanstrengt, und wird von der Übersetzerin Barbara Mesquita vortrefflich ins Deutsche übertragen. Die Autorin stellt die Innenschau mit bedrückenden Erinnerungen und psychischem Elend so überzeugend dar wie das Leben und Treiben auf den Straßen und Plätzen Lissabons aus der Sicht derer, die am Rande der Gesellschaft leben. Schonungslos genau, jedoch ohne sich zur Anklägerin oder Richterin aufzuschwingen, bringt sie uns in bewegenden Szenen einen Menschen nahe, der Schuld auf sich geladen hat und dennoch unseres Mitgefühls sicher sein darf.

Titelbild

Djaimilia Pereira de Almeida: Seebeben. Roman.
Aus dem Portugiesischen von Barbara Mesquita.
Unionsverlag, Zürich 2023.
160 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783293005952

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