Noch hält die Abwehr

Georg M. Oswald hat prominente Schriftsteller:innen, Journalist:innen und Jurist:innen gebeten, das Grundgesetz zu kommentieren

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“, „Die Freiheit der Person ist unverletzlich“: Das Grundgesetz ist berühmt für solche Sätze von erhabener Schönheit. Und dann in Artikel 14 das: „Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet.“ Wie bitte, das Eigentum ist nur „gewährleistet“? Und nicht etwa „geschützt“ oder „garantiert“? Der Literaturkritiker Ijoma Mangold kann es nicht fassen; er sei sogar „ein wenig enttäuscht von den Vätern und Müttern des Grundgesetzes“. Zumal vor dem Hintergrund heutiger Enteignungsdebatten, gerade in Berlin. Dabei sei doch, so Mangold weiter, das Eigentumsrecht die Voraussetzung für das moderne, freie Subjekt! Allein die Einsicht, dass manche Texte ihre Autorität gerade aus bewusster Lakonie beziehen, vermag den Kritiker über diesen so unfeierlichen Gesetzestext zu trösten.

Vor nunmehr 73 Jahren wurde unser Grundgesetz formuliert; die gesellschaftlichen Debatten bestimmt es mehr denn je. Neuerdings scheinen immer mehr Menschen den Eindruck zu haben, unsere Grundrechte seien in Gefahr, von der Meinungsfreiheit bis zur Rechtsstaatlichkeit. Da kommt ein neuer Kommentar zum Grundgesetz zur rechten Zeit. Aber nicht noch einer dieser schwer lesbaren, meist auch sündhaft teuren Fachkommentare. Sondern ein „literarischer“, der sich ans breite Publikum richtet, mit neuen, überraschenden, oft auch subjektiven Zugängen und in überwiegend essayistischer Form wie Ijoma Mangolds Kommentar über das Eigentumsrecht.

Der Herausgeber des Kommentars ist Georg M. Oswald. Bereits vor vier Jahren hat der Schriftsteller und Jurist eine Einführung in unsere Grundrechte vorgelegt. Heute, nach Corona, staunt Oswald über die steile Karriere, die das Wort „Freiheit“ gemacht hat – immerhin ein Zentralbegriff unserer Verfassung. Denn die Grundrechte sind in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. Formuliert wurden diese Rechte von den Vätern und Müttern des Grundgesetzes nach den Erfahrungen von NS-Diktatur und Holocaust.

Freilich haben inzwischen einige Artikel angesichts gesellschaftlicher Fortschritte Updates erhalten. Zum Beispiel sind Ehe und Familie zwar schon seit 1949, dem Entstehungsjahr des Grundgesetzes, geschützt. Aber viele Möglichkeiten des ehelichen Zusammenlebens waren damals eben noch undenkbar, wie die Büchnerpreisträgerin Terézia Mora in ihrem Kommentar zu Artikel 6 betont, wie etwa eine gleichgeschlechtliche Ehe. Oder die Möglichkeit, dass ein*e Ehepartner*in das Geschlecht wechseln könnte.

Die Spannweite der Beiträge ist erstaunlich groß, formal ebenso wie inhaltlich. Zum Beispiel montiert Annette Pehnt zu Artikel 13 über die Unverletzlichkeit der Wohnung kommentarlos einschlägige Meldungen aus aller Welt, die dieses Recht in Frage stellen. Sibylle Lewitscharoff erzählt beim Recht auf Freizügigkeit dagegen ein Stück Familienbiografie: Ihr Vater, ein Arzt, musste einst aus Bulgarien fliehen und später als staatenloser Ausländer bei jedem Grenzübertritt Schikanen über sich ergehen lassen. Und Martin Mosebach meditiert zum Stichwort Religionsfreiheit salbungsvoll über das ambivalente Verhältnis der katholischen Kirche zum Grundgesetz – wohl der eigenwilligste Beitrag des Bandes.

Nicht zufällig beeindrucken jene Beiträge am meisten, die auf persönlichen Erfahrungen beruhen, etwa in Ländern ohne unsere Grundrechte. Wie der Essay Herta Müllers über Artikel 1 des Grundgesetzes. Denn was Freiheit und Würde ausmachen, hat die Literaturnobelpreisträgerin vor allem aus jenen Mechanismen der Unterdrückung gelernt, die sie bis zu ihrer Ausreise 1987 im kommunistischen Rumänien erlebt hat: die allgegenwärtige Angst der Menschen, ihr Schweigen, die würdelose Anpassung im Überwachungssystem.

Wie ist es also um die Grundrechte hier und heute bestellt? Nach der Lektüre dieses sehr lesenswerten Bandes fällt das Urteil differenziert aus. Das von Artikel 10 geschützte Post- und Briefgeheimnis etwa kann man mit Eva Menasse im Zeitalter von Social Media vielleicht wirklich als ehrwürdiges „Relikt“ betrachten. Um die Meinungsfreiheit dagegen braucht man sich keine Sorgen zu machen, so lange jede*r, der*die lautstark ihr Dahinscheiden beklagt, eben dadurch ihren Fortbestand beweist.

Titelbild

Georg M. Oswald (Hg.): Das Grundgesetz. Ein literarischer Kommentar.
Verlag C.H.Beck, München 2022.
380 Seiten , 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783406790324

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