Dichterische Unschärfen

Toni Morrisons Kurzgeschichte „Rezitativ“ aus dem Jahr 1983 erstmals auf Deutsch

Von Herbert FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist eher ungewöhnlich, dass ein Verlag wie Rowohlt ein Buch mit einer einzigen Kurzgeschichte veröffentlicht, die weniger als vierzig Seiten lang ist. Und es ist nicht ganz selbstverständlich, dass ein so kurzer Text in literaturkritik.de besprochen wird. Wenn man allerdings die Umstände der Veröffentlichung heranzieht, findet man mehr als einen Grund für die Veröffentlichung und ihre mediale Beachtung. Rezitativ ist die einzige Kurzgeschichte der berühmten amerikanischen Autorin Toni Morrison. Ihr Name allein ist Grund genug für die erstmalige Veröffentlichung der Erzählung auf Deutsch. Sie hat mit Romanen, die allesamt zur Weltliteratur gehören, die amerikanische Literatur zwischen 1970 – als ihr erster Roman Sehr blaue Augen erschien – und 2019 – ihrem Todesjahr – geprägt (Beitrag zum Tod von Toni Morrison auf literaturkritik.de). Unter ihren zahlreichen Büchern finden sich so bekannte Titel wie Jazz, Paradies, Heimkehr, Liebe, Menschenkind, Solomons Lied oder Sula. Viele wurden mit Preisen ausgezeichnet; 1992 erhielt Morrison den Literaturnobelpreis. Sie war zeitlebens, sowohl in ihrem dichterischen Schaffen wie auch in ihrer Tätigkeit als Dozentin und als Verlagslektorin, eine viel beachtete Repräsentantin afroamerikanischer Dichtung in den USA.

Das afroamerikanische Element spielt auch in Rezitativ eine besondere Rolle. Der Text entfaltet sich wie ein Experiment in einem Labor der Dicht- und Sprachkunst aus dem Gegeneinander und gleichzeitig Miteinander von zwei Menschen verschiedener Hautfarbe. Sie sind achtjährige Mädchen in der ersten Szene, die vorübergehend in einem Heim untergebracht sind und dort enge Freundinnen werden, verlieren sich danach aus den Augen, begegnen sich aber immer wieder in verschiedenen Situationen als jüngere Frauen und Mütter, entfremden sich voneinander und kommen sich am Schluss, der einiges offen lässt, wieder näher.

Diese einfache Konstellation hätte Morrison sicherlich bereits genügt, um daraus eine spannungsreiche Erzählung zu entwickeln. Der Text Rezitativ wird aber von einer besonderen dichterischen Idee getragen, die raffiniert ist, eigenwillig, vor allem aber so zeitlos aktuell, dass sie eine – wenn auch späte – deutsche Veröffentlichung mehr als rechtfertigt: Von den ersten Sätzen der Kurzgeschichte an ist klar, dass die beiden Mädchen, die im Mittelpunkt der Handlung stehen, verschiedene Hautfarben haben. 

Aber – und das ist Morrisons grandioser erzählerischer Einfall – in keinem Absatz, keinem Satz, keinem Wort wird jemals auch nur angedeutet, wer von den beiden – sie heißen Twyla und Roberta – welche Hautfarbe hat. Dabei ist von Anfang an klar, dass diese unterschiedlich ist: „Als ich reinkam und [die Heimleiterin] uns einander vorstellte, wurde mir ganz schlecht. Schlimm genug, früh am Morgen aus dem eigenen Bett geholt werden – aber dann noch an einem fremden Ort festzusitzen, zusammen mit einem Mädchen von ganz anderer Hautfarbe!“ Die Dichterin legt viele Fährten. Aber keine gibt verlässliche Hinweise auf die Hautfarbe.

Morrison bleibt konsequent bei ihrem Spiel mit dichterischen Unschärfen. Weder über Twylas und Robertas Kleidungsstil, noch das Verhalten ihrer Mütter – die Mädchen sind die einzigen Nicht-Waisen im Heim – oder ihre Sprechweise, noch darüber, was aus ihnen im späteren Erwachsenenleben wird, wie sie  sich verhalten, was sie arbeiten oder wo sie wohnen, erfährt der Leser etwas Genaueres über ihre Hautfarbe. Allein, dass sie verschieden ist, steht fest.

In einer Szene zum Beispiel begegnen sich Twyla und Roberta zufällig als Mütter. Es ist die Zeit der Nach-Johnson-Ära, in der die USA versuchten, auf staatlichen Schulen die Integration von Weißen und Schwarzen mit eigenwilligen Mitteln durchzusetzen. Eine der staatlichen Maßnahmen war das so genannte Bussing, bei dem schwarze Schülerinnen und Schüler mit Bussen zu Schulen mit ausschließlich weißen Schülerinnen und Schülern gefahren wurden. Auch der umgekehrte Vorgang war möglich.

Das Buch von Morrison spielt darauf mit einer Szene an, in der verschiedene Frauen, weiße auf der einen, afroamerikanische auf der anderen Seite, gegen das Bussing-System demonstrieren, weil es ihre Kinder benachteilige. Zufällig treffen Twyla und Roberta als Protestlerinnen mit unterschiedlichen politischen Parolen aufeinander. Die Szene macht deutlich, wie weit sich die einst unzertrennlichen Achtjährigen innerlich voneinander entfernt haben. Aus den Freundinnen von einst sind politische Gegnerinnen geworden. Auch in dieser Szene allerdings, vielleicht der offensichtlichsten, die rassistische Diskriminierung veranschaulicht, wird nicht klar, welche Hautfarbe Twyla und Roberta haben.

Die Antwort auf die Frage könnte als belanglos abgetan werden. Aber – und das ist die sowohl erhellende wie erschreckende Erkenntnis bei der Lektüre – die meisten Leserinnen und Leser können die Frage nach der Hautfarbe der Protagonistinnen während des Lesens kaum aus ihren Köpfen verdrängen. Je weiter sie lesen, desto dringender wird der Wunsch nach einer Antwort darauf. Dass sie immer wieder verweigert wird, hinterlässt bei ihnen ein Gefühl der Unruhe, des Unbefriedigtseins, versetzt sie in eine ungewohnte Lesehaltung: Etwas Wichtiges, so scheint es, wird ihnen vorenthalten. Sie sind am Ende mit der Lektüre „nicht fertig“.

Morrison zwingt die Leserin, den Leser, ob sie das wollen oder nicht, zu einer Überprüfung ihres Leseverhaltens und damit ihrer Sicht auf das, was Hautfarbe über Menschen und ihr Handeln aussagt. Warum wollen wir wissen, welche Hautfarbe Twyla und Roberta haben? Führte die Kenntnis darüber zu einem besseren Verständnis des Verhaltens der beiden Mädchen und Frauen oder verstrickten wir uns damit eher in klischeehafte Vorstellungen darüber, wie Menschen mit einer bestimmten Hautfarbe zu handeln haben? Bedeutete das Wissen, wer von den beiden, Twyla oder Roberta, welche Hautfarbe hat, ein besseres Verständnis der Kurzgeschichte oder möchten wir, dass unsere stereotypischen Sichtweisen und Vorurteile von Menschen mit bestimmten Hautfarben bestätigt werden?

Morrison macht es den Leserinnen und Lesern nicht leicht mit einer Antwort, schon gar nicht mit einer vorschnellen, auf solche und andere Fragen. Das offene Ende des Textes deutet an, dass beide, Twyla und Roberta, möglicherweise „schuldig“ geworden sind, weil sie als Achtjährige einer älteren Küchenhilfe im Heim, Maggie, mit Vorurteilen und Vorverurteilungen begegnet sind und das als Erwachsene verdrängt haben. Bei einem letzten zufälligen Treffen versuchen die beiden Freundinnen über ihr damaliges Verhalten gegenüber Maggie zu sprechen. Es gelingt ihnen in Ansätzen: „Roberta hob die Hände von der Tischplatte und legte sie vors Gesicht. Als sie sie wieder sinken ließ, weinte sie richtig. ‚Ach, Mist, Twyla. Mist, Mist, Mist. Was zum Teufel war da bloß mit Maggie?‘“

Der Rowohlt-Verlag hat die Kurzgeschichte von Toni Morrison zusammen mit einem klugen Essay von Zadie Smith veröffentlicht. Die britische Schriftstellerin Zadie Smith wurde bei uns mit ihren Romanen, vor allem mit Von der Schönheit (2005), bekannt. Ihr Nachwort stellt eine überzeugende Auseinandersetzung mit der Kurzgeschichte dar. Sie geht ausführlich auf den Titel, viele Textstellen und vor allem natürlich auf Morrisons Vexierspiel mit der ungelösten Frage nach der Hautfarbe von Twyla und Roberta ein. Beide Texte zusammen, die Kurzgeschichte und Smiths Nachwort, sind eine gute Hinführung zu Morrisons grandiosem Romanwerk.

Titelbild

Toni Morrison: Rezitativ.
Aus dem Englischen von Tanja Handels.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2023.
128 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783498003647

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