Mehr als ein Spiel

Stefanie Leuenberger zeigt in ihrer Habilitationsschrift „Die Politik der Buchstaben“ das Welt-Änderungs-Potential alphabetischer Texte der literarischen Avantgarden

Von Helmut SturmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helmut Sturm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nimmt man das Buch zur Hand, das auf dem Schutzumschlag ganz ohne Bild auskommt (abgesehen von der Grafik, die neun lateinische Buchstaben in den über die ganze Buchseite ausgebreiteten Titel „Die Poltik der Buchstaben“ als eine Art Rätsel einschreiben), und liest auch noch den Untertitel „Politik und Theologie in der alphabetischen Literatur“, könnte der Verdacht aufkommen, dass der Inhalt nur für Fachleute, papieren, anstrengend zu lesen und am besten zu vermeiden wäre. Welch Überraschung! Das Buch mit den gut 35 Seiten Indices (Quellen, Forschungsliteratur und Personenregister) ist in einer klaren, stringenten Prosa verfasst, der es gelingt, komplizierte Zusammenhänge aufzudröseln und packend vorzustellen.

Bibel-Leserinnen und -Leser wissen, dass alles mit dem Wort beginnt. In der jüdischen Überlieferung heißt es sogar, dass ein einzelner Buchstabe über „Fortdauer oder Auslöschung der Welt“ entscheiden kann. Weltschöpfung, auch aus Buchstaben, ist freilich ein Thema in den meisten Theologien. Eine Beziehung zur Theologie sieht Leuenberger in Texten, „die ihre Grundelemente exponieren“, denn sie „evozieren die Vorstellung von der Erschaffung der Welt durch die Kombination von Buchstaben“. Recht viel mehr wird über das Verhältnis zur Theologie in der Arbeit nicht gesagt,  das Stichwort fällt auch nur auf zwei Seiten eher beiläufig. Anders verhält es sich mit dem Begriff „Politik“. Er kommt auf vielen Seiten vor und ist auch in den Titeln etlicher zitierten Forschungsarbeiten enthalten. Dabei geht es Leuenberger um drei Annahmen, die sie häufig mit sensiblen und klugen Interpretationen konkreter literarischer Texte begründet: Erstens, dass Buchstabentexte mehr sind als semantisch leere Spielereien. Zweitens, dass diese Texte „Abbild der Gesellschaft“ seien und als solche „Feld politischer Auseinandersetzung“ – dabei wird Politik als ein Prozess der Aushandlung der Bedingungen des Zusammenlebens gesehen. Drittens seien Buchstaben-Texte Ort der Reflexion über die Rolle des Autors, seine Möglichkeiten und Grenzen – die Arbeit an der Form ist hier „Teil einer öffentlichen Stellungnahme“.

Jacques Rancière, Roland Barthes, Adorno, Georges Perecs und andere sind Gewährspersonen der Leuenbergerschen Lesart, wonach die von ihr untersuchten Texte eine Absage an den Status quo seien, eine Möglichkeit, Verdrängtes zur Sprache zu bringen. Außerdem könne diese Literatur „die Haltung einer Gesellschaft gegenüber der Sprache und dem Körper des Anderen“ darstellen.

Großartig ist Leuenbergers gelehrte Arbeit, weil diese neben ihrer eigentlichen Absicht, den Zusammenhang der Buchstaben-Texte mit konkreten politischen und historischen Erfahrungen und ihr Potential der Veränderung und zur Revolte deutlich zu machen, Leserinnen und Lesern traditioneller Belletristik von der formular story des Krimis bis zum politschen Roman in Erinnerung ruft oder neu vorstellt, welch reichhaltiges Angebot an Formen Literatur (seit Jahrhunderten) bereithält. Da gibt es Mandalas und sakrale Kalligraphie, Formen der „optischen Poesie“, Texte, die die Lesebewegung deszendierend, aszendierend, palindromartig oder zirkulär verändern, Ideogramme, Piktogramme, Typogramme, nonlineare Literatur also, Tautogramme, Anagramme, Leipogramme und, und, und.

Die 1972 geborenen Privatdozentin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der ETH Zürich, untersucht besonders die Buchstabenkombinatorik in den Avantgarden der Moderne, speziell bei Mallarmé und Marinetti, sowie in der deutschsprachigen Literatur bei Otto Nebel. Diesen sieht Leuenberger als „Verbindungsstelle zwischen der Vorkriegsavantgarde und Teilen der Neo-Avantgarde nach 1945“ besonders zur Wiener Gruppe, Eugen Gomringer, Arno Schmidt und Georges Perec. Hier wird eingehend in die Gedankenwelt des Personenkreises um die Zeitschrift „Sturm“ eingeführt und zentrale Texte Nebels wie Zuginsfeld oder UNFEIG werden kenntnisreich und überzeugend interpretiert. Eigenartigerweise beschäftigt sich die Wissenschaftlerin genau mit Nebel, der Wiener Gruppe, Gomringer und Perec, während Arno Schmidt eigentlich ganz außen vor bleibt. Merkwürdig auch, dass der zum Umkreis der Wiener Gruppe gehörende Gert Jonke, für den wie kaum für einen zweiten das Verhältnis von Literatur und Musik von Bedeutung war, nicht mehr erwähnt wird. Auffällig ist, dass im zugrundeliegenden Textkorpus Werke aus der französischen und schweizerdeutschen Literatur gehäuft vorkommen, während Leserinnen und Leser vermutlich im Abschnitt, in dem die „Sprache unter der Erfahrung der Emigration“ vor allem am Beispiel von Walter Abish’ Alphabetical Africa abgehandelt wird, andere Autorinnen und Autoren vermissen. Auch das „polnische Gendering“ bei Ann Cotten wäre eine Form von Buchstabenkombinatorik, die hier ihren Platz haben sollte, Dietmar Dath und seine Kunstsprache in Die Abschaffung der Arten vermissen wir ebenso.

Doch das ist etwas ungerecht. Das weite Feld der Literatur wird von Stefanie Leuenberger wunderbar sichtbar gemacht. Es lässt sich aus ihrem Buch so viel lernen und mit Sicherheit lässt es bei manchen eine Neugier entstehen, die sie oder ihn zu einer ganz anderen Literatur greifen lässt, als der üblicherweise zur Hand genommenen. So verändert auch dieses gelehrte Werk Leben.

Titelbild

Stefanie Leuenberger: Die Politik der Buchstaben. Poetik und Theologie in der alphabetischen Literatur.
Wallstein Verlag, Göttingen 2022.
509 Seiten , 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783835351578

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