Epistemische Dinge

Steffen Martus und Carlos Spoerhase legen mit „Geistesarbeit“ eine umfassende „Praxeologie der Geisteswissenschaften“ vor

Von Gabriele WixRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gabriele Wix

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Menschen handeln. Sie handeln miteinander. Auf dieser Annahme beruht der methodisch-theoretische Ansatz der Praxeologie, die Gesellschaft und Kultur als Ergebnis menschlichen Tuns begreift, eines körperlichen Agierens in einer materiellen Umgebung. Obwohl maßgebliche Theorien spätestens seit den 1970er Jahren bereitstanden, hat es im deutschsprachigen Raum bislang keine systematische praxeologische Aufarbeitung der Geisteswissenschaftsgeschichte in Verbindung mit umfänglich angelegten Fallstudien gegeben. Der Zeitpunkt für eine breite öffentliche Aufmerksamkeit ist günstig. Es scheint so, dass die Geisteswissenschaften im immer schneller rotierenden Methodenkarussel an einem Punkt angelangt sind, an dem eine Rückbesinnung auf das eigene Handeln unausweichlich geworden ist. Und doch wird dieser Schritt des Innehaltens gerne unter der Bezeichnung practice oder practical turn in die vielen turns eingereiht, als habe sich die Perspektive nicht geändert.

Steffen Martus und Carlos Spoerhase setzen nicht auf diese attraktiven fluiden Wenden. Sie überschreiben ihr Grundlagenwerk über Eine Praxeologie der Geisteswissenschaften mit dem schönen, fast in Vergessenheit geratenen Begriff der Geistesarbeit, nehmen ihm aber auf sympathische Art und Weise von Anfang an das Schwergewicht. So stellen sie ihr Projekt unter das Motto „Intelligence practice is not a step-child of theory.” (Gilbert Ryle), betiteln das erste Kapitel der Einleitung im Rekurs auf die Netflix-Serie The Chair mit „Dramedy des Geistes“, sprechen im weiteren Verlauf gerne von der community of practice, von Bruno Latours Trias matters of fact, matters of concern und state of affairs, von Paper Works und Paper Technologies. Offensichtlich haben die Autoren Vergnügen daran, zwischen den Sprachregistern zu wechseln, wenn sie etwa nach Sinn und Zweck des „‚ominösen‘ Lehrstuhls“ fragen, bestimmte Praktiken als „Drumherum“ in den Blick nehmen oder Stefan Hirschauers Terminus „Rummachen“ zitieren. Auch scheren sie sich nicht um das Ich-Verbot wissenschaftlichen Schreibens; in der ersten Person Plural sprechen sie von ihrer kollaborativen Schreibpraxis. Bemerkenswert dabei: Es ist eine Zusammenarbeit, die sich nicht durch kleinliches Markieren der Urheberschaft einzelner Kapitel mit der Sigle des jeweiligen Verfassers auseinanderdividieren lässt. Die individuellen Schwerpunkte bleiben dennoch durch eine Auflistung der Vorarbeiten beider Autoren nachvollziehbar.

Was hier schon vorab anklingt und mit Nachdruck als großer Gewinn herauszustellen ist: Das Buch liest sich – höchst ungewöhnlich für ein wissenschaftliches Grundlagenwerk – leicht, unterhaltsam, es verführt zum Schmökern und entlockt mehr als einmal ein Lachen ob der Skurrilität literaturwissenschaftlicher Praktiken. Vor allem aber resultiert das Vergnügen an der Lektüre aus der Haltung der Autoren. Martus und Spoerhase wollen „weg von generellen Polemiken über den Niedergang der Geisteswissenschaften und allgemeinen Programmatiken zu ihrer Rettung und hin zu einer intensiven Beschäftigung mit den alltäglichen Aktivitäten des geisteswissenschaftlichen Arbeitens.“ Denn in dieser ‚werktäglichen‘ Arbeitspraxis ereigneten sich die eigentlich interessanten Krisen, die der weit verbreitete Krisendiskurs aber ignoriere.

Geistesarbeit: Ihre Beobachtung setzt die Überlieferung und Sicherung ihrer materiellen Spuren voraus. Das Archiv ist der Ausgangspunkt. Martus und Spoerhase konzentrieren sich auf die Nachlässe zweier Geisteswissenschaftler und stellen Friedrich Sengle (1909–1994), einen „institutionell besonders einflussreichen“ Germanisten, Peter Szondi (1929–1971) gegenüber, „zweifellos einer der berühmtesten Komparatisten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“. Damit schreiben die Autoren im Schwerpunkt eine Praxeologie der Wissenschaftsgeschichte der 1960er und 1970er Jahre. Gleichzeitig haben sie den Gegenwartsbezug im Blick, worauf später einzugehen ist. In ihrer Archivrecherche berücksichtigen sie die für den Nachvollzug der Textgenese relevanten Quellen von Vorlesungen und Publikationen ebenso wie Dokumente, die das Alltägliche der Geistesarbeit widerspiegeln, von der Verteilerliste für Sonderdrucke und Übersichten über Raumausstattungswünsche bis hin zur Entwicklung von Vorlesungs- und Seminarformaten.

Mit der Wahl der beiden Protagonisten wurden gegensätzliche wissenschaftliche Positionen und Arbeitsweisen gewählt: Sengle gilt als Kollektivarbeiter, der mit großen „Textmassen hantierte“ und auf die Zuarbeit seiner Assistenten und – auch ehemaligen – Doktoranden angewiesen war, diese andererseits aber auch intensiv förderte und so die sogenannte Sengle-Schule hervorbrachte, Szondi dagegen als Einzelforscher, dessen Bezugsrahmen auf einen kleinen Kreis konzentriert blieb. Auf arbeitsteilige Forschungspraktiken war er nicht angewiesen, sein Interesse galt der Singularität eines literarischen Werks. Sengle verkörpert den Typus des ‚deutschen‘ Literaturprofessors und universitären Beamten, Szondi den des kosmopolitischen Intellektuellen. Sengles Verständnis von guter Wissenschaftsprosa war auf eine mühelose Lesbarkeit orientiert und deshalb stilistisch nicht ambitioniert, Szondis Stil war gewandt, elegant, fast essayistisch. Sengle trat liberal-patriarchalisch auf, Szondi dagegen blieb unnahbar.

Den Kontrast zwischen beiden Wissenschaftlern und ihrer Arbeitspraxis machen die Autoren in der Einleitung mit einem Arrangement von deren Hauptwerken sinnfällig, der ersten Abbildung überhaupt im Buch. Das Foto von Chris Korner, Deutsches Literaturarchiv Marbach, ist in kleinem Maßstab abgedruckt, es misst gerade mal 7,3 auf 8,7 cm, wirkt aber umso eindringlicher: Drei dicken, in Leinen gebundenen Bänden – Sengles Studie Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1915–1848, Stuttgart: Metzler, 1971–1980 – steht die Neuausgabe von Szondis Theorie des modernen Dramas, edition suhrkamp27, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1963, als schmales Taschenbuch in der ikonischen Reihengestaltung von Willy Fleckhaus gegenüber. 170 Seiten später findet sich im 13. Kapitel, „Theoretisieren und Publizieren“, eine weitere Abbildung dieses Bücher-Stilllebens. Auf dem Foto, ebenfalls von Chris Korner, Deutsches Literaturarchiv Marbach, ist nun die Erstausgabe von Szondis Theorie des modernen Dramas zu sehen, die bereits sieben Jahre zuvor, 1956, bei Suhrkamp erschienen war. Die damalige Umschlaggestaltung wird nur wenigen Leserinnen und Lesern bekannt sein. Ohne den Rückhalt des vertrauten etablierten Formats, mit dem die Publikation untrennbar verbunden ist, irritiert der Blick auf das kleinformatige Buch. Es ist zudem auf diesem Bild in größerem Abstand zu Sengles Studie platziert und wirkt nun beinahe verloren neben dem Block der drei kompakten Leinenbände. Hier stellt sich die Frage, warum im Einleitungskapitel nicht dieses Foto von der Erstausgabe – der Chronologie der Veröffentlichungen folgend – gezeigt wird, denn gerade der Kontrast zwischen der behäbig-gesetzten Leinenausgabe und der noch nicht in den Suhrkamp-Theorie-Kontext eingebetteten Dissertations-Publikation macht den unterschiedlichen akademischen Habitus der beiden Geisteswissenschaftler evident. Den Original-Pergamin-Schutzumschlag erkennt man nicht, er wird auch nicht erwähnt.

Dem Foto von der Erstausgabe folgt eine ausführliche Beschreibung der revidierten Neuausgabe, die auf dem ersten Foto zu sehen ist. Auf der s/w Einzelabbildung der Publikation von 1963 nicht zu erkennen, aber im Text erläutert: Deren Gestaltung fiel in die „époque jaune“; „ein hübsches Gelb“, habe Szondi bemerkt. Doch war zunächst nur der Umschlag in dem leuchtend-zitronigen Gelb gehalten, das Buch blieb in dezentem Grau, fast Weiß.

Szondis Schreibarbeit vollziehen die Autoren an ausgewählten Beispielen nach. Die einzelnen Korrekturvorgänge und den Gang der Textgenese fassen sie unter dem Begriff der „Passung“ im Sinne einer „Harmonisierung“. Das fordert spontan Widerspruch heraus: Ein Wissenschaftler wie Szondi arbeitet am Text, um etwas passend zu machen? Der Anschaulichkeit wegen bietet sich eine Querverbindung zur bildenden Kunst an, zu dem mit Sprache operierenden Werk des amerikanischen Konzeptkünstlers Lawrence Weiner (1942–2021), dessen künstlerische Praxis auf der genauen Beobachtung der Dinge und des menschlichen Umgangs mit ihnen beruht, den Blick auf das eigene künstlerische Handeln eingeschlossen. Mit ALTERED TO SUIT bezeichnet Weiner retrospektiv eine seiner frühen bildhauerischen Arbeiten, und er scheint damit auf den ersten Blick die Logik der Autoren hinsichtlich Szondis Schreibarbeit zu bestätigen. Bei dem „passend“ gemachten Objekt handelt es sich um ein Quadrat, das Weiner 1969 aus dem Putz einer Wand des Berner Kunsthauses gehauen hat. Weiners Spracharbeit ALTERED TO SUIT bringt die Spannung zwischen Museumsarchitektur und Exponat auf den Punkt, strebt keine Harmonisierung an. Der Eingriff in die Museumsarchitektur „passt“ nicht, der Eingriff „sitzt“. Auch Szondi sucht gerade in den radikalen Kürzungen, die sich aus den abgebildeten Manuskripten nachvollziehen lassen, die Dinge auf den Punkt zu bringen. Die Aussagen verdichten sich, werden prägnant. Von einem Harmonisierungsprozess scheint das weit entfernt zu sein.

Sengles Nachlass gilt den Autoren als aufschlussreich im Hinblick auf die sich darin abzeichnenden Arbeitspraktiken, die weder als Individual- noch als Großprojektforschung zu charakterisieren und immer noch relevant im Hinblick auf die gegenwärtige Situation der Geisteswissenschaften seien:

Auf der Ebene kleinerer, hierarchisch organisierter Arbeitszusammenhänge, die mal enger und mal loser gekoppelt sind, formeller oder informeller kollaborieren und in einem subdisziplinären Raum über eine längere Zeitstrecke eine gemeinsame Forschungspraxis lokal etablieren, wird auch in den Geisteswissenschaften immer wieder mit großem Erfolg operiert. Diese kleineren Arbeitszusammenhänge können zwar nicht ohne Weiteres kritisch gegen einen „angepaßten Wissenschaftsbetrieb“ in Stellung gebracht werden […], aber sie vermögen doch in einer von großformatigen Exzellenzinitiativen und internationalen Hochschulrankings geprägten Gegenwart unsere aktuellen Beobachtungsroutinen und Beschreibungsgewohnheiten produktiv zu irritieren.

Auf 658 Seiten können sich Leserinnen und Leser in 35 Kapiteln über Praktiken der Geistesarbeit informieren. Wie auch die Erzählung von der Einsamkeit des Künstlers im Atelier fälschlich suggeriert, findet sie nicht nur zurückgezogen, still und unscheinbar am Schreibtisch des Gelehrten statt. Vielmehr zeigen die Dokumente, wie sie sich im turbulenten Wissenschaftsbetrieb vernetzen und in einem „akademischen Kapitalismus“ (hier berufen sich die Autoren auf Richard Münch) behaupten muss, der gegenwärtig von Strategiepapieren, Evaluationen, Drittmittelquoten, Qualitätssicherung und Monitoring, Wissenschaftsbranding und Wissenschaftsmarketing, Projektorientierung und Verbundforschung geprägt ist, der aber auch Einrichtungen wie die Institutes for Advanced Study als „Reservate“ und „Sehnsuchtsorte wahrer Gelehrsamkeit“ bereitstellt.

Zahlreiche Querverweise in den einzelnen Kapiteln verführen zum Verlassen der linearen Lektüre und nehmen den Druck, das umfangreiche Buch ‚abarbeiten‘ zu müssen. Leider fehlt ein Personen- und Sachregister, das den leichteren Nachvollzug der Referenzen ermöglicht hätte.

Fazit: Das Buch ist ebenso Pflicht- wie Lustlektüre für Geisteswissenschaftlerinnen und Geisteswissenschaftler und für alle an praxeologischen Fragen Interessierten. Darüber hinaus weckt es Wünsche: Vielleicht widmet sich jemand – und das nicht erst in 60 Jahren – der Geistesarbeit, die dem Buch von Steffen Martus und Carlos Spoerhase zugrunde liegt, und geht der bemerkenswerten kollaborativen Schreibpraxis beispielsweise in einer Recherche der E-Mail-Korrespondenz der beiden Autoren nach.

Titelbild

Steffen Martus / Carlos Spoerhase: Geistesarbeit. Eine Praxeologie der Geisteswissenschaften.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022.
658 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783518299791

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