Gedrängte Lage

Antonia Baum schreibt in „Siegfried“ über eine junge Frau am Abgrund

Von Franziska UphuesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franziska Uphues

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mir war heiß, ich hatte das Gefühl, schlecht Luft zu bekommen, und vielleicht kam mir da das erste Mal der Gedanke, in die Psychiatrie zu fahren.

Sich ausruhen, das ist es, was die namenlose Ich-Erzählerin in Antonia Baums neuem Roman Siegfried möchte. Die Psychiatrie scheint ihr ein guter Ort zu sein, um eine Auszeit von ihren Sorgen und Problemen zu nehmen. Denn davon hat sie mehr als genug: die Anstrengungen der Kindererziehung und des Haushalts, der Druck, ihren Roman zu schreiben, die Spannungen in ihrer Ehe – sie geht fremd. Während die junge Frau im Wartezimmer der Psychiatrie sitzt, lässt sie zentrale Erinnerungen an ihre Kindheit Revue passieren. Im Fokus dabei: Siegfried.

Siegfried, ihr Ziehvater, ist nicht nur titelgebend für den Roman, sondern auch prägend für das Leben der Erzählerin. Nicht zufällig benennt Baum ihn nach dem scheinbar unbezwingbaren Helden in der Nibelungensage – auch für die drei Frauen in seinem Leben setzt Siegfried in Baums Roman die Maßstäbe. Als Inbild eines Patriarchen gibt der Geschäftsmann in seiner Familie den Ton an. Seine Frau, die Mutter der Erzählerin, begleitet ihn auf seinen zahlreichen Geschäftsreisen, um etwaige Affären zu verhindern. Seine Mutter Hilde, bei der die Erzählerin während der Abwesenheit ihrer Eltern lebt, versucht alles, um es ihrem erfolgreichen Sohn recht zu machen. Seine Ziehtochter entscheidet sich sogar für ihn, nachdem er ihrer Mutter gegenüber gewalttätig geworden und es zur Scheidung gekommen ist.

Die Rückblicke in ihre Kindheit erzählt die Protagonistin nicht chronologisch, sondern nacheinander gerät eine für sie wegweisende Person ins Zentrum – neben Siegfried auch Hilde und ihre Mutter. Ein Gedankengang unterbricht dabei den nächsten. Diese assoziative Struktur unterstreicht die Authentizität der Erinnerungen und erweckt das Gefühl, direkt in den Kopf der Ich-Erzählerin zu blicken.

Schräg geparkt stand [vor unserem Haus] ein Krankenwagen mit rotierendem Blaulicht und geöffneten Hecktüren. Ich dachte sofort an meine Mutter, nur an sie. […] Ich drehte den Kopf, ein Polizeiauto fuhr an uns vorbei. Er wollte doch eigentlich auf Geschäftsreise, sagte ich zu laut und auch für mich überraschend, und ich glaube, wenige Momente danach fror ich ein. Zumindest erinnere ich mich nicht an irgendwelche Gefühle, abgesehen von Erleichterung darüber, dass die Katastrophe jetzt offenbar eingetreten war.

Erinnerungen wie diese zeigen, wie die Familie mit Problemen umgeht: Nichts wird offen ausgesprochen, nicht einmal in Gedanken. Die Ich-Erzählerin zieht, sowohl im Kindes- wie im Erwachsenenalter, scharfsinnig Schlüsse und obwohl sie diese nur andeutet, können die Lesenden ihnen durch ihr Vorwissen folgen. Die Gewissheit dieser Anspielungen wird dabei erst gegen Ende des Romans erlangt und geht mit der persönlichen Weiterentwicklung der Protagonistin einher. Die dabei gewählte Nüchternheit im Schreibstil der Autorin, die fehlende Zurschaustellung von Emotionen, verdeutlicht, dass Gefühle in der Familie nicht an die Oberfläche gebracht werden. Die Protagonistin passt sich stattdessen an.

Ähnlich wie Christian Baron, spricht Baum mit ihrem Roman auch die Themen Herkunft und Habitus an – etwa, wenn die Erzählerin die Beziehung zu ihrem Mann Alex beschreibt. Während sie dank Siegfried immer in Wohlstand leben konnte, ist er im Plattenbau in Ost-Berlin aufgewachsen. Alex hat nie studiert, jobbt in einer Bar und nimmt Gelegenheitsjobs an, die Beziehung zu seinen Eltern ist schlecht. Die Autorin schafft es, das Spannungsverhältnis von gegenseitiger Liebe und gleichzeitiger Verschiedenartigkeit zwischen den beiden zu erfassen. Im selben Zug zieht Baum mit Alex‘ Unbeherrschbarkeit eine Parallele zu Siegfried. Mit dem Verhalten der beiden Männer, Ehemann und Ziehvater, geht die Protagonistin ähnlich um, sie entschärft Konfliktsituationen und benimmt sich so unauffällig wie möglich. Auch hier kann durch die transgenerationelle Weitergabe von Verhaltensformen die Parallele zu Baron gezogen werden: Alex zeigt einen ähnlichen Umgang wie sein Vater damals mit ihm als Kind, die Ich-Erzählerin bleibt passiv wie ihre Mutter.

Baum führt in ihrem Roman vor, was passiert, wenn ein Mensch aufhört, sich dauerhaft anzupassen und stattdessen eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln beginnt. Etwas, das die Mutter der Ich-Erzählerin nicht beibringen konnte und was durch ihre Großmutter Hilde noch weiter unterdrückt wurde. Hilde, deren Mann Anhänger der Nationalsozialisten war, ist durch den Krieg geprägt. Zum Ende jeder Woche kocht sie ein Resteessen mit dem Namen „Gedrängte Lage“, um jeglicher Verschwendung vorzubeugen.

In einer gedrängten Lage befindet sich auch die Protagonistin und sie beginnt, sich selbst an erste Stelle zu setzen, was die Autorin besonders durch die Szenerie in der Psychiatrie eindrücklich darstellt. Obwohl die Protagonistin das Wartezimmer am Abend wieder verlässt, ohne überhaupt mit dem Arzt gesprochen zu haben, hat sie angefangen, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen.

Der im Februar 2023 beim Claassen Verlag erschienene Roman hat etwas Aufrüttelndes an sich, er steigert sich von kleinen zu großen Herausforderungen im Leben der Ich-Erzählerin, die vielleicht auch die Erfahrungen der 80er-Jahre Generation der Autorin darstellen. Baum gelingt es, schonungslos und gleichzeitig subtil über die traumatisierenden Kindheitserinnerungen der Protagonistin zu schreiben und dabei aufzuzeigen, wie schwierig es ist, sich von bekannten Mustern zu lösen. Ein Roman ohne eine universelle Lösung, ohne ein Happy End, aber zum Nachdenken anregend.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Antonia Baum: Siegfried. Roman.
Claassen Verlag, Berlin 2023.
256 Seiten, 24 EUR.
ISBN-13: 9783546100274

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