Aufklärer und Experimentator zugleich

Die neue Wieland-Biografie von Jan Philipp Reemtsma

Von Ulrich KlappsteinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Klappstein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Christoph Martin Wieland (1733-1813), Dichter, Übersetzer, Herausgeber und Literaturkritiker, verstand sich selbst in aller Bescheidenheit als eine Art Wegbegleiter“ großer Autoren der Weltliteratur – von der Antike bis in seine Gegenwart. Sein finanzieller Erfolg zu Lebzeiten stammte aus seinen Shakespeare-Übersetzungen, nicht aus dem Verkauf eigener Werke, so Jan Philipp Reemtsma in seiner neuen Wieland-Biografie, der ersten umfangreichen Darstellung nach Johann Gottfried Gruber (1827) und Friedrich Sengle (1949). Wieland zählt für Reemtsma zu den großen Autoren der deutschen Literaturgeschichte und  – zusammen mit seinem Zeitgenossen Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) – auch zu den „Erfindern“ der modernen deutschen Literatur.

Mit dieser Einschätzung, vor allem auch von Wielands Roman Die Geschichte des Agathon (1766/67), übt Reemtsma den Schulterschluss mit dem Schriftsteller Arno Schmidt, der sich schon in seinem Kurzroman Aus dem Leben eines Fauns aus dem Jahr 1953 – und nicht nur dort – für Wieland eingesetzt hatte. In diesem Roman ließ Schmidt seinen Protagonisten einen großen Bogen über das Prosa-Schaffen Wielands spannen: „[U]nter uns Deutschen hat Keiner so tief über Prosaformen nachgedacht, Keiner so kühn damit experimentiert, Keiner so nachdenkliche Muster aufgestellt, wie Christoph Martin Wieland“. Dass Reemtsmas Biografie in großer Nähe nicht nur zu Arno Schmidt, sondern auch zur von ihm gegründeten Bargfelder Arno Schmidt Stiftung steht, offenbart sich den Leser:innen bereits auf dem Deckblatt, wo nach dem Untertitel auch seine Zusammenarbeit mit der Wiener Lektorin, Übersetzerin und Herausgeberin Fanny Esterházy erwähnt wird. Diese hatte vor Jahren nicht nur eine grundlegende (Bild-)Biografie über Arno Schmidt vorgelegt, sondern auch das Buch Wielandgut Oßmannstedt im Deutschen Kunstverlag veröffentlicht. Anlass dafür war die Eröffnung einer neuen Dauerausstellung in Oßmannstedt im September 2022, dem Ort der Weimarer Grabstätte für Sophie Brentano, Anna Dorothea und Christoph Martin Wieland, um die sich wiederum Jan Philipp Reemtsma als Mäzen verdient gemacht hat und die auch zu den „Pilgerorten“ Arno Schmidts zählte.

Mit der vorgelegten Biografie hat Reemtsma dem großen Aufklärer ein weiteres Denkmal gesetzt, nachdem er bereits 1984 die 39-bändige Hamburger Reprint-Ausgabe der Sämmtlichen Werke Wielands besorgt hatte. Weiterhin hat er 1988 Wielands Politische Schriften, insbesondere zur Französischen Revolution in einer dreibändigen Ausgabe herausgebracht, 2005 folgten, ebenfalls in drei Bänden, Wielands Schriften zur deutschen Sprache und Literatur im Verlag Franz Greno.  

Arno Schmidt hatte ein Gespür für viele von der offiziellen Literaturwissenschaft vernachlässigte Dichter. Das mag auch den Wieland-Liebhaber Reemtsma nachhaltig beflügelt haben. Er zeigt seinen »Wieland« u.a. als aufgeklärten Beobachter der französischen Revolution. Dem zwölften Kapitel seiner Biografie, wo es um den politischen Schriftsteller Wieland geht, stellt er ein Zitat aus einer Schrift von 1794 voran: 

Der Himmel verhüte, daß ich von irgend einem denkenden Wesen verlange, mit mir überein zu stimmen, wenn er von der Richtigkeit meiner Behauptungen oder Meynungen nicht überzeugt ist; oder daß ich jemahls fähig werde, jemandem meinen Beyfall deßwegen zu versagen, weil er nicht immer meiner Meinung ist!

Reemtsma gibt ein anschauliches Bild eines wachen Zeitgenossen, der es verstand, als Journalist und Chronist seiner Zeit die große Politik in scheinbar ganz unpolitischen Ereignissen wahrzunehmen, zum Beispiel in zahlreichen Artikeln und Aufsätzen in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Der Teutsche Merkur“, wo er sich unerschütterlich und wiederholt als Bekenner zur Pressefreiheit zeigte. Aber dies ist nur einer der vielen Bausteine in Reemtsmas umfänglichem Panorama, das er über Wieland zeichnet. In zwanzig Kapiteln erzählt er von Wielands Jugend in Biberach, dessen Aufenthalten in der Schweiz, später in Erfurt, Weimar und zuletzt in Oßmannstedt und versteht es, in einem literaturgeschichtlichen Längsschnitt den Weg des Schriftstellers von den ersten komischen Erzählungen und Versromanen, den Shakespeare-Übersetzungen und darüber hinaus sogar bis zu seinen Ausflügen in die Opernwelt nachzuzeichnen: Wieland schrieb die Libretti zu den von ihm als „Singspiele“ bezeichnete Werken Aurora und Alceste. Hier, in Weimar, zeigte er sich als Neuschöpfer von antiken Stoffen, dadurch, dass er völlig eigene Akzente setzte. Ähnliches gilt auch für das in Mannheim uraufgeführte Singspiel Rosamunde, diesmal nach einer englischen Vorlage. Reemtsma stellt an diesen Beispielen heraus, dass Wielands Ausflüge in die Oper zwar nur eine Episode in seinem Schaffen waren, dass er für die Entwicklung Weimars von einer kleinen Provinzstadt zu einer kulturellen Weltstadt jedoch einen wichtigen Beitrag leistete (dessen Würdigung in der bisherigen Literaturgeschichte – jenseits der „deutschen Klassik“ – noch keinen angemessenen Platz gefunden habe). 

In einem „Zeit“-Interview bekannte Reemtsma, dass Wielands Leben – bis auf die Zeit, als er 1772 nach Weimar kam – nicht besonders „aufregend“ gewesen sei, ein Grund dafür, dass eine lohnende Biografie eigentlich nur eine „Werkbiografie“ sein könne. Diese darzustellen sei umso interessanter, da Wieland als großer „Experimentator“ ein vielschichtiges Werk hinterlassen habe, das die Germanistik als Fachwissenschaft bis heute in vielfacher Hinsicht „überfordert“. Hier schafft es die Biografie tatsächlich, neue Zugänge zum Werk und zur Person zu öffnen. Dabei werden auch Seitenblicke auf Jean Paul und Heinrich von Kleist geworfen, die Wieland bewunderten – was auf Gegenseitigkeit beruhte, weshalb er diese jungen Talente förderte.

Reemtsma hat es sich ebenfalls zur Aufgabe gemacht, Wissenslücken zu füllen. So stellt er Wieland auch als philosophisch Schreibenden vor, dem es um „Lebensklugheit“ ging. Detailliert wird dieses in den Kapiteln gezeigt, die sich mit Wielands Beschäftigung mit Platon, Rousseau und Kant beschäftigen; allerdings spart Reemtsma auch nicht mit Hinweisen darauf, warum es heutigen Leser:innen nicht immer leicht fallen dürfte, sich in Wielands Philosophie-Exkurse einzulesen, etwa in dessen 250-seitige Abhandlung mit dem Titel Euthanasia. Drey Gespräche über das Leben nach dem Tode veranlaßt durch D.I.K.W**Ls Geschichte der wirklichen Erscheinung seiner Gattin nach ihrem Tode. Es geht hierbei um die bis heute ungeklärte Frage, ob es ein Leben nach dem Tode gebe und wie sich die (christliche) Religion dazu stellt.

In diesem Falle – und auch für das sonstige umfangreiche Werk dieses Autors der Aufklärung – gilt der Hinweis des Verfassers, „dass man sich für sehr vieles interessieren muss, wenn man Wieland genießen will. Und man sollte sich auf das Abenteuer einlassen zu beobachten, wie durch die Werke dieses einen Autors die deutsche Literatur zu dem wurde, was Wieland selbst ‚Weltliteratur‘ nannte.“

In Wielands 200. Jubiläumsjahr 1933 schrieb Walter Benjamin, Wieland werde nicht mehr gelesen. Reemtsma geht es genau darum, „ein Werk wieder lesen zu lernen.“ Ob diese neue Biografie eine breitere Wieland-Renaissance auslösen kann, wird abzuwarten sein, zu wünschen wäre ihr es. Für den Sachbuchpreis der diesjährigen Leipziger Buchmesse jedenfalls ist diese neue Publikation des Beck-Verlags völlig zur Recht nominiert worden.

Titelbild

Jan Philipp Reemtsma: Christoph Martin Wieland. Die Erfindung der modernen deutschen Literatur.
Verlag C.H.Beck, München 2023.
704 Seiten , 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783406800702

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