Die Gefahr des Hasses

Der neue Forschungsband des Philosophicums Lech seziert den „Hass“ und belegt die von ihm ausgehende Gefahr

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unter dem Titel „Der Hass. Anatomie eines elementaren Gefühls“ kamen im Jahr 2022 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu einem Symposium im österreichischen Lech Zürs am Arlberg zusammen. Wie beginnt Hass? Was sind seine Voraussetzungen? Die Vortragenden suchten nach Mustern. Sie blickten aus verschiedenen Richtungen auf den Hass, seine zerstörerische Kraft und seine rasante Verbreitung im Internet. Der fünfundzwanzigste Forschungsband des Vereins Philosophicum Lech versammelt nun ihre Beiträge aus Geistes- und Humanwissenschaften, Psychologie und Philosophie. Die Autorinnen und Autoren betonen, dass ein Mensch, der tiefergehend hasst, von Hass durchdrungen und schließlich beherrscht wird. Sie diskutieren, welche Konsequenzen für den Umgang mit Hass aus den Erkenntnissen resultieren sollten.

Zur Hassprävention gehört laut Psychiater Reinhard Haller die Förderung der positiven Empathie in der Erziehung, damit sie während des Aufwachsens nicht – wie von Philosophin Ingrid Vendrell Ferran hernach erklärt – fehle und hieraus Hass reife. Jeannette Fischer betont, dass zerstörerische Eigenschaften während des Aufwachsens angeeignet und in Bindungen erlernt werden können. Sozialwissenschaftler Bernhard Heinzlmaier nimmt sich speziell der österreichischen und deutschen Jugend an, sieht eine „düstere Stimmung in der gesellschaftlichen Mitte“ und einen „galoppierenden Vertrauensverlust der Politik insgesamt“. Gründe für brodelnden Hass seien vor allem Sorgen und Abstiegsängste der „Krisenjugend“, welche der aktuellen Inflation hilflos gegenüberstehe, während sie neidisch auf reiche und vermeintlich sorgenfreie Oberschichtkinder blicke. Der Klassenhass sei durch die soziale Isolation und somit die noch härtere Spaltung der Schichten während der Corona-Pandemie verstärkt worden.

Hass resultiert meist aus Benachteiligungen, Kränkungen, Neid oder Eifersucht. Er kann aber auch Teil der Persönlichkeit eines Menschen sein. Ist Hass also eine Emotion, ein affektiver Zustand oder eine Einstellung? Ingrid Vendrell Ferran argumentiert, Hass sei eine Gesinnung – ein aus Angst und Wut und anderen Formen von Feindseligkeit entstehender Langzeitzustand. Gesinnungen brächten Menschen wiederum dazu, „die affektiven Zustände zu erleben, die an ihrer Entstehung beteiligt waren.“ Vendrell Ferran geht sodann der Frage nach, warum es so schwierig ist, seine Einstellung zu ändern und mit dem Hassen aufzuhören. Viele der Strategien, mit negativen Gefühlen umzugehen, wirkten aufgrund der strukturellen Eigenschaften des Hasses nicht. Hass entgehe oft allen Reflexionsversuchen. Er habe eine schwer zu stoppende Entwicklungsdynamik. Schließlich werde das Hassobjekt als böse angesehen. Man weigere sich, „die Sichtweise des anderen zu verstehen“. Empathie sei ausgeschlossen. Man könne Hass ausgeliefert sein.

Fast alle Forschenden der verschiedenen Disziplinen scheinen sich einig zu sein, dass Hass das Gegenteil der Liebe ist; obschon die Philosophin Hilge Landweer einschränkt, dass „Liebe als Gefühl deutlich vielschichtiger“ sei als Hass. Gemeinsam sei den diametralen Gefühlen Liebe und Hass die Intensität der Leidenschaft. Hieraus ergibt sich notwendigerweise eine Nähe der Gegensätze. Leser:innen des Buches mögen sich spätestens bei dieser Erkenntnis an einen Vortrag von Dr. Krokowski aus Thomas Manns Der Zauberberg erinnert fühlen. Krokowski sinniert über die Kraft der Leidenschaft und wie Liebe im Dunkeln und Tiefgeheimen zu Krankheit führen kann. Alle Krankheit sei verwandelte Liebe, behauptet er.

Geradezu nahtlos knüpft der Gerichtspsychiater Reinhard Haller in seinem Essay über den „Trieb zur Grausamkeit“ an diese These aus Thomas Manns Roman an. Er seziert den Hass und analysiert seine psychopathologischen Symptome. Er zitiert Thomas von Aquin, der behauptet hat, dass jeglicher Hass durch Liebe verursacht werde. Und er erklärt, wie nah sich gegensätzliche Gefühle im Phänomen der Hassliebe kommen können. Hallers Psychologie der menschlichen Destruktivität ist ein messerscharfer und spannender Einblick in seine Kenntnisse – schließlich arbeitete er über dreißig Jahre als Chefarzt und ist bis heute unter anderem Gutachter und Sachbuchautor; um es mit Thomas Mann zu sagen: Er ist ein erfahrener Seelenzergliederer. Seine Analyse ist zweifellos ein Höhepunkt des Buches, wenngleich sie knapp bleibt und zur weiteren Lektüre einlädt. Denn wie Hass überwunden werden kann und was gegen ein gesellschaftliches Klima des Hasses getan werden kann, streift Haller nur; hiermit beschäftigt sich sein eigenes Buch über den Hass. Es ist 2022 bei „Gräfe und Unzer“ unter dem Titel Die dunkle Leidenschaft: Wie Hass entsteht und was er mit uns macht erschienen. Wer mehr über Hallers Überblick zur Forschungslage erfahren möchte, der ist überdies gezwungen, seine weiteren Werke in die Hände zu nehmen. Denn bei ihm wurde scheinbar das Literaturverzeichnis vergessen. Nur wenige seiner Zitate sind im Fließtext mit Quellen versehen.

Eine wichtige Erkenntnis des Forschungsbandes des Philosophicums Lech ist, dass Hass immer die Entwürdigung und sogar die Entmenschlichung des Hassobjekts voraussetzt. Hass ist auf Zerstörung ausgerichtet, betonen alle Autoren des Buches unisono. Jeannette Fischer sieht in ihm eine „Vernichtungswucht“. Mit dem Internet habe Hass neue Ausmaße angenommen, ergänzt Svenja Flasspöhler. Um dieser Wucht ihre Kraft zu nehmen, wäre es somit wichtig, das Internet und den Schutz der Anonymität stärker in den Blick zu nehmen. Heinzlmaier schreibt, dass im Internet die „Feindvernichtung“ möglich sei, „ohne mit dem Leid, das man dabei verursacht, unmittelbar konfrontiert zu sein“ und belegt dies mit Beispielen. Er weist aber auch darauf hin, dass Hate Speech „eine Folge der herrschenden ökonomischen Bedingungen ist“. Mehrere Autor:innen des Forschungsbandes sehen die Hassprävention im Internet als eine der großen politischen Aufgaben an.

In der Verantwortung des Staates liegt insbesondere die Gesetzgebung. „Hass im Netz“ ist kein juristisch definierter Begriff. Doch die aktuelle deutsche Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag aus dem Jahr 2021 ein „Gesetz gegen digitale Gewalt“ angekündigt, dessen Eckpunkte im Frühjahr 2023 intensiv öffentlich diskutiert werden. Es ist wichtig, schnell zu klaren Regelungen zu kommen, belegen Tausende von Meldungen strafbarer Inhalte. Denn die zuständige Meldestelle des Bundeskriminalamts sammelt schon lange Meldungen von Stellen der Bundesländer – wie beispielsweise die der seit Januar 2020 in Hessen existierenden staatlichen Meldestelle „HessenGegenHetze“ – und warnt vor der Dimension der Problematik. Die Politik tut sich offensichtlich schwer, die geeigneten Leitplanken zu formulieren. Rat kann hier – wie bei vielen anderen Themen – die Wissenschaft bieten. Eine umfangreiche wissenschaftliche Analyse des allgegenwertigen Hasses, der Entstehung, seiner Facetten und Konsequenzen war daher dringend geboten und liegt mit dem Band des Philosophicum Lech nun vor. Der viele Fachbereiche versammelnde Forschungsband ist ein bedeutender Debattenbeitrag. Er verdient zweifellos Beachtung und Berücksichtigung bei der politischen Willensbildung.

Titelbild

Konrad Paul Liessmann (Hg.): Der Hass. Anatomie eines elementaren Gefühls.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2023.
256 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783552073456

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch