Essays im Spannungsfeld zwischen Partnerwahl und weiblicher Identität

Die amerikanische Autorin CJ Hauser endet nicht wie „Die Kranichfrau“ in Selbstzerstörung

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Jahre 2019 veröffentlichte die renommierte amerikanische Literaturzeitschrift „The Paris Review“ einen Essay der US-amerikanischen Autorin CJ Hauser unter dem Titel The Crane Wife. Dies war auch als Werbemaßnahme für Hausers am gleichen Tag erschienenen zweiten Roman Family of Origin gedacht.

Der Titel, dt. Die Kranichfrau, stammt aus einem japanischen Volksmärchen, dessen bekannteste Version an das deutsche Märchen Vom Fischer und seiner Frau erinnert. In der von CJ Hauser gefundenen Fassung jedoch reißt sich die in einen Menschen verliebte Kranichfrau alle Federn aus, damit der Mann sie heiratet und nicht als Vogel erkennt. Das Bild vom schmerzhaften weiblichen Identitätsverlust um einer Beziehung willen prägt sich tief ein.

Die Autorin hatte bis dahin zahlreiche Beiträge für angesehene Zeitschriften geschrieben und, wie erwähnt, ihren zweiten Roman herausgebracht. Berühmt war sie noch nicht – „of slender renown“ hieß es elegant im britischen „Guardian“. Ihr Essay aber fand weltweit mehr als eine Million Leser, er „ging viral“. Die digitale Generation verwendet diese vom Virus, einem Krankheitserreger und Computerschädling, abgeleitete Neubildung bekanntlich als jargonhaften Ausdruck und als „Cyberangriff“ auf die bildhafte Redewendung, etwas habe sich rasend schnell oder „wie ein Lauffeuer“ ausgebreitet. Die Autorin selbst nennt die Absage einer Hochzeit „das ultimative Debakel“ und weiß genau, dass solche Dramatik das Publikum begeistert. Angesichts des sensationellen Interesses der Öffentlichkeit am Essay erhielt CJ Hauser einen Verlagsvertrag für einen Essay-Band, ebenfalls unter dem Titel The Crane Wife. Die meisten Beiträge in dem 2002 erschienen Buch sind Erstveröffentlichungen. Der Untertitel A Memoir in Essays war für den deutschen Büchermarkt wohl zu sperrig. Der Ersatz durch Warum ich meine Hochzeit absagte und andere Liebeserklärungen ist in Inhalt und Tonfall ein Volltreffer.

Obwohl Die Kranichfrau nicht am Anfang des gleichnamigen Buches steht, soll dessen Keimzelle und Kernstück hier den Vorrang erhalten. Hauser hat ihre Verlobung gelöst, 10 Tage später bei der Recherche für einen Roman eine Farm mit Schreikranichen besucht und dort im Souvenirladen das japanische Märchen Die Kranichfrau gefunden. Ihr Verlobter Nick war ein rechter Stiesel, der ihr trotz ihres Bittens niemals sagte, dass er sie liebte. Soll er sie in ihrem roten Lieblingskleid hübsch finden, meint er, das habe er ihr doch schon im letzten Sommer bestätigt. Auf eine unbeschriebene Geburtstagskarte für seine Verlobte klebt er ein Post-it, nach dessen Entfernung die Karte wieder verwendungsfähig ist. CJ Hauser hasst sich dafür, dass sie mehr von ihm will, und trennt sich auch nicht von ihm, als er sie betrogen hat. „Ich verbog mich gedanklich, wie von mir verlangt.“ Sie beschließt, immer weniger zu brauchen und findet sich damit ab, dass er bei seinem Heiratsantrag nichts über seine Liebe zu ihr sagt. Und warum will er mit ihr zusammen sein? Weil sie nicht nervt, bedürfnislos und unkompliziert ist, Bier trinkt und wohl eine gute Mutter abgeben würde. „Liebe Leserinnen und Leser, beinahe hätte ich diesen Mann geheiratet.“ Dass sie es nicht tat, wird einfach festgestellt, von einer schwierigen Entscheidungssituation ist nicht die Rede. Doch indem CJ Hauser sich von Nick trennt, befreit sie sich auch von dem bedrückenden Gedanken, dass nur ihre Bedürfnislage sie liebenswert macht.

Die Gliederung des Buchs mutet merkwürdig an. In vier Abschnitten (I bis IV) finden sich 17 unnumerierte Untertitel, von denen der erste nicht weniger als 27, wiederum römisch nummerierte, Kurztexte vereint. Aus Platzgründen wird aus den vier Hauptabschnitten nur je ein Beispiel vorgestellt.

Aus I: Blut

Der Titel rührt daher, dass ein Junge mehrere Liter seines Bluts verkauft, um der Mutter der Autorin einen Lilienstrauß zu schenken. Unter den 27 hier versammelten und von CJ Hauser oder ihren Angehörigen erlebten Liebesgeschichten hat III. Grundbuchamt, 1921 das höchste Tempo. Da kommt der Urgroßvater der Autorin binnen sieben Zeilen zu einer Ehefrau und zu Landbesitz. Mehr Zeit vergeht in XXIV. Saufgelage, 2009: Ein Mann lädt die Erählerin im Winter nach Long Island ein und hat einen Flachmann mit Whisky dabei. „Unser Saufgelage dauerte vier gute Jahre.“

Aus II: Die Dame mit der Lampe

Die Romanautorin beobachtet am Stadtrand von Miami, wie Roboter als Ersthelfer getestet werden. Sie hat sich einen Presseausweis besorgt und erwähnt nebenher, dass sie ihren Partner Nick „eines Tages nicht heiraten“ wird. Der von ihr bevorzugte Typus Mann gilt als beziehungsunfähig: einsamer Wolf mit großer Klappe. Solche Männer lösen bei ihr kein Verlangen aus, sondern den Wunsch, sie zu retten. So verwechselt sie jahrelang Liebe mit Fürsorge und ist mehr Krankenschwester als Liebhaberin. Schließlich erkennt sie, dass man niemanden lieben kann, den man als seinen Patienten begreift.

Aus III: Die zweite Mrs. de Winter

Der 1938 erschienene, von Alfred Hitchcock verfilmte Roman Rebecca der englischen Autorin Daphne du Maurier liefert Parallelen zum Leben von CJ Hauser. Im Roman tritt die titelgebende zweite Mrs. de Winter (im Essay als dzMdW abgekürzt) nie aus dem Schatten ihrer rätselhaften verstorbenen Vorgängerin Rebecca heraus. Im Essay bekennt die Autorin, sich als Partnerin eines geschiedenen Mannes ähnlich zu fühlen; sie nennt ihn Maxim (so heißt Mr. de Winter im Roman) und seine Ex Rebecca. Immer hat sie das Gefühl, sich hinter der Ex einreihen zu müssen. Anders als im Roman geschieht kein Mord „als Metapher für das Auslöschen der Vergangenheit“. Als der großgewachsene Maxim seiner Partnerin auf den engen Sitzplätzen eines Amphitheaters nicht genügend Platz lässt, formuliert CJ Hauser ihren grundsätzlichen Vorwurf: „Wenn er gewollt hätte, hätte er die ganze Zeit ein bisschen mehr Platz für mich machen können.“

Aus IV: Entkopplung

In diesem Essay offenbart sich CJ Hauser als Frau und als Autorin besonders deutlich. Zunächst geht es um ihre Brüste, die sie Titten nennt – das Wort ist für sie „voller Tatkraft“. Da kennt sie keine Kompromisse: „[…]wenn es euch unangenehm ist, dass ich Titten sage, kommen wir aus diesem Essay nicht lebend raus.“ Entkoppelt wird im doppelten Sinn. Die Autorin hat ihre Partner stets als potentielle Väter angesehen. Geht es aber um Liebe und Sex ohne Kopplung an die Elternschaft, steht sie “auf ganz unterschiedliche Typen“, darunter nichtmonogame Männer, und hat öfter Dates mit Frauen. Entkoppelt werden auch die Erzählstränge. Wer wisse schon, was zusammengehört, fragt die Autorin. Erst wenn man die Fäden in harter Arbeit entwirrt habe, bekomme alles den gebührenden Raum. „Und ich werde sie nicht wieder zusammenführen, nur um eine erzähltechnisch ordentliche Arbeit abzugeben.“

Der Sogwirkung unverblümter Offenheit kann man sich auch in anderen Essays nicht entziehen. Einige Partner allerdings wirken so konturlos, dass man sich fragt, wie es die Autorin mit ihnen ausgehalten hat. Doch sie bekennt ja selbst, viele falsche Entscheidungen getroffen zu haben. Die englischsprachige Literaturkritik reagierte differenziert auf das Buch. Die Urteile reichten von „voll gelungen“ bis zu der Meinung, das verlegerische Experiment, einen sensationellen Text zur Grundlage eines Bestsellers zu machen, sei gescheitert.

Ist es nicht. Alle Texte sind sehr persönliche, sprachlich hochstehende und oft selbstironische Bekenntnisse einer Autorin, die einen steinigen Weg zur Emanzipation gegangen ist. Nach eigenem Bekunden wollte CJ Hauser nicht Beziehungen bewerten, sondern ihre Sicht auf sich selbst in unterschiedlichen Lebensphasen rekonstruieren. Weil sie dies mit schonungsloser Offenheit tut, lesen wir die Essays einer Romantikerin mit gebrochenem Herzen als anrührende Betrachtungen im Spannungsfeld von Liebe und Emanzipation. Besonders deutlich wird dieser Aspekt in einer Erörterung des Films The Philadelphia Story (dt. Die Nacht vor der Hochzeit) aus dem Jahre 1940. Dort stehen der von Katharine Hepburn dargestellten weiblichen Hauptfigur Tracy Lord einzig und allein die Identitäten zur Verfügung, auf die sich ihre möglichen Ehemänner einlassen würden.

Auch zur gesellschaftlichen Situation in den USA äußert sich die Autorin eindeutig. Vom „Amerikanischen Traum“ des möglichen Aufstiegs für jedermann hat sie sich verabschiedet: „Der späte Kapitalismus ist sicherlich nicht die beste Zeit, um an dieser Art von Magie zu glauben.“ Deshalb verkauft die akademische Lehrerin CJ Hauser ihren Studierenden nicht die rhetorische Behauptung, alles wäre für jeden erreichbar.

Unbedingt zu würdigen ist der Anteil der Übersetzerin Hanna Hesse am Lesegenuss, den das Buch in deutscher Sprache bietet. Von der farbenreichen Diktion der Autorin CJ Hauser geht kein Deut verloren. An einem winzigen Beispiel sei gezeigt, wie Hanna Hesse den Sinn bewahrt, ohne am Wort zu kleben:
„To keep becoming a woman is so much self-erasing work.“
„Immer wieder eine Frau zu werden, verlangt unglaublich viel Selbstzerstörung.“

Titelbild

CJ Hauser: Die Kranichfrau. Warum ich meine Hochzeit absagte und andere Liebeserklärungen.
Aus dem Englischen von Hanna Hesse.
Verlag C.H.Beck, München 2023.
336 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783406798313

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