Auf der Suche nach dem Geheimnis, das jede Familie verschweigt
Galit Atlas deckt in „Emotionales Erbe“ unterirdische Kommunikationskanäle mit den Vorfahren auf
Von Stephan Wolting
Besprochene Bücher / Literaturhinweise(Karl Jaspers, Wesen der Existenz, Gespräch 1960)
Das soeben von Monika Köpfer ins Deutsche übersetzte Buch von Galit Atlas Emotionales Erbe: Eine Therapeutin, ihre Fälle und die Überwindung familiärer Traumata ist ein sehr gut geschriebenes, äußerst lesenswertes und spannend erzähltes Werk! Das hängt mit den gut ausgewählten und beschriebenen Fallbeispielen aus der therapeutischen Praxis der Autorin, mit einer sehr anschaulichen und präzisen Sprache, und nicht zuletzt damit zusammen, dass sich die Autorin nicht scheut, eigene Erfahrungen als Psychoanalytikerin, aber auch als moderne Zeitgenossin, einfließen zu lassen. Im Gegensatz zu vielen psychoanalytischen Werken, die in erster Linie um Neutralität bemüht sind, beschreibt sie auch eigene Empfindungen, Gefühle und Erinnerungen, die Therapiegespräche mit unterschiedlichen Patient*innen in ihr auslösen. Dabei bezieht sie sich u.a. auf Irving Yalom, der beispielsweise vom Neid auf Patient*innen in Bezug auf den „Zauber der Liebe” spricht. Nicht zuletzt, dass solche Aspekte thematisiert werden, macht das Werk außergewöhnlich.
Galit Atlas arbeitet seit etwa zwanzig Jahren als Psychoanalytikerin in New York, was aus der Beschreibung des Falls Lara mit dem Titel „Sprachverwirrung“ hervorgeht, die als Kind ihre erste Patientin ist und nach 19 Jahren erneut ihre Patientin wird. Die Psychoanalytikerin lebte in ihrer Kindheit und Jugend zuvor viele Jahre mit ihren Eltern in Israel. Ihre Eltern, sephardische Juden, waren Anfang der 1950er Jahre nach Israel eingewandert. Ihr Vater stammt ursprünglich aus dem Iran, ihre Mutter aus Syrien, was für den persönlichen und kulturellen Background der Autorin nicht unerheblich ist. In einer der Geschichten wird New York von ihrem Patienten Guy als eine Art Fluchtstadt bezeichnet, als Stadt „voller ehrgeiziger Überlebender, die vor irgendetwas davongelaufen sind“.
Die Jahre in Israel, nicht zuletzt ihr Dienst in der Armee, prägten die Autorin. Als Leser*in ist man zunächst geneigt, (etwas klischeehaft) zu denken, dass jemanden, der in einem Land groß wird, in dem man mit einer ständigen Bedrohung wie dem Jom-Kipur-Krieg (der allerdings schon begann, als sie zwei Jahre alt war) oder 1982 dem Libannonkrieg aufwächst, so schnell nichts mehr schockieren kann. Und in der Tat lassen sich einige ihrer Bemerkungen so lesen, etwa wenn sie schreibt, dass man beim Sirenengeheul am Holocaust-Gedenktag nur auf die erste Person wartete, die laut losprustete. Oder ihre Bemerkungen zum „schwarzen Humor” ihrer Generation, der in Sätzen wie „Du würdest den Holocaust bestimmt nicht überleben“ zum Ausdruck kommt, der auf die Resilienz ihrer Generation abziehlt. Galit Atlas stellt dann die These auf, dass die Beschäftigung mit transgenerationellen Phänomen und/oder Familientraumata vielfach ihren Ursprung in den Beschreibungen von überlebenden Holocaust-Opfern und Zeitzeugen habe. Sie spricht von den „Geistern” oder „Phantomen” der Verfolgung, und dass viele von ihnen unter der Oberfläche „das Trauma und die Schuldgefühle der Überlebenden“ mit sich herumtragen würden.
Atlas erwähnt ihren Dienst als 19-jährige Soldatin in der israelischen Armee, als der Golfkrieg begann und das vormalige Versprechen ihrer Eltern, der Krieg würde mit Beginn ihres Militärdienstes enden, nicht eingehalten wurde. Unweigerlich lässt das an die Leiden der Familien und Einzelpersonen im gegenwärtigen Ukraine-Krieg denken. Eine der Kernaussagen des Buches ist, dass sich Traumata über Generationen hinweg entwickeln würden und so lange weiter als „Familiengeheimnisse wirken”, so lange sie nicht in Form von Gesprächen oder Gesprächsanalysen geheilt werden können. Dem Buch ist ein Satz aus Jeremia 31:29 vorangestellt: „In jenen Tagen sagt man nicht mehr: Die Väter haben saure Trauben gegessen und den Söhnen werden die Zähne stumpf.“ Zudem zitiert sie einen Satz der Psychoanalytiker*innen Maria Torok und Nicolas Abraham: „Nicht die Toten verfolgen uns, sondern die Lücken, die die Geheimnisse anderer in uns hinterlassen haben.“
Davon handelt das ganze Werk in insgesamt elf „Erzählungen“, die in drei Abschnitte unterteilt sind. Erster Teil: Unsere Großeltern/Von den Vorgängergenerationen geerbtes Trauma, Zweiter Teil: Unsere Eltern und Dritter Teil: Wir selbst/Den Teufelskreis durchbrechen.
Die Suche nach dem emotionalen Erbe ist vergleichbar mit einer kriminalistischen Suche (diesbezüglich verweist die Autorin auf Freud, den sie an einigen Stellen erwähnt). Bei Kriminalgeschichten, ähnlich wie bei der Betrachtung von Kunst in Hinblick auf die Einschätzung der Echtheit von Bildern, sind es immer die Kleinigkeiten, die besonderen Aufschluss geben.
Das Thema des „emotionalen Erbes“ steht in den letzten Jahren vielfach zur Diskussion. Auch innerhalb der deutschsprachigen Literatur wird es behandelt, etwa in Die Verwandelten von Ulrike Dresdner, das für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert worden ist. Thematisiert wird dabei häufig, dass insbesondere, wenn auch nicht ausschließlich, Frauen unter den Folgen von Familientraumata zu leiden haben (bei Galit Atlas ist das Verhätnis ausgeglichen; sie erzählt von fünf betroffenen Patienten und sechs Patientinnen). Die Autorin bekennt sich ausdrücklich zur Psychoanalyse Sigmund Freuds und nimmt darüber hinaus transgenerationelle Zusammenhänge wahr, wie sie beispielsweise auch in der Literaturwissenschaft von Marianne Hirsch (The generation of post-memory) oder Helga Druxes („transgenerational memory”) untersucht werden.
Trotz inzwischen sehr fundierter empirischer Studien zum Thema – Atlas nennt u. a. die Studien von Rachel Yehuda, die zusammen mit ihren Mitarbeiter*innen herausstellte, dass „die Nachkommen von Holocaust-Überlebenden niedrigere Cortilsolwerte aufweisen“ sowie die Studien der aus Ungarn stammenden Psychoanalytiker*innen Maria Torok und Nicolas Abraham – erscheint es immer noch schwer vorstellbar, wie diese Familientraumata, diese „Phantome” ans Tageslicht zu bringen sind. „Die vererbten Gefühle der unverarbeiteten Traumata ihrer Eltern waren die Phantome, die in ihnen lebten, die Geister des Ungesagten und Unsagbaren.“ Laut psychoanalytischen Positionen ist es verhältnismäßig leicht, die individuelle Lebenserzählung, durchaus auch im Verhältnis zu Eltern etc., herauszustellen. Durch das Erzählen und die langjährige Beschäftigung mit der individuellen Lebensgeschichte treten zuvor unbewusste Dinge ans Tageslicht.
Dabei stellt sich für mich aber die Frage, Inwieweit sich Atlas‘ Konzeption auf andere Kulturen als den westlichen
übertragen lässt. In dem Zusammenhang wäre auf das kürzlich erschienene Werk Beyond Weird. Psychobiography in Times of Transcultural and Transdiciplinary Perspectives der deutschen, in Südafrika lehrenden Psychologin Claude Hélène Mayer, in Hinblick auf die Kulturbedingtheit von Psychobiographien, zu verweisen. Auch an das Werk des amerikanischen Evolutionsbiologen Joseph Henrichs über die WEIRD-People (westlich – educated – industrialisiert – reich –
demokratisch), was schon im Titel „Die seltsamsten Menschen der Welt”
provokant daherkommt, sei in diesem Kontext erinnert. Von hier aus stellt sich die Frage, inwiefern sich diese Familientraumata kulturell unterschiedlich ausprägen.
Was mich jedoch insgesamt überzeugt hat, ist das von der Autorin genannte Prinzip des „Searching is always Me-Searching”, was die Autorin auf bemerkenswerte Weise an sich selbst vollzieht, wie es selten in wissenschaftlichen Veröffentlichungen geschieht. Damit wird sie auch zentralen Forderungen der von mir stark in eigene Studien einbezogenen Anti-Bias-Konzepte gerecht. Diese betonen, dass immer alles vor der Folie unserer eigenen Existenz zu verstehen ist. Auf das „Verstehen“ von Zusammenhängen im Verhältnis von Eigenem und Fremden (gerade auch „fremdem Eigenen“) kommt es der Autorin besonders an.
Wie schon angedeutet sind die einzelnen Fallbeispiele aus ihrer Praxis äußerst spannend und aufschlussreich erzählt. Sie lassen sich beinah wie literarische, zumeist tragische Erzählungen lesen. Dem entspricht, dass die Autorin auch in ihrer therapeutischen Praxis einen Bezug zur Literatur herstellt, indem sie beispielsweise literarische Texte wie das Märchen Rotkäppchen in der Version von Perrault heranziehtt, der den Wolf als "Gevatter" stärker personalisiert als dies in der Version der Gebrüder Grimm geschieht..
Die beschriebenen Fälle sind zugleich schwer und fessselnd, etwa die unbewältigte Geschichte Rachels, einer Nachfahrin von Holocaust-Überlebenden, deren Mutter sie eigentlich Ruth nennen wollte, worauf der Großvater Rachels einen emotionalen Ausbruch erfuhr. Es stellt sich im Folge von Nachforschungen Rachels heraus, dass der Großvater zuvor eine Frau und eine Tochter namens Ruth hatte, die in Auschwitz ermordet wurden. Eindrücklich ist auch die Geschichte Leonardos, der von seinem Freund verlassen wird. Sein Großvater hatte sich umgebracht, als sein Vater neun Jahre alt war. Leonard kommt der Geschichte seines Großvaters auf die Spur, der ebenfalls Männer liebte, dies in der damaligen Zeit nicht ausleben konnte und sich deshalb umbrachte. Immer sind es diese Formen von Familiengeheimnissen und „unbewusster Kommunikation”, die das Leben der nächsten oder übernächsten Generation beeinflussen, weil in der Familie darüber nicht geredet wurde. Besonders berührend ist auch die Geschichte des Elitesoldaten Ben, der zur gleichen Zeit den Dienst in dieser Truppe ableistete, als die Autorin in der israelischen Armee Sängerin in einer Unterhaltungseinheit war. Ergreifend an diesem Beispiel ist vor allem die Tatsache, wie sich ein idealistischer Impetus gegen eine Person selbst wenden kann, die Verteidigung des Staates Israel und die damit verbundene Tötung eines Menschen, der ebenso ein Vater war wie Ben einer im Begriff zu werden ist.
Was zum Schluss neben den oben angesprochenen Fragen noch offen bleibt, ist, ob sich posttraumatische Belastungsstörungen prinzipiell oder nur graduell vom emotionalen Erbe von Familienerzählungen insgesamt unterscheiden. Um mit Nietzsche zu sprechen: ob sich extrem existenzielle Erfahrungen stärker in den Körper selbst einbrennen und ob also so etwas wie ein posttraumatisches Gedächtnis etwas Ähnliches wie ein transgenerationales Gedächtnis ist. Das Buch von Galit Atlas bietet in vielfacher Hinsicht Gelegenheit zum eigenen Weiterdenken über diese Thematik. So ist das Buch absolut denjenigen zu empfehlen, die sich noch eindringlicher und tiefer mit dieser Thematik beschäftigen und weiter darin einlesen wollen.
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