Die Hand am Geländer

In Donald Antrims Buch „An einem Freitag im April“ geht es um Suizid und Überleben

Von Stefan FüllemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Füllemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Laut Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO begehen jährlich weltweit mehr als 700.000 Menschen Suizid. Donald Antrim stand im April 2006 kurz davor, sich das Leben zu nehmen. Er befand sich auf dem Dach seines Wohnhauses in Brooklyn, bereit hinunterzuspringen. Was trieb ihn auf das Dach? Und noch viel wichtiger: Was hat dazu geführt, die Hände doch nicht vom Geländer der Feuertreppe hoch über den Straßen von New York zu nehmen? Diese beiden Fragen und die Suche nach den Antworten bilden den Rahmen der Handlung dieses lesenswerten Buches.

Ausgehend vom Tag X – jenem Freitag im April 2006, an dem er sich das Leben nehmen wollte – bis zum Ende des Jahres 2017 erzählt Antrim präzise und schonungslos über den Verlauf seiner Krankheit. Er sieht Suizid als einen sich entwickelnden Krankheitsprozess an und nicht als den einen plötzlichen finalen Akt. Eine langwierige Krankheit, „die ihren Ursprung in Trauma und Isolation hat, in Berührungsentzug, in Gewalt und Vernachlässigung, im Verlust von Heim und Zugehörigkeit.“

Nimmt man diese Aussage und legt sie wie eine Schablone auf das Leben Antrims, so wird deutlich, dass Antrim all diese Dinge erleiden musste. Da ist die zerrüttete Kindheit, die Mutter ist Alkoholikerin und die Eltern streiten viel. Die Familie zieht sehr häufig um. Das macht es dem jungen Donald und seiner Schwester Terry schwer bis unmöglich Freundschaften zu schließen. Dann kommt die Scheidung der Eltern und die Erziehung durch die Großeltern. Einsetzende Krankheiten, immer wieder Trennungen von seiner damaligen Partnerin, beginnende Behandlungen bis hin zu Elektroschocktherapien sind der Weg in den Sog der Suizidgedanken. Spätestens hier wird – auch dank der Rückblenden – dem Leser klar, dass Suizid selten ein plötzlicher und unüberlegter Akt ist. Ebenso wird deutlich, dass medizinische Unterstützung extrem wichtig ist. Der Klinikaufenthalt nicht als Wegsperren oder Strafe, sondern vielmehr als Asyl.

Antrim wirft einen klaren und unverstellten Blick auf das Thema. Er nennt medizinische Diagnosen, Behandlungsmöglichkeiten und Medikamente. Er grenzt den Suizid von der Depression ab. All das behindert den Lesefluss nicht. Im Gegenteil: Der Leser merkt, hier erzählt ein unmittelbar Betroffener. Jemand, der in den Strudel der Suizidgedanken geriet, sich mittels externer Hilfe herauskämpfen konnte, Rückschläge verkraftete und es schlussendlich schaffte, sich von den Gedanken zu lösen.

Am Ende des Buches richtet sich der Ich-Erzähler direkt an den Leser und fordert einen Paradigmenwechsel in der Gesellschaft. Menschen, die Suizidgedanken haben, sind keine Irren oder Wütenden. Es sind Menschen wie wir alle. Es können unsere Nachbarn oder unsere Arbeitskollegen sein. Sie benötigen unsere Hilfe. Wenn wir uns klarmachen und klarwerden, dass der Suizidant sich nicht umbringen möchte, sondern versucht zu überleben, macht das den Weg frei, ihm Nähe, Aufmerksamkeit und Hoffnung zu schenken. Und damit auch Stabilität und Gewissheit, dass das Leben lebenswert ist. Damit die Hand am Geländer bleibt.

Titelbild

Donald Antrim: An einem Freitag im April. Eine Geschichte von Suizid und Überleben.
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2022.
192 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783498001711

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch