Deckhengste oder Schürzenjäger?

Zum aktuellen Stand der Literatur zum „Lebensborn“

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit dieser Rezension wird das aktuelle und sechste Buch der Journalistin Dorothee Schmitz-Köster zum Themenkomplex „Lebensborn“ vorgestellt (siehe unten: Erwähnte Publikationen). Um herauszuarbeiten, was dieses Buch Neues bietet, scheint es angebracht zu sein, einen knappen Überblick über die bisher veröffentlichte Literatur zum Thema „Lebensborn“ zu bieten.

Die zwei Erzählungen über den „Lebensborn“

Über wenige Organisationen des NS-Unrechtssystems sind so viele Legenden verbreitet worden, wie über den „Lebensborn“. Vermutlich am nachhaltigsten wurde das Bild durch einen deutschen Kinofilm aus dem Jahr 1961 geprägt: Lebensborn. Liebe auf Staatsbefehl unter der Regie von Werner Klingler, produziert von Artur Brauner. Die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) weist die auch heute noch angebotene DVD mit „ab 18“ aus.

Der Kino-Film basierte auf einem journalistischen „Tatsachenbericht“ des kommerziell erfolgreichsten Schriftstellers der Nachkriegszeit, Will Berthold, in der Zeitschrift Revue. Die Geschichte ist schnell erzählt: Auf Schloss Sternberg im Warthegau wird eine Schar junger Mädchen aus dem „Bund Deutscher Mädel“ (BDM) einquartiert, um aktiv an der Erneuerung des reinrassigen Germanentums mitzuwirken, indem sie rassisch wertvolle Kinder gebären, die die Zukunft des deutschen Volkes garantieren sollen. Auserwählte SS-Offiziere kommen in das Heim und werden als Paarungspartner den Mädchen zugeordnet. Die lüsterne Sage vom „Lebensborn“ als Begattungsanstalt der SS, als einer Sammlung von Zuchtanstalten für die arische Herrenrasse, bei denen großgewachsene Männer in schwarzen SS-Uniformen und Stiefeln blonde, germanische Maiden seriell befruchten, hat sich bis heute hartnäckig gehalten. Im Film selbst wird von einer „Lebensborn-Bewegung“ gefaselt. Die widerlichste Filmfassung dieser lüsternen Gruselgeschichte dürfte vermutlich der tschechische Film Pramen zivota von Milan Cieslar aus dem Jahr 2000 sein, unterlegt von ununterbrochener Wagner-Musik.

Der Geschichte vom „Lebensborn“ als „Staatsbordellen“ und Herzstück der nationalsozialistischen Rassenpolitik steht die Alternativ-Erzählung entgegen, dass es sich um eine primär karitative Organisation gehandelt habe, durch die der Reichsführer der SS, Heinrich Himmler, verheiratete und ledige Mütter und ihre Kinder vor Diffamierungen schützen wollte und ihnen eine hochwertige Betreuung rund um Schwangerschaft und Geburt zuteilwerden ließ. Sogar die alliierten Richter in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen sprachen den Verein „Lebensborn e.V.“ von der Beteiligung an Verbrechen frei und betonten dessen gemeinnützigen Zweck:

It is quite clear from the evidence that the Lebensborn Society, which existed long prior to the war, was a welfare institution, and primarily a maternity home [… and] that of the numerous organizations operating in Germany who were connected with foreign children brought into Germany, Lebensborn was the one organization which did everything in its power to provide for the children and protect the legal interests of the children placed in its care.

Belegt durch zahlreiche Studien ist unstrittig, dass es eines der Betriebsziele des „Lebensborn“ war, ledige Schwangere von einer Abtreibung abzuhalten – und SS-Männer dazu zu ermuntern, Kinder zu zeugen, ohne Rücksicht auf eine eventuell bestehende Ehe. Der „Lebensborn“ war jedoch keine rein karitative Einrichtung, sondern hatte eine feste Aufgabe in der züchterischen Rassenpolitik des NS-Unrechtssystems.

Neben der züchtungsideologischen Seite des „Lebensborn“ für deutsche Frauen, die von einem SS-Angehörigen geschwängert worden waren, gibt es eine wesentlich dunklere Seite: Es geht um den Raub von als „arisch“ definierten Kindern aus den von der Wehrmacht „eroberten“ und besetzten Territorien. Auch der Film Lebensborn. Liebe auf Staatsbefehl beginnt mit Szenen, in denen polnischen Müttern ihre Kinder von deutschen Soldaten entrissen werden und auf einem Lastwagen gesammelt werden.

Der „Lebensborn e.V.“ war organisatorisch eingebunden in das „Rasse- und Siedlungshauptamt der SS“ (RuSHA), mit Hauptsitz in Berlin. Vorsitzender wurde 1936 der Chef des „Sippenamtes“, einer selbständigen Hauptabteilung im RuSHA, der SS-Oberführer Bernd Freiherr von Kanne. Sein Stellvertreter war der SS-Sturmbannführer Matthias Haidn. Zum Geschäftsführer bestellt wurde der SS-Obersturmbannführer Pflaum, der somit der offizielle Leiter des „Lebensborn“ war. Im August 1936 eröffnete der „Lebensborn“ sein erstes Entbindungsheim: „Haus Hochland“ in Steinhöring bei Ebersberg östlich von München. Es galt bis Kriegsende als „Musterheim“ des „Lebensborn“.

Am 1. März 1938 nahm der „Lebensborn e.V.“ seinen Dienstbetrieb in München auf. Die Zentrale residierte anfangs im Haus Poschingerstraße 1 (heute Thomas-Mann-Allee 10) im Stadtteil Bogenhausen. Bei dieser Villa handelte es sich um die ehemalige Wohn- und Arbeitsstätte des deutschen Schriftstellers und Literaturnobelpreisträgers Thomas Mann und seiner Familie, die von diesen im Frühjahr 1914 bezogen und nach dessen erzwungenem Exil und Ausbürgerung im Dezember 1936 „enteignet“ worden war. Zwischen November 1937 und Dezember 1938 hatte der „Lebensborn“ in diesem Haus seine Verwaltungszentrale eingerichtet.

Im November 1938 waren die letzten Bewohner des Wohn- und Verwaltungsgebäudes der Münchner Jüdischen Gemeinde in der Herzog-Max-Straße 3-7 vertrieben worden, so dass der „Lebensborn e.V.“ zu Beginn des Jahres 1939 in das Haus in der Herzog-Max-Straße 5 umziehen konnte, um dort seine Verwaltungszentrale zu etablieren.

Insgesamt 24 Heime des „Lebensborn“ existierten auf dem Gebiet des damaligen Deutschen Reichs mit dem „angeschlossenen“ Österreich und dem „Generalgouvernement Polen“, in Belgien, Frankreich, den Niederlanden und in Norwegen. Man schätzt, dass etwa 8.000 Kinder in den deutschen Heimen des „Lebensborn“ geboren wurden. Wie auch die Literaturliste des neuen Buches von Schmidt-Köster ausweist, liegt inzwischen eine beachtliche Fülle von Literatur zum Thema „Lebensborn“ vor, wobei ihr Verzeichnis nur deutschsprachige Titel versammelt, obwohl es mittlerweile zahlreiche Publikationen in französischer, englischer, US-amerikanischer und norwegischer Sprache gibt. Zudem ist die Fülle an (auto)biographischen Darstellungen beachtlich. Zuletzt kam der Roman von Ulrike Draesner Die Verwandelten dazu, der für den Preis der Leipziger Buchmesse 2023 nominiert worden ist.

Ungeachtet der vorliegenden Fülle kann immer noch als Goldstandard zum „Lebensborn“ die Dissertationsschrift von Georg Lilienthal eingestuft werden. Uneingeholter Standard für die wissenschaftliche Literatur zum „Rasse- und Siedlungshauptamt“ (RuSHA) ist das Buch von Isabel Heinemann.

Bemerkenswert scheint es dem Rezensenten, dass es vor allem zwei Frauen sind, die seit Jahrzehnten die Thematik „Lebensborn“ mit immer neuen Publikationen bereichern: Die Autorin Gisela Heidenreich, die selbst im August 1943 in einem Lebensborn-Heim in Oslo geboren wurde, und die Rundfunkjournalistin Schmitz-Köster.

Heidenreich hat in mehreren Büchern und Berichten in Radio- und Filmsendungen ihre eigene Geschichte und die ihrer Eltern geschildert (siehe u.a. ARD Mediathek). Durch ihren autobiographischen Bezug zum Thema „Lebensborn“ schreibt Heidenreich sehr viel unmittelbarer als Schmitz-Köster, die als Motiv ihrer eigenen Beschäftigung mit dem Themenkomplex wiederholt darauf verweist, dass sie früher in der Nähe des „Lebensborn“-Heims „Friesland“ in Schwanewede bei Bremen gelebt habe. Dadurch habe sie hinreichend Gelegenheit gehabt, mit zahlreichen Betroffenen und Zeitzeugen über die Geschehnisse im „Herrenhaus Hohehorst“ zu sprechen. Das Buch „Deutsche Mutter, bist Du bereit…“. Alltag im Lebensborn von Schmitz-Köster war der Beginn ihrer publizistischen Arbeit zum Thema „Lebensborn“. In öffentlichen Lesungen deutet sie zudem an, dass sich das Thema der „Schande“ unehelicher Geburt durch ihre eigene Familiengeschichte zieht:

Während ihrer jahrzehntelangen Recherchearbeit füllten sich nach eigenen Angaben Schmitz-Kösters insgesamt 47 Aktenordner mit Unterlagen, aus denen das soeben erschienene und auch die bisherigen Bücher sowie zahlreiche Radio- und Fernsehbeiträge entstanden sind. Im Jahr 2021 übergab sie ihre Materialien den „Arolsen Archives“ (International Center on Nazi Persecution) in Bad Arolsen.

Was bietet Schmitz-Kösters Buch Neues?

„Jahrelang haben sie mich nicht interessiert, die Lebensborn-Väter.“ So beginnt das hier anzuzeigende Buch. Knapp resümiert die Autorin die Ergebnisse ihrer früheren Interviews mit „Lebensborn“-Kindern (96 davon wurden in den Heimen geboren, 17 wurden als Kleinkinder in einem der Heime untergebracht) und den 19 Interviews mit „Lebensborn“-Müttern und -Angestellten.

Die Autorin markiert selbst die Leerstelle: „Die Väter blieben eine Randerscheinung – und mit dieser Ignoranz war ich in guter Gesellschaft. In der Literatur über den Lebensborn spielen sie so gut wie keine Rolle.“ Sie formuliert ihre nachgeholte Fragestellung nach den „Lebensborn“-Vätern, diese „beinahe unbekannte Größe“ so:

Jetzt wollte ich es doch genauer wissen, wer sie waren, diese Lebensborn-Väter. Egoisten, für die nur die eigene Lust zählte? Blind Verliebte, die scheinbar vergessen hatten, dass beim Sex ein Kind entstehen kann? Frustrierte Ehemänner auf Abenteuer? Karrieristen, die Vorzeigekinder brauchten, um weiter nach oben zu kommen? Untertanen, die Himmlers Zeugungsproganda in die Tat umgesetzt hatten? Rassisten, die zur Vergrößerung der ‚arischen Rasse‘ beitragen wollten? Oder einfach nur ganz normale Männer?

Diese Batterie von Hypothesen – bei denen nicht einmal für möglich gehalten wird, dass diese Männer, die Frauen, mit denen sie ein Kind zeugten, und die so entstandenen Kinder wirklich liebten – markiert bereits, was die Leserschaft des neuen Buches erwartet. Mit ihrem „Entwurf einer Typologie“ breitet Schmitz-Köster fünf idealtypische Konstrukte aus. Demnach gibt es „Symbolische Väter“, also die Männer aus dem Vorstand des „Lebensborn“, Heinrich Himmler an oberster Stelle, dazu die Heimleiter und die Paten der „Lebensborn“-Kinder aus den Reihen der SS. Für das Buch zentral wichtig sind die „Realen Väter“, die aufgegliedert werden nach „Muster-Vätern“ mit ehelichen Kindern, die im „Lebensborn“ geboren werden, „Seitenspringer: Ehemänner mit außerehelichen Kindern“, der Typus „Frank und frei: ledige Lebensborn-Väter“, weiterhin „Falsche Väter“ (die Kindsmutter nennt einen Mann als Vater, der jedoch nicht der Erzeuger ist) und „Ersatz-Väter“ (Männer, die an die Stelle des Erzeugers treten).

Wer nun erwartet, dass diese Typologie aus einer erneuten Runde von Interviews mit Männern erwachsen ist, wird enttäuscht. Lakonisch wird konstatiert:

Sie [die Männer] selbst zu fragen, dazu war es zu spät. Dazu war es schon zu spät, als ich meine Alltagsstudie startete. Viele Lebensborn-Väter waren damals bereits gestorben, und die Lebenden blieben in Deckung. Aber ich hatte ja die Berichte ihrer Partnerinnen und ihrer Kinder. Und eine Fülle von Dokumenten, in denen es um die Väter geht und in denen sie manchmal sogar selbst zu Wort kommen.

Dass die Suche nach den Vätern der Kinder, die in Heimen des „Lebensborn“ geboren wurden, keineswegs aussichtslos sein muss, zeigt nicht nur das Beispiel Gisela Heidenreichs, die sich mit Erfolg auf die Suche nach ihrem biologischen Vater machte (siehe ARD Mediathek). Dorothee Schmitz-Köster jedenfalls stützt sich für ihr Buch allein auf ihre früheren Interviews mit den „Lebensborn“-Kindern und -Müttern: „Zu einem Interview mit einem Lebensborn-Vater ist es nie gekommen. Originale Väterstimmen existieren also nur in den Dokumenten, in denen sie mit dem Lebensborn ihre Probleme verhandeln oder sich mit der Kindesmutter auseinandersetzen.“

In den Kapiteln, die sich mit den „realen Vätern“ befassen, breitet die Verfasserin ihre Aktenordner und Zettelkästen aus, um ihre Typologie zu illustrieren. Um anzudeuten, wie die Journalistin Schmitz-Köster vorgeht, sei allein das Kapitel „Muster-Väter? Ehemänner mit ehelichen Kindern“ vorgestellt. Es beschäftigt sich mit insgesamt zehn Männern, wobei übergangslos von einem zum anderen gesprungen wird – der Rezensent musste sich im Buch Striche machen, um die Männer voneinander zu trennen. Die „Muster-Väter“ waren jene SS-Männer, die ihre Ehefrauen zur Entbindung in ein Heim des „Lebensborn“ brachten, wobei die von Schmitz-Köster genannten Männer durchgehend keinen anhaltenden Kontakt zu ihren Kindern hielten. Dabei ist es nicht so, dass es immer die Männer waren, die einfach „verschwinden“, sondern es gab auch jene Konstellationen, in denen sich die Frauen scheiden ließen und mit den Kindern selbständig weiterlebten. Durch das ihr zur Verfügung stehende frühere Material berichtet Schmitz-Köster durchgehend aus der Perspektive der Frauen, höchst selten aus der Erinnerungsperspektive der Kinder.

Das Schlussurteil der Verfasserin ist eindeutig, wie bereits der Buchtitel signalisiert: Es waren „Unbrauchbare Väter“, egal ob sie nun Kinder zeugten, weil sie sich Kinder wünschten oder weil „es“ einfach passierte.

Diesen Rezensenten irritierte der streckenweise überaus schnoddrige Ton, mit dem die Autorin die Berichte kommentiert, so wie beispielsweise im Abschnitt über den SS-Hauptsturmführer Eberhard Schiele, der eine fünfzehn Jahre jüngere Stenotypistin namens Ursula heiratet, nachdem er sich von seiner Frau hat scheiden lassen. Dazu fragt die Autorin:

Nach drei Monaten [des Kennenlernens der „hübschen blonden Frau“] reicht Schiele einen Antrag auf ‚Heiratsgenehmigung‘ beim RuSHA ein: Er will Ursula heiraten, und sie ihn. Bis die Erlaubnis kommt, räumt er sein Privatleben auf und lässt sich von seiner ersten Frau scheiden. Damit ist der Weg für die neue Ehe auch in diesem Punkt frei. Warum haben es Schiele und seine Braut so eilig? Ist es eine Amour fou? Spielen ‚Sitte und Anstand‘ eine Rolle? Verweigert sich die katholisch aufgewachsene Braut ohne erklärte Eheabsichten? Oder will der Partisanenbekämpfer Schiele Nägel mit Köpfen machen, bevor es ihn bei einem ‚Einsatz‘ vielleicht erwischt?

Was macht man als Leser mit solchen Sätzen? Was weiß man nun über das Ehepaar Eberhard und Ursula Schiele? Aus einem Protokoll, das Schmitz-Köster zitiert, erfahren wir, dass Ursula – es ist irritierend, dass Schmitz-Köster die Protagonisten sehr oft nur mit Vornamen anspricht – gesagt hat: „Von diesem Zeitpunkt an [Geburt einer Tochter] hat er sich kaum noch um mich und unser Kind gekümmert.“ Er habe nie Unterhalt gezahlt und auch nie Interesse an seiner Tochter gezeigt habe, seine Tochter habe keine Chance gehabt, ihren Vater kennenzulernen: „aber das wollte sie auch gar nicht.“

Dass Schmitz-Köster diese SS-Männer verabscheut, wird aus jeder Zeile ihres Buches deutlich, weswegen sie sehr häufig auch nicht als Väter, sondern nur als „Erzeuger“ bezeichnet werden, was dann zu Bildbeschreibungen wie dieser führt: „Der Junge schmiegt sich an seinen uniformierten Erzeuger, und der neigt den Kopf ein wenig in dessen Richtung, guckt aber in die Kamera.“ Kann es sein, dass der Fotograf gesagt hat: „Bitte hierher sehen“?

Die Autorin kommt zu einem Fazit der von ihr ausgewählten „Muster-Väter“:

Den meisten Männern, von denen bisher die Rede war, ist gemeinsam…

-  ihr Motiv für den Lebensborn-Antrag. Es geht um die gute Versorgung und den geschützten Ort für Mutter und Kind. […]

-  ihre SS-Mitgliedschaft […]

-  ihre Abwesenheit nach dem Krieg. Viele sind gefallen, gestorben, verschwunden, sodass ihre Lebensborn-Kinder ohne den Vater aufwachsen. Diejenigen, die präsent sind oder später bei der Familie auftauchen, sind häufig schwierige Zeitgenossen. Ihre Kinder berichten von Suchtverhalten, Härte und Gespaltenheit.

Wir belassen es bei der Skizzierung dieses ersten Typus. Die Zielsetzung des gesamten Buches sollte deutlich geworden sein, ebenso die Vorgehensweise der Autorin.

Methodologisch kann an dem Buch nicht viel ausgesetzt werden, es ist handwerklich und journalistisch gut gemacht. Dennoch muss festgehalten werden: Es sind Porträts der „Lebensborn“-Männer aus zweiter Hand. Die Berichte jener Frauen, die sich auf diese Männer „eingelassen“ hatten und die Erzählungen von Menschen, die diese Männer als ihre Väter – teilweise nur sehr kurz – erlebten, bilden das Material der Typologie.

Es ist verwunderlich, dass Schmitz-Köster für das Selbstverständnis dieser Männer nicht zusätzlich auf jene Dokumente zurückzugreifen scheint, die wir aus den Vernehmungen einiger solcher Männer kennen, wie beispielsweise das Verhör des Arztes und SS-Untersturmführers Dr. Robert Wilhelm Düker, der nacheinander die Heime „Pommern“, „Harz“ und „Taunus“ leitete (siehe https://www.ifz-muenchen.de/archiv/zs/zs-1025.pdf).

Was dem Rezensenten als problematisch erscheint – neben dem durchgehend verächtlichen Ton, in dem über die behandelten insgesamt 79 Männer geschrieben wird – ist die schneidende moralische Verurteilung dieser Männer in ihren Rollen als Partner der Mütter und als Väter der Kinder. Bereits einleitend betont die Autorin, dass sie „aus einer Frauenperspektive“ schreibt, und im Patriarchat die Ursache des ganzen Übels sieht, das diese Männer über Frauen und ihre Kinder gebracht haben.

Dass dieses Buch keine wissenschaftliche Studie nach dem Motto sine ira et studio sein soll, ist eindeutig: Die Autorin macht durchgehend klar, dass sie entsetzt ist über die Verantwortungslosigkeit dieser Männer, die angeblich nur Sex ohne Folgen suchten und anschließend die von ihnen geschwängerten Frauen verließen und sich nicht um die so entstandenen Kinder kümmerten und keinen Unterhalt zahlten. Zudem wird mehr als deutlich, dass es bei der Autorin nicht nur Wut über dieses männliche Verhalten ist, sondern dass dahinter die Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft steckt, die solche Männer geformt hat. Ihre Betonung, dass die von ihr – teilweise im Telegramm-Stil – vorgeführten Männer keine „Monster“, sondern „ganz normale Männer“ waren, platziert das vorliegende Buch in eine alt-feministische Kritik an Männern schlechthin. „Männer sind Schweine“ hätte als weiterer Untertitel auch gepasst.

Dass kann frau machen, sollte aber dann den Anspruch aufgeben, sich auf die Perspektive dieser Männer einlassen zu wollen. In der Sicht von Dorothee Schmitz-Köster waren es durchgängig „Unbrauchbare Väter“, unabhängig davon, ob sie nun „Muster-Männer“, Seitenspringer oder flüchtende Erzeuger gewesen waren.

In diesem Buch werden zwei Komplexe vollkommen ausgeblendet: zum einen die Tatsache, dass es unter den Frauen, die sich auf eine Liebesbeziehung mit SS-Männern einließen – viele davon heirateten diese Männer –, auch solche gab, die überzeugte Nationalsozialistinnen („Nazissen“) waren, die sich mit arrogantem Stolz mit den Angehörigen der neuen deutschen „Elite“ zeigten; und zum anderen, dass sie glücklich und stolz waren, ein Kind von einem solchen Mann zu erwarten. Schmitz-Köster hätte nachdenklicher werden können, als sie diese Stelle in ihr Buch einbaute:

In Riga lernt [der SS-Hauptsturmführer Eberhard] Schiele die 21-jährige Ursula kennen. Sie hat sich „für den Osteinsatz“ gemeldet und landet im April 1942 bei der Geheimen Staatspolizei Riga, seiner Dienststelle. Schiele gefällt die hübsche blonde Frau – und sie ist beeindruckt von dem 1,90 Meter großen Mann. Ihrer Tochter vermittelt sie später ein Bild, das die im Interview so weitergibt: „[Er] war so ein Typ wie Curd Jürgens. Groß, hatte Charisma […] Es gibt ja Menschen, die betreten einen vollen Raum und sind präsent. Der konnte sechs Sprachen fließend, setzte sich ans Klavier und war natürlich Frauenheld ohne Ende.“

Seit der umfassenden Studie Eine Frau an seiner Seite der Wissenschaftlerin Gudrun Schwarz über die Ehefrauen in der „SS-Sippengemeinschaft“ wissen wir sehr viel mehr über diese komplexen Zusammenhänge. Schmitz-Köster nennt zwar zwei Publikationen von Schwarz, scheint aber keinen Gebrauch von deren ganz anderer Perspektive auf Frauen in der deutschen Tätergesellschaft machen zu wollen. Die Stilisierung von Frauen als reine Opfer der Verhältnisse, bzw. der Verantwortungslosigkeit der Männer, die lediglich aus Liebe und Arglosigkeit in elende Notlagen für sich und ihre Kinder gerieten, gibt den überholten Forschungsstand einer früheren Frauenforschung wieder, für die das NS-Deutschland ausschließlich antifeministisch und patriarchal organisiert gewesen war. Aus heutiger Sicht stellt sich die damalige gesellschaftliche Gesamtsituation weitaus komplexer dar als es das Recycling von Interviews aus den frühen 1990er Jahren mit Frauen und Kindern präsentieren kann.

Zum anderen versperrt Schmitz-Köster ihre Augen vor der tatsächlichen Lage der von ihr ausgewählten Männer nach Kriegsende: Auch als untergeordnete SS-Angehörige tauchten sie unter, verdingten sich in prekären Beschäftigungsverhältnissen, wechselten häufig die Wohnorte und empfanden sich als wurzellos und ausgestoßen. Hatten sie gerade noch zur Elite des „Neuen Adels“ im Deutschen Reich des Nationalsozialismus gehört, so fanden sie sich nun als Tagelöhner, Nachtportier oder Versicherungsvertreter wieder, die Angst haben mussten, dass man die Eintätowierung ihrer Blutgruppe auf dem linken Oberarm entdecken würde. Das kann keine Entschuldigung für Schurken sein, selbstverständlich muss man sich als Vater um die gezeugten Kinder kümmern. Aber selbst bei Verbrechern sollte es sinnvoll sein, sich um die subjektiven Handlungsmotive zu kümmern, wenn man sie verstehen will.

Auch dieses neue Buch von Schmitz-Köster wird nicht das Ende der Beschäftigung mit einem – der vielen – düsteren Kapitel der deutschen Geschichte sein. Nicht zuletzt der Blick auf die Geschehnisse in der Ukraine, in der erneut massenhaft Kinder verschleppt werden, um das Bevölkerungspotential Russlands zu vergrößern, macht aus dem Thema alles andere als ein „rein historisches“.

Erwähnte Publikationen

Ulrike Draesner: Die Verwandelten. Roman. München: Penguin Verlag 2023.

Gisela Heidenreich: Das endlose Jahr. Die langsame Entdeckung der eigenen Biografie – ein Lebensbornschicksal. Bern/München/Wien: Scherz Verlag 2002.

Dies.: Sieben Jahre Ewigkeit. Eine deutsche Liebe. München: Droemer Verlag 2007.

Dies.: Geliebter Täter. Ein Diplomat im Dienst der „Endlösung“. München: Droemer Verlag 2011.

Dies. (Hrsg.): Born of war – vom Krieg geboren. Europas verleugnete Kinder. Berlin: Chr. Links Verlag 2017.

Isabel Heinemann: „Rasse, Siedlung, deutsches Blut“. Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas. Göttingen: Wallstein Verlag 2003.

Georg Lilienthal: Der „Lebensborn e.V.“. Ein Instrument nationalsozialistischer Rassenpolitik. [EA 1985] Frankfurt am Main: Fischer Verlag 2003.

Dorothee Schmitz-Köster: „Deutsche Mutter, bist du bereit…“ Alltag im Lebensborn. Berlin: Aufbau-Verlag 1997.

Dies.: Kind L 364. Eine Lebensborn-Familiengeschichte. Berlin: Rowohlt Berlin 2007.

Dies.: „Deutsche Mutter, bist du bereit…“ Der Lebensborn und seine Kinder. Berlin: Aufbau Verlag 2010.

Dies.: Lebensborn lebenslang. Die Wunschkinder der SS und was aus ihnen wurde. München: Piper Verlag 2012.

Dies.: Raubkind – Von der SS nach Deutschland verschleppt. Freiburg i.Br.: Herder 2018. (E-Book)

Gudrun Schwarz: Eine Frau an seiner Seite. Ehefrauen in der „SS-Sippengemeinschaft“. Berlin: Aufbau Verlag 2000. [EA 1997]

Titelbild

Dorothee Schmitz-Köster: Unbrauchbare Väter. Über Muster-Männer, Seitenspringer und flüchtende Erzeuger im Lebensborn.
Wallstein Verlag, Göttingen 2022.
160 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783835353251

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