Vom Mittelalter ins Jahr 2020

Eine Festschrift für Ingrid Bennewitz zeigt „Mediävistische Perspektiven im 21. Jahrhundert“ auf

Von Jan Alexander van NahlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Alexander van Nahl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mediävistik im 21. Jahrhundert war vor recht genau 20 Jahren der Titel eines Sammelbandes zu Status und Zukunft der internationalen Mittelalterforschung, in dem unter anderem diskutiert wurde, ob diese Mediävistik wohl eine Kulturwissenschaft sein oder werden könne. Heute gilt die Frage kaum noch dem ‚ob‘, eher dem ‚wie‘, und dabei scheinen programmatische Gesamtentwürfe in den Hintergrund gerückt zu sein zugunsten von Fallstudien und Einzelbetrachtungen, die quasi als Bausteine zu unterschiedlichen Mosaiken zusammengefügt werden können. So steht nun hinter dem aktuellen Titel Mediävistische Perspektiven im 21. Jahrhundert auch kein Manifest, sondern eine Festschrift – ein vielleicht besonders geeigneter Rahmen, um sich gewisse Freiheiten bei der konkreten Ausarbeitung zu nehmen, denen dann durchaus einige Inspiration innewohnen kann.

Die Gefeierte, Ingrid Bennewitz, hat ihren Fußabdruck auf einigen Feldern der Mittelalterforschung hinterlassen, sodass der Buchtitel auch nicht einfach eine Hülse ist, sondern doch üppig gefüllt wird: 32 Beiträge präsentieren ihr zu Ehren eine solche Fülle an Beobachtungen, Kritiken, Interpretationen und Spekulationen, dass man weder alle am Stück lesen, noch zu allen gleichermaßen kompetent etwas sagen könnte. Aber man kann eigentlich überall einsteigen und entdeckt Interessantes vor allem, aber nicht ausschließlich, aus dem Fachbereich der Altgermanistik.

Rezeptionsprozesse vom Mittelalter bis in 21. Jahrhundert sind dabei ein wesentlicher Themenschwerpunkt, über diverse Aufsätze verteilt, mit je eigenem Standpunkt und Fokus. Das Vorwort nimmt von einem Strukturierungsversuch weitgehend Abstand, es verweist lose auf Forschungsbereiche, die Bennewitz geprägt hat/haben, überlässt die Einordnung aber dem Leser. Da geht es mit Blick auf die mittelalterliche schriftliterarische Überlieferung zum Beispiel um Fragen von ‚Original‘ und ‚Kopie‘, um althochdeutsche Literatur als Experimentierstadium, in dem noch fast alles möglich, aber nicht alles mittelfristig bedeutend war, oder um die Entwicklung der Editionsphilologie unter geistesgeschichtlichem Vorzeichen.

Es geht aber auch um moderne Inszenierungen des Mittelalters bei Festspielen, auf der Bühne oder im Hörspiel oder um das Bild des Mittelalterforschers in Serien, Filmen und Romanen. Mediävisten müssen das Mittelalter heute schließlich nicht nur erklären, sondern auch verkaufen, so ein Zwischenfazit, dem viele sicherlich zustimmen würden. Und vielleicht ist das Verkaufen derzeit ohnehin wichtiger – ein Meinungsaustausch, der seit Jahren hin- und hergeführt wird. Welch oft schweren Stand Fachleute in dieser aktuellen Rezeption haben, ist jedenfalls kaum zu übersehen, wenn die Mittelalterfaszination längst jedes Medium erreicht hat und für manchen Produzenten fast zur eierlegenden Wollmilchsau geworden ist, aber gleichzeitig diejenigen, die dieses Ding ‚Mittelalter‘ überhaupt erst solcher populären Produktion zugänglich machen, im berüchtigten Prekariat ihr Dasein fristen müssen.

Wie vielfältig die Punkte sind, an denen Mediävisten eingreifen (könnten), zeigen die versammelten Beiträge dann recht eindrucksvoll auf, hier geht es sowohl um den fachlichen Austausch, der die wesentliche Grundlage wissenschaftlicher Einsichten bildet, als auch um die ambivalente Kommunikation mit der Öffentlichkeit irgendwo zwischen Begeisterung und Stellenstreichung. Dass es in letzterer Hinsicht auch heute nicht nur um Dienstleistung im Unterhaltungssektor gehen kann, sondern das Mittelalter weiterhin und vielleicht sogar wieder zunehmend für allerlei, gelinde gesagt, ideologischen Unfug missbraucht wird, ist allen Fachvertretern klar. Oft scheint das allerdings bereits zum Topos herabgesunken zu sein: ein notwendiges Übel gleichsam, dessen man zerknirscht gedenkt, ohne konkret daran zu arbeiten.

Ein eindrückliches Beispiel für Arbeit am wichtigen Detail stellt Winfried Freys Aufsatz zum ‚teuflischen Gestank‘ vor, der für den Rezensenten interessanteste Beitrag, der daher separat erwähnt werden soll. Frey schlägt einen Bogen vom ausgehenden Mittelalter (mit Verweisen bis in die Spätantike) ins Frühjahr 2020, um aufzuzeigen, wie der angebliche Gestank von Teufel, Hexen und Juden bis in jüngste Zeit regelmäßig aufgerufen wird. Wie der Verfasser festhält, würde man ja gerne mit Adolf Hitlers Wahnvorstellungen zum teuflischen Juden im 20. Jahrhundert aufhören, sonst werde es „des Schlechten vielleicht doch noch zu viel“ – aber dann zeigt er, für den Rezensenten recht überraschend, eben doch an zwei kurzen Beispielen auf, wie jüngst an einer deutschen Schule und einem deutschen Flughafen rassistische Übergriffe mit explizitem Verweis auf ‚Judengestank‘ begleitet wurden, und dazu ließen sich vermutlich noch deutlich mehr Beispiele finden. Es handelt sich jedenfalls um eine bemerkenswerte Fallstudie zu einer bemerkenswerten Kontinuität, die die Frage nach der Daseinsberechtigung der Mediävistik eigentlich im Keim ersticken sollte.

Insofern ist es auch konsequent, im Buch Beiträge zu finden, die anhand konkreter Beispiele der Frage nachgehen, wie das Mittelalter heute im Unterricht vermittelt werden kann, sei es an der Universität, sei es an der Schule. Wiederum aktuelle Fragen also, deren praktische Beantwortung momentan irgendwo zwischen selbstbewusst-selbstverständlichem Medienwechsel und bemühten Notlösungen zu liegen scheint. Dass das Mittelalter im Unterricht bei aller populären Faszination kein Selbstläufer ist, dürften viele Lehrende längst selbst erfahren haben. Dass das Bedienen von Social-Media-Bedürfnissen aber auch nur als Fähnchen im Wind kämpft, ist allerdings mittlerweile ebenso klar geworden. Schöngeredet wird im Buch nichts, es liegt weder der elitäre Hang zur Selbstüberschätzung noch der sonst verbreitete Hauch des Pessimismus über allem, sondern es werden, quer durch die Beiträge hindurch, tatsächlich Perspektiven aufgezeigt, sodass der Buchtitel am Ende eben doch eine Art Programm markieren kann.

Einziger Wermutstropfen ist das kleine Schriftbild: Vielleicht um drucktechnisch unter 500 Seiten zu bleiben, wurde sämtlicher Text (geschätzt) um mindestens einen Punkt kleiner als üblich abgedruckt mit sehr engem Zeilen- und oft auch Zeichenabstand. Wer da in der Fußnote kursiv gesetzte Quellenzitate nachvollziehen will, der muss schon ganz genau hinschauen. Der Lektüre dieser grundsoliden bis inspirierenden Aufsatzsammlung sollte das indes keinen Abbruch tun.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Andrea Schindler (Hg.): Mediävistische Perspektiven im 21. Jahrhundert. Festschrift für Ingrid Bennewitz zum 65. Geburtstag.
Reichert Verlag, Wiesbaden 2021.
480 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-13: 9783752005981

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