Das Redigieren der Moderne
„Europas Literatur“ entstand mit dem Siegeszug des rationalen Denkens – und bleibt seitdem auch dessen größte Kritikerin. Der Germanist Silvio Vietta untersucht die Doppelstruktur von den Griechen bis zum Expressionismus
Von Martin Ernst
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSilvio Vietta, Autor von Büchern zum Expressionismus, zur Moderne oder auch zur Rationalität, greift in Europas Literatur bereits begonnene Fäden auf und führt sie unter einer neuen These zusammen. Rationalität, so lautet sie, ist seit der Antike eine genuin europäische Geisteshaltung und die Literatur eines ihrer Vehikel. Doch nicht nur: Vietta geht es um die duale Struktur des europäischen Aufklärungsprozesses, der sowohl rationaler Fortschritt, aber immer auch schon kritische Auseinandersetzung mit sich selbst und die Suche nach Alternativen sein will.
So weit, so Adorno
Die Frage nach dem, was europäisch ist, führt zur „Erfindung der Rationalität“ bei den Griechen und der antiken Tragödie ist dann auch der erste große Block gewidmet. Vietta zeichnet nach wie in Aischylos‘ Orestie das rationale Denken den Helden am Ende von der mythischen Schuld befreit. Anders schon ist es in der Antigone: Im Antagonismus von Kreon und der Titelheldin sieht Vietta dann erstmals die staatstragend-männliche Rationalitätskultur und die kritische Gegenstimme des weiblichen Individuums miteinander kollidieren.
Der anschließende Querfeldeinritt durch die europäische Literaturgeschichte bildet das Herzstück des Buchs, wenn es Vietta gelingt, die duale Struktur betreffend eine Kontinuitätslinie von Dantes La Divina Comedia über Baudelaires Les Fleurs du mal bis hin zu Kafkas Prozeß zu ziehen: Die Literatur übernimmt in der Renaissance wieder die Aufgabe der Herrschaftskritik und wird mit dem modernen Roman (Lukács und Adorno winken aus dem Hintergrund) vollends zum Ort der Lebensinterpretation und Artikulation individuellen Leidens in einer entzauberten Welt.
Die treffsicheren Zitate zeigen, wie seit der Romantik die kritisch-regulative Funktion das literarische Selbstverständnis übernimmt: Novalis und seine Mitstreiter kritisieren auf der Suche nach den Nachtseiten der Seele den Verlust des ganzen Menschen. Der Naturalismus übernimmt vom Rationalismus zwar die Wissenschaftlichkeit, prangert aber umso gezielter die Missstände der frühkapitalistischen Gesellschaft an. Und im Expressionismus, beispielsweise in den apokalyptischen Visionen Trakls, oder auch im Kulturpessimismus Benns steht dann bereits der Zivilisationsprozess an sich infrage.
Wie schon in seinen Büchern zur Geschichte der Rationalität oder der Macht geht es Vietta um das epochenübergreifende große Ganze der westlichen Welt, das Freilegen der einen europäischen Denkbewegung – und das gelingt auf anschauliche Art und Weise. Das Redigieren ist, wie es der postmoderne Theoretiker Jean-Francois Lyotard formulierte, in der Moderne seit Langem schon „selbst am Werk“ und die These von der regulativen Funktion des Geschriebenen leuchtet dementsprechend ein:
Durch die Literatur wird die Rationalitätsentwicklung der abendländischen Kultur eben auch von einer kritischen Begleitstimme verfolgt. Mithin weist die europäische Kultur eine dialogische Funktion auf.
Dennoch dürfte die Hauptleistung dieses lesenswerten Buches in dem entworfenen europäischen Panorama und den Verknüpfungen liegen, mit welchem die These belegt wird. Als Leser profitiert man fraglos von der breiten wie tiefen Textkenntnis Viettas und seiner integralen Leistung.
Positiv fällt zudem auf, dass der alte literaturgeschichtliche Gegensatz von Aufklärung und Romantik ausgespart wird, wenn der abendländische Synthesewillen ins Spiel gebracht und die Kritik spezifiziert wird. Vietta schreibt: „Romantik in ihrer entwickeltsten Form ist eine Kritik an beiden: Rationalismus wie Irrationalismus.“
Im Kafka-Teil überrascht ein wenig das Verharren bei jenen Nachkriegsdeutungen, die in Josef K. ausschließlich das Opfer frühtotalitärer Strukturen sehen. Gerade die jüngere Forschung hat den subjektkritischen Teil hervorzuheben gewusst, der einer Zivilisationskritik nicht widersprechen muss, aber die Fliehkräfte der Moderne komplexer verortet.
Zwischendurch definiert Vietta eine europäischen Poetik, die eben auf die Mobilisierung gegenrationaler Kräfte – Sinnlichkeit, Emotionen, Phantasie – setzt, dann aber doch etwas schematisch wirkt und inhaltlich kaum Neues bietet. Viel interessanter wird es zum Ende hin nochmal, wenn der Blick wieder geschichtlich wird und sich den Analysen des Komischen und des Lyrischen zuwendet, sowie ihrer subversiven Momente in der europäischen Literatur.
Welche Schlüsse bleiben für eine Gegenwart, in welcher die Rationalität „mit ihren Erfolgen, aber auch Problemen“ längst auf den Globus abgefärbt hat und die Alternativkultur in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist? Viettas Buch schärft den Sinn für die Grundlagen der europäischen Kultur – und dafür, dass das Projekt Aufklärung genau genommen noch andauert.
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